STIMMEN AUS KASACHSTAN. Nachdem die schweren Unruhen in Almaty Kasachstan erschüttert haben, versuchen die Medien des Landes, die Situation nach und nach zu analysieren. Vlast sprach mit dem Wirtschaftsexperten Kuat Akijanov darüber, warum die Proteste die Frage nach der Notwendigkeit eines grundlegend neuen Modells der sozioökonomischen Entwicklung in Kasachstan aufwerfen. Wir übersetzen den Artikel mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.Das kasachstanische Nachrichtenportal Vlast hat eine Artikelserie gestartet, in der verschiedene Spezialist:innen die Januar-Ereignisse reflektieren, deren Folgen prognostizieren und Lösungen formulieren, um aus der politischen Krise herauszukommen. Weitere dieser STIMMEN AUS KASACHSTAN findet ihr hier. Vlast sprach mit Kuat Akijanov, einem ehemaligen Mitarbeiter der Präsidialverwaltung und verschiedener Ministerien und heute außerordentlicher Professor an der KazGUU-Universität in Nur-Sultan darüber, wie die Geschehnisse zu unterscheiden sind, wie friedliche Proteste diskreditiert wurden und warum Kasachstan keine andere Wahl hat, als eine sozial orientierte Wirtschaft zu werden.
Zur Unterscheidung zwischen den Geschehnissen und dem ersten, sozialen Teil der Proteste
Ich selbst teile diesen Protest in zwei Teile. Ich glaube, dass es zwei verschiedene Arten von Protest gab, sowohl in der Form als auch im Wesen, die nichts miteinander zu tun haben. Der erste war ein klassischer Klassenprotest, im guten Sinne des Wortes. Die tieferen Gründe für diesen Protest lagen in der beklagenswerten sozioökonomischen Lage der Bevölkerung. Es handelte sich um Proteste gegen das neoliberale Modell des Kapitalismus, das wir in Kasachstan leider verfolgen. Dieses Modell funktionierte zwar eine Zeit lang, aber hauptsächlich bloß aufgrund konjunktureller Faktoren: hohe Ölpreise, andere natürliche Ressourcen, niedrige Zinssätze der US-Notenbank (die eine billige Finanzierung im Ausland ermöglichen – Vlast). Es ist im Wesentlichen ein sehr kurzfristiges Modell. Lest auch auf Novastan: Soziologin Janar Jandosova: „Es scheint, dass die Polizei Gewalt nur gegen normale Bürger anwendet“ Die gegenwärtige Situation ist gekennzeichnet durch steigende Preise, niedrige Löhne, geringen sozialen Schutz, die Entmündigung der Arbeiterklasse und das Fehlen grundlegender Normen der Wirtschaftsdemokratie. Ich spreche nicht einmal über Politik. Als die Unzufriedenheit in diese Proteste mündete, verliefen sie überraschend friedlich. Ich war stolz auf die kasachstanische Gesellschaft, weil sie so mutig und verantwortungsvoll ist. Wir erinnern uns an die Geschehnisse in Jańaózen im Jahr 2011, denen der liberale Teil der Gesellschaft, die Opposition, eher teilnahmslos gegenüberstand. Zu dieser Zeit gab es eine sehr starke Propaganda gegen die Demonstrierenden.
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Dieses Mal, als die Arbeiterklasse auf die Straße ging, konnte man sehen, dass sie in Almaty, in Shymkent, in Karaganda und in vielen anderen Städten unterstützt wurde. Der einzige Nachteil war, dass sie kein offizielles Zentrum und keine organisierten Gewerkschaften hatten. Aber das war nicht mehr ihr Problem. Wir wissen, was mit den Gewerkschaften geschehen ist: Sie wurden einfach zerstört, mit den Füßen getreten. Die Proteste im Januar 2022 haben sozioökonomische Gründe. Es gab wachsende soziale Probleme im Zusammenhang mit Verschuldung, unzugänglichem Wohnraum und geringer sozialer Absicherung. Die ausgewogene Haltung der Regierung, von Präsident Tokajev persönlich, war in diesem Falle ausreichend. Der stellvertretende Ministerpräsident senkte die Gaspreise und sprach über mögliche Reformen.
Zum zweiten Teil, der nach den Protesten folgte – der organisierte Angriff und seine Akteur:innen
Der zweite Teil des Protestes hatte einen ganz anderen Charakter und die progressiven Kräfte gingen unter. Die demokratische Bewegung gegen den neoliberalen Kapitalismus in unserem Land wurde anscheinend innerhalb weniger Stunden von einer anderen, nicht mehr spontanen Bewegung abgelöst. Der frühere Berater von Nazarbaev, Ermuhamet Ertysbaev, sprach von einer Art Verrat, einer Art geplanter Aktion. Dies ist wahrscheinlich richtig, denn es wurden Zahlen genannt, darunter auch die Zahl der Terrorist:innen. Diese Leute kamen von außen, sie sind ein Spiegelbild des dunklen Teils der dreißigjährigen Politik, als eine ganze Generation heranwuchs, die nicht einmal aus dem Lumpenproletariat bestand, sondern aus einem Gemisch von religiösen Sekten und einem einfach verarmten Teil der Bevölkerung. In der Regel handelt es sich um junge Menschen, die der Staat für Anhänger religiöser Bewegungen hält.
