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103-Jährige blickt auf bewegtes Jahrhundert zurück

Dieser Artikel erschien zuerst bei dem kirgisischen Medienportal Kloop.kg. Wir übernehmen ihn mit freundlicher Erlaubnis der Redaktion.

Kloop 

Redigiert von: daniela

Aktuelles Porträt von Anna Sokolowa
Aktuelles Porträt von Anna Sokolowa

Dieser Artikel erschien zuerst bei dem kirgisischen Medienportal Kloop.kg. Wir übernehmen ihn mit freundlicher Erlaubnis der Redaktion.

Auf ihrem Pass steht das Geburtsjahr 1911, aber nach eigenen Angaben wurde Anna Sokolowa im Jahr 1909 geboren. Hier erzählt sie über ihr Leben in eigenen Worten. Die Redaktion hat lediglich die Reihenfolge ihrer Aussagen geändert, um sie in eine logische Ordnung zu bringen.

„Wir lebten mit unserer Familie in einem großen Dorf zwischen Weliki Nowgorod und Staraja Russa. Wir waren vier Geschwister. Oh, und was für eine Kindheit… Dann fing 1914 der Krieg an, mein Gott…

Ich erinnere mich, dass wir an einem russichen Ofen versammelt wurden, an dem wir dann hungrig saßen. Zu essen gab es nichts. Mein Vater war im Krieg und meine Mutter ernährte uns. Sie fütterte uns mit Beeren und Pilzen. Wir hatten Beeren und Pilze satt. Kartoffeln und Gemüse wuchsen bei uns in der Nähe der Hütte auf einem kleinen Grundstück. Damals hatte man uns noch nicht mal den Boden gelassen. Aus irgendeinem Grund gehörte er zu Zeiten des Zaren immer jemandem. Porträt Anna Sokolowa, 1942

Ich erinnere mich gut an den Bahnhof im Jahr 1914. Der ganze Bezirk kam dorthin, um sich von denen, die in den Krieg zogen, zu verabschieden. Ich sehe noch heute, wie sie die Pferde in Karren verfrachten. Das waren gute Karren; jene, welche sie dem Volk zuvor genommen hatten. Ich habe keine Kämpfe oder Schlachten gesehen – so etwas gab es bei uns nicht. Aber Razzien gab es oft in den Dörfern; es kamen dann solche schlechten Banden.

Ich erinnere mich noch gut: Wir sitzen auf dem Ofen und drei Männer kommen zu uns, solche Riesen. Papa hatte eine Ecke mit Bildern; die ganze Wand war voller Fotos. Und dort hing noch ein Porträt des Zaren, verstehen Sie? Einer der Männer ging hin und schlug mit der Faust auf dieses Porträt ein. Alles fiel herunter. Und wir Kinder saßen allein auf dem Bett. Sie öffneten also den Vorhang, sahen aber nur die Mäntel auf dem Bett, unter denen wir uns versteckten, und gingen wieder. Das war einer dieser Überfälle.

Nach der Revolution 

Nach dem Krieg kam mein Vater lebend, aber schwer verletzt, wieder nach Hause. Er war ein guter Ofensetzer und Schneider für Herrenmode, daher hatte er gute Kundschaft und war sogar in Nowgorod bekannt. Er baute seine Öfen auch in Staraja Russa, in Verwaltungen und Büros.

Nach der Revolution von 1917, als sie den Zar gestürzt hatten, begann sofort der Wiederaufbau. Alle machten sich daran, Staraja Russa neu aufzubauen. Damals wurde das Grundstück gleich auf alle Kinder aufgeteilt. Aber wir haben den allerschlechtesten Boden abbekommen. Alle bekamen ein gutes Stück Land, aber uns blieb nur das schlechteste Stück übrig.

Das ganze Dorf setzte seine Kartoffeln an einem gemeinsamen Ort. Im Herbst wurden alle Kartoffeln an einem Ort geerntet. Als danach der Regen kam, gingen wir mit unseren Taschen nochmal dorthin, und sammelten die übriggebliebenen Kartoffeln ein – im Herbst wurde augenscheinlich schlecht geerntet. Besonders bei Regen kamen die Kartoffeln gleich sauber raus – mal sahen sie ganz weiß aus, mal ganz rosa. Und dann wurden Reserven für den Winter angelegt.

