In Kasachstan ist vor kurzem ein Skandal bezüglich eines Bildes von Nikolaj Chludow entflammt. Was hat es damit auf sich? Novastan übersetzt den ursprünglich bei Informbüro.kz erschienenen Artikel.
Die klassischen Werke des Künstlers Nikolaj Chludow, die zwischen dem Ende des 19. und dem Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden, verursachen plötzlich einen neuen Skandal in Kasachstan. Besonders das Bild „Kasachinnen klopfen die Wolle“ löste bei Facebook die Empörung kasachischer Männer aus.
Das Gemälde stellt ein Alltagsbild dar: Kasachinnen in traditioneller Kleidung klopfen ein Schafsfell auf, um Filz herzustellen. Manche von ihnen haben dabei einen nackten Busen.
Im Museum unbemerkt
Das Originalbild befindet sich im staatlichen Zentralmuseum der Republik Kasachstan. Dort ist Chludow ein ganzer Raum gewidmet. Und dort hat das halb-erotische Bild bisher niemanden gestört.
Der Skandal entstand erst in den sozialen Netzwerken. Kommentatoren, die anscheinend schon lange kein Museum mehr besucht haben und mit Chludows Kunst nicht vertraut sind, haben das Bild sogar als eine Fälschung bezeichnet. „Das kommt aus der Phantasie des Malers. Unsere Frauen hätten sich nie so malen lassen“, schreibt zum Beispiel der Internetnutzer Dias Batirbekkuli.
Andere schreiben, Chludow verforme die Realität und habe den wohlgesitteten kasachischen Frauen Brustwarzen gemalt, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat. „Na, versucht mal unsere Frauen auszuziehen! Solche Bilder verfälschen die Realität“, so Ruslan Schintas, ein weiterer Internetnutzer.
Manche Kommentare waren voller Beleidigungen gegenüber dem Künstler und Ethnographen, dessen Meisterwerke zur Kasachstans Kulturerbe gehören.
Informburo.kz hat nachgeforscht, warum Nikolaj Chludow die urgroßmütter der heutigen Kasachen in solch leichter Kluft dargestellt hat. War es aus reiner Phantasie oder wirklich eine bloße Darstellung der Realität? Dafür hat die Redaktion Künstler, Kulturwissenschaftler und Spezialisten im Bereich der kasachischen Traditionen befragt, ob kasachische Frauen im 19. Jahrhundert nackt posiert haben könnten.
Wer ist Nikolaj Chludow?
Doch erstmal ein paar Daten zu Nikolaj Chludow: Der Porträt-, Landschafts- und Ikonenmaler wurde am 25. November 1850 in der Provinz Orlow geboren. Er starb 84 Jahre später, am 23. Juni 1935 in Almaty.
Ab 1877 lebte Chludow in Wernij, wie Almaty zu der Zeit hieß. Er arbeitete dort als Zeichner und war später Student am geologischen Institut des Regionalgouvernats von Semiretschensk. Er arbeitete als Maler und Topograph für die Forschungsexpedition der Chan-Tengri-Gebirgsgruppe des Geologen Ignatjew und des Botanikers Krasnow und bei W.Muschketows Erforschung des Erdberben von Wernij (1887).
Chludow war Mitglied des turkestanischen Kreises für Archäologiefreunde und Gründer der Semiretschinsker Abteilung der russischen Gesellschaft für Geographie. Von 1904 bis 1907 malte Chludow die erste Ikonostase der Christi-Himmelfahrtskathedrale in Almaty.
In der sowjetischen Zeit spielte Chludow zudem eine wichtige Rolle bei der beruflichen Ausbildung der ersten kasachischen und kirgisischen Künstler. Seine Werke kann man heute in verschiedenen Museen in Moskau, Sankt-Petersburg, Bischkek und Almaty betrachten.
„Chludow hat sich nichts ausgedacht“
Die Kunstforscherin Valerija Ibrajewa findet das skandalträchtige Bild sehr realistisch: „Chludow hat fotografisch gemalt, er hat sich nichts ausgedacht“, kommentiert sie. „Er hat gemalt, was er gesehen hat. Er war ja Ethnograph und Künstler. Es gibt noch ein anstößigeres Bild von ihm, das zeigt nackte Frauen, die mit den Zähnen Kamelzügel aufknoten. Chludows Ausdrucksart war eher primitiv. Sein Kredo: Malen mit ethnographischer Präzision. Natürlich hat er sich dabei auch Poetisierung erlaubt.“
Wie Ibrajewa hinzufügt, wurde Chludow von einer kasachischen Kunstwissenschaftlerin sogar mit Aleksej Wenezianow verglichen, einem russischen Maler, der für seine Szenen aus dem ländlichen Leben bekannt ist.