Ich sehe einen fundamentalen Unterschied zwischen diesen beiden Teilen des Protests. An dieser Stelle möchte ich noch einmal wiederholen, dass wir stolz auf die kasachstanische Gesellschaft sein sollten, dass sie sich diesem unbändigen Mob, diesem sinnlosen und gnadenlosen Aufstand nicht angeschlossen hat, obwohl sie vielleicht darauf gehofft haben. Diese Terrorist:innen haben einen Sturm in Almaty verursacht. Aber die Vertreter:innen der Gewerkschaftsbewegungen oder der Gesellschaft waren nicht dort. Im Gegenteil, die friedlichen Proteste wurden ausgenutzt und die ursprünglichen sozialen Forderungen diskreditiert.
Zu den wahrscheinlichen Folgen der Geschehnisse
Die „Falken“, wenn man solche Begriffe auf unsere Politik anwenden kann, haben nun einen Vorwand, die „Schrauben anzuziehen“. Aber wo sollen sie noch die Schrauben anziehen? Falls sie dies tun, befürchte ich, dass aus Kasachstan Turkmenistan wird. Ich glaube, dass Tokajev psychologisch anders beschaffen ist. Es ist bereits eine gewisse Unterstützung durch die städtische Mittelschicht zu spüren. Und er wird mit eher liberalen politischen Ansichten in Verbindung gebracht. Was die wirtschaftliche Situation betrifft, so würde ich natürlich gerne an den Fortschritt glauben. So optimistisch das auch klingt, ich glaube, wir haben keine andere Möglichkeit. Die Regierung steht nun vor der Notwendigkeit, das Paradigma der sozioökonomischen Entwicklung im weitesten Sinne des Wortes zu ändern. Es werden neue Ansätze und Mechanismen benötigt. Die Tatsache, dass Alihan Smailov zum amtierenden Premierminister ernannt wurde, gibt hier Anlass zur Hoffnung.
Über die Notwendigkeit eines neuen Modells der sozioökonomischen Politik
Am 11. Januar wird Tokajev im Unterhaus eine:n Kandidat:in für das Amt des neuen Premierministers vorstellen. Es sind verschiedene Personen vorstellbar, aber ich hoffe, dass Smailov den Posten erhalten wird. (Anm. d. Red.: Smailov ist zum Premierminister ernannt geworden.) Er ist ein kompetenter Wirtschaftsexperte, er hat lange im Staatsapparat gearbeitet, er hat den Finanz- und Wirtschaftsbereich überwacht und er versteht, was in der Wirtschaft und in der Gesellschaft passiert. Soweit ich weiß, ist er nicht mit irgendwelchen Gruppen oder Strukturen verbunden. Und er wird ein neues sozioökonomisches Modell ausarbeiten müssen. Dies muss genau, systematisch und methodisch angegangen werden, indem darüber nachgedacht wird, wie die Grundlagen der neoliberalen Wirtschaft, die auf dem Prinzip des Rentensystems (Anm. der Red.: im volkswirtschaftlichen Sinne) beruht, ersetzt werden können. Lest auch auf Novastan: Chronik von Kasachstan: Wie die usbekischen Medien über die Proteste und Unruhen berichteten Unsere Kapitalakkumulation beruht auf der Ausbeutung von unproduktiven Renten: aus Finanzanlagen, Grundbesitz usw. Hier gibt es wenig produktives Kapital. Deshalb brauchen wir Veränderungen. Und unsere Expert:innen und Technokrat:innen sind zu sehr mit den aktuellen Problemen beschäftigt. In den letzten sechs Monaten haben wir zum Beispiel hauptsächlich über die inländische Inflation gesprochen. Das ist so, als würde man sich nur auf hohes Fieber konzentrieren, wenn bei einer kranken Person eine schwere Krankheit diagnostiziert werden muss. Eine hohe Temperatur ist nur ein Symptom. Wenn Ungleichheit, Löhne und fehlende Wirtschaftsdemokratie nicht thematisiert werden, werden uns [die Maßnahmen der Regierung] nicht weiterbringen. Wenn wir wieder anfangen, monetaristische Rezepte zu verwenden – und das ist ein sehr starkes Antibiotikum -, werden wir noch mehr Probleme bekommen. Ich sage nicht, dass der Monetarismus an sich abzulehnen ist, man muss allerdings verstehen, dass das Antibiotikum selbst sehr gefährlich sein kann – es muss dosiert werden. Aber wenn es seit 30 Jahren verwendet wird, dann funktionieren die monetaristischen Instrumente nicht mehr. Unser „Körper“ hat bereits eine Resistenz gegen ein solches Medikament entwickelt. Deshalb muss ein grundlegend neues Paradigma der sozioökonomischen Entwicklung erarbeitet werden.
Aus dem Russischen von Aigerim Kozhakhmetova
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