Damals kam also schon die Revolution, und ich wurde langsam älter. Sie fingen an, uns in die Wälder von Newjansk zu treiben. Also wurden wir vertrieben: es kamen Befehle, Notizen werden übergeben, und schon zog die Dorfjugend weg. In den Wäldern wurde Holz abgesägt, und dann eingesammelt. Die größten Äste wurden behalten. Der Schneefall war damals schlimm. Ich erinnere mich, dass ich mir damals eine Lungenentzündung geholt habe. Ich hatte Stiefel, in denen ich gut durch den Schnee kam. Schnee und Schlamm ragten bis zu den Knien. Die Strumpfhosen wurden dabei ganz durchnässt. Wir trugen ja damals keine Hosen.

Kennenlernen mit dem Ehemann 

Im Jahr 1929 rief mich meine Schwester zu sich, und ich zog zu ihr nach Leningrad. Wir lebten in der Nähe der Isaak-Kathedrale, dort gab es damals Wohngemeinschaften (Obshhezhitija) für Soldatenfrauen. Ihr Mann war Pilot.

Im Jahr 1930 fing ich mit einem Fortbildungskurs und arbeitete in der Textilfabrik „Bolschewitschka“. Ich schloss den Kurs auf der vierten Qualifikationsstufe ab; nach einem Jahr wurde ich auf die fünfte aufgestuft. Bei meiner Arbeit in der Fabrik lernte ich einen Matrosen kennen. Er war Jahrgang 1908, und ich 1909.

Nun, wir lernten uns kennen, als er für ein paar Stunden von Kronstadt kam. Ich war ein stilles, ruhiges Mädchen, das zog ihn offensichtlich an. Ich sagte ihm: ‚Wenn du dich nur mit mir triffst, um mit mir zu schlafen, vergiss es! Niemals!’ Das hatten mir meine Eltern so beigebracht, dass ein Mädchen bis zu ihrer Hochzeit Jungfrau bleiben soll. Seemänner brauchen ja gutes Essen. Er brauchte eine Frau, und so sagte ich ihm: Berühre mich nicht!

1934 wurde er dann versetzt. Er hat fünf Jahre lang gedient, und am 1. Dezember wurde in Smolny Sergej Mironovič Kirov ermordet. Und so musste er noch 20 weitere Jahre dienen. Während seines Dienstes schloss er übrigens auch die Parteischule ab. Er war solch ein leidenschaftlicher Kommunist.

Ich war drei Jahre mit ihm zusammen. Dann wurde 1934 seine Abteilung von Leningrad in den Fernen Osten geschickt, um dort Torpedos und Boote zu vertreiben. Er war Kommandant der siebten Torpedobootdivision.

Der Ferne Osten 

An einem Tag sagte mir meine Tante, dass ein wertvolles Paket für mich angekommen sei, und dass ich mit einem Pass kommen sollte. Ich wusste ja schon, worum es ging, wir hatten uns mit ihm abgesprochen, dass er ein Paket schickt, und alles war mit der Führung vereinbahrt. In dem Paket war ein Antrag auf Familienzusammenführung und ein kostenloses Ticket. So bin ich also zu ihm gefahren und wir heirateten. Danach habe ich in dem Offiziersladen eine Arbeit gefunden.

Familienporträt der Sokolowas, Wladiwostok 1954

Unser erstes Kind ist mit zwei Jahren und neun Monaten an Masern gestorben. Es hatte eine bilaterale Entzündung. Es hat sich wohl auf unserem Weg nach Nachodka erkältet. Die Winter waren damals sehr kalt.

Die Zeitungen schrieben, dass etwas zwischen unserer Regierung und Japan schief gelaufen sei. Japan hat sich da etwas aufgespielt, und unsere Regierung fing schon mit der Aufrüstung des Fernen Ostens an. Die Grenzen wurden verstärkt.

Einmal, als ich meinen Mann treffen wollte, sagte man mir, dass sein Schiff von den Japanern eingenommen wurde, und dass mein Mann gestorben sei. Und abends kam dann ein anderes Schiff angefahren, und es stellte sich heraus, dass er noch lebte. Damals gab es so viele fehlerhafte Begräbnisse.