Laut Ibrajewa gibt es eine einfache Erklärung dafür, dass die Frauen auf dem Bild die Wolle halbnackt aufklopfen: Ihnen war heiß. „Die Frauen klopfen die Wollen selbstverständlich in einer Jurte, damit sie nicht wegfliegt. Ihnen ist heißt und sie entblößen sich. Warum denn nicht?“
„Meinen sie etwa, dass Kasachen sich nie auszogen?“
„Chludow hat auf einem anderen Bild eine junge halbnackte Frau abgebildet, die in einem Fluss badet. Meinen sie [die Kritiker] etwa, dass Kasachen sich nie auszogen? Man sagt, dass Menschen in Europa früher im Dreck gelebt haben, in Kasachstan war hingegen alles sauber. Aber -entschuldigen Sie- der Alltag der Nomaden war wohl kaum steril.“
Auf den modernen, patriotischen Bildern ist solch ein Naturalismus wie bei Chludow natürlich nicht zu sehen. Die Bewohnerinnen der Steppe sind da schüchtern, mit gesenktem Blick und ihre schneeweißen Kleiderfalten bedecken sittsam alles, was sie bedecken können. Man kann sich diese Schickimicki Nomadinnen schwer dabei vorstellen, wie sie die Wolle aufklopfen. Für Ibrajewa sind solche Gebilde nichts als Idealisierung.
„Ich bin in Taschkent geboren und habe lange dort gelebt. Dort gab es viele Griechen, die sagten immer, dass eine griechische Frau sich nie so benehmen würde, wie die anderen Mädchen. Das ist eine Form von Idealisierung: ‚Andere Frauen mögen sich so verhalten, aber unsere Frauen nicht, die sind sittig‘. Das ist wie die Frage, ob Lenin jemals auf die Toilette ging. Erinnern sie sich an den Film ‚Assa‘: Der beginnt damit, dass Stalin auf die Toilette geht. Das war notwendig, um die Größe des Mannes zu relativieren“, kommentiert die Kunstforscherin.
Die 30er Jahre hatten auch schon ihren Skandal
Die Kulturwissenschaftlerin Sira Naursbajewa hat Chludows Kunst erforscht. Sie erzählt, dass der aktuelle Skandal eine Wiederholung des Skandals aus dem Jahr 1934 ist, der auch ohne Facebook entstand.
Anfang des 20. Jahrhunderts wurden einige von Chludows Werken für amoralisch befunden und aus dem lokalen Landeskundemuseum entfernt. Darunter war ein frivoleres Bild: „Ein Fest mit Preisen“. Auf dem ersten Blick sieht es nach einer Orgie aus. Halbnackte Damen haben ihre Hände hinter dem Rücken gebunden und versuchen, mit ihren Zähnen Kamelzaumzügel aufzuknoten. Die umherstehenden Männer beobachten die Szene mit fröhlichen Mienen.
Das unanständige Bild wurde entfernt. Aber Achmet Bajtursinow, der gerade aus dem Exil gekommen war, setzte sich für Chludow ein. Er schätzte Chludows Werke sehr und erklärte, dass das Bild keine Pornographie darstelle, sondern ein tatsächlich in der Steppe verbreitetes Ritual.
Auch Naursbajewa bestätigt: Chludow hat etwas Reales dargestellt. Solche Szenen gab es wirklich. Der Künstler hat sogar eine gewisse Dezenz bewiesen, denn eingentlich waren die die Frauen dabei ganz nackt. Solche rituellen Spiele fanden bei Gedenkfeiern statt. Die nackten Frauen verkörperten die Lebensenergie und sollten so dem Tod standhalten. Das war eine heidnische, vormuslimische Tradition.
„Das Ritual hieß Tujeschischu“, kommentiert Sira Naursbajewa. „Tatsächlich sind die Frauen ganz nackt aufgetreten. Aus der Folklore kann man lesen, dass eine ältere Frau buchstäblich auf ihre Genitalien hinweist. Sie sagte damit, dass nichts Beschämendes daran sei, da das Kind bei der Geburt schon alles gesehen hat. Dann haben wir den Islam angenommen und Rituale wie dieses sind fast in Vergessenheit geraten. Das hatte nichts mit Pornographie oder Striptease zu tun, sondern hatte eine große symbolische Bedeutung. Es fällt uns heute schwer, solche Rituale aus der damaligen Zeit zu akzeptieren.“
In seinem Bild „Kasachinnen klopfen die Wolle“ sei Chludow laut Naursbajewa jedoch nicht ganz realitätsgetreu gewesen.
„Natürlich hat niemand die Wolle so aufgeklopft“, sagt sie. „Es gibt ein anderes Bild von Chludow, auf dem die Frauen angezogen sind und der Mann halbnackt. Eine andere Archivfilmaufnahme aus dem Jahr 1918 oder 1919, in Semipalatinsk aufgenommen zeigt eine Gruppe junger Männer, die in Hosen aber mit freiem Oberkörper neben einem Zug herlaufen. Es handelt sich dabei wahrscheinlich um eine ‚Alasch-Orda‘ Militäreinheit bei der Wehrübung. Die Männer wagten es, sich auszuziehen, da keine Frauen in der Nähe waren. Sonst wäre es unanständig gewesen. Zur Zeit von Chludows Gemälde waren bei den Impressionisten Frauen aus Haiti oder Tahiti populär. Ich denke, er hat sich davon inspirieren lassen.“
Das ist Bigotterie
Arman Nurmuchambetow ist Historiker und Hüter einheimischer kasachischer Traditionen. Das skandalöse Bild empört ihn gar nicht: „Chludows Bilder spiegeln die Realität. Im Altertum waren die Vorstellungen von Schande bei Kasachen andere als die, die mit der Stärkung des Islam im 19. Jahrhundert und später in der Sowjetunion vorherrschten. Manches war viel einfacher, als heute. Andererseits gelten bestimmte sachen heute als selbstverständlich, die damals peinlich