Dann wurde mein Mann nach Alaska geschickt, um dort Schiffe einzunehmen. Am 3. Juli 1941 erklärte Stalin in seiner Rede an das Volk, dass das Land in Gefahr sei, und dass Japan unsere Union an einer zweiten Front angreifen könnte. Stalin sagte, der Ferne Osten sei bereit für einen Angriff. Sie fingen an, Kinder und Greise zu evakuieren.

Mich evakuierten sie nach Osch, zur Mutter meines Mannes. Später kehrte ich zu meinem Mann nach Wladiwostok zurück. Nach dem Ende des Krieges hatte ich schon drei Kinder. 1953 starb mein Vater. Wir lebten in Wladiwostok bis 1955 weiter.

Im Jahre 1955 wurden die Truppen unter Chruschtschow reduziert, und mein Mann wurde auch aus der Armee abgezogen. Er wurde zum Oberstleutnant ernannt, und bekam den Lenin-Orden für lange Dienstjahre verliehen. Er kam in die Reserve.

1956 zogen wir nach Kirgisien.

Die Hütte in Ala-Artscha

Bei der Reduzierung der Armee zogen alle Truppen nach Kirgisien, nach Frunse (heute Bischkek Anm. d. Ü.). Dort war es ja warm, und es gab Früchte. Das Klima war gut in Kirgisien. Es zog alle da hin. Und so zogen wir auch zu Verwandten nach Frunse. Dort lebten wir nicht lange, wir zogen nach Ala-Atscha um.

Eine Wohnung hatten wir damals nicht, aber wir hatten drei Kinder. Wir kauften eine kleine Lehmhütte, da wir für ein großes Haus kein Geld hatten. Wir zogen also um – mein Gott! Die Hütte war alt. Sie war alt, aus Ton gebaut, wahrscheinlich stand sie schon seit hundert Jahren. Dort gab es noch nicht mal Platz zum Schlafen. Es gab zwei Zimmer: eine Küche und ein Schlafzimmer. Die größte Fläche des Schlafzimmers wurde von einem großen russischen Ofen besetzt.

Wir legten uns also die erste Nacht schlafen: Wasser rann an den Wänden herunter; es war kalt, denn wir schafften es noch nicht einmal, den Ofen anzuheizen. Und dann hörten wir, wie etwas schnurrte! Und immer lauter und lauter. Wir gingen zu den Nachbarn, und sie sagten: ‚Ja, hier sind überall Kröten. Schaut in den Boden, grabt sie aus!’

Wir fingen an, in der Küche nachzusehen. Es gab es einen eineinhalb Meter langen Unterbau, der bis zum Ofen im Schlafzimmer reichte. Wir öffneten den Deckel und da waren Kröten. Es waren da so viele zwischen diesen Steinen. Etwa drei Eimer davon schmissen wir in den See. So waren wir also die erste Nacht angekommen. Wie unheimlich war das …

Ich erinnere mich noch gut, als unser Sohn Gene 16 Jahre alt war. Nachts schlief er alleine auf dem Ofen, und hätte sich fast durch Kohlenmonoxid vergiftet. Im Zimmer roch es nach Mist. Später im Mai fiel der Boden im Haus ein. Die Behörden halfen uns damals noch gar nicht. Beim Militär hatte mein Mann das Bauen gar nicht gelernt. Später haben wir uns für ein Zimmer angemeldet, aber man sagte uns, dass uns vor fünf Jahren nichts gegeben wird.

Zwei Jahre nach unserem Umzug nach Ala-Artscha erkrankte mein Mann. Er hatte Leukämie. Er starb im Jahre 1958. Später, im Jahr 2000, zog ich zu meinen Kindern nach Bischkek. Seitdem wohne ich hier. Ich lebte mit meinen Kindern zusammen im 8. Stadtteil. Mein Sohn Gennadij starb mit 52 Jahren. Seine Beine waren gelähmt. 18 Jahre lang arbeitete er als Taxifahrer in der zweiten Taxi-Basis von Bischkek.

Heute lebe ich bei meiner Tochter und meinen Enkeln. Mein zweiter Sohn lebt in Asanbaj (einem Stadtteil von Bischkek. Anm. d. Ü.). Über die Ereignisse in Kirgistan erfuhr ich hauptsächlich aus Fernsehen und Radio.“

Mit Ana Sokolowa sprach Diana Rachmanowa
Kloop.kg

Aus dem Russischen übersetzt von
Florian Coppenrath und Daniela Neubacher
Novastan.org 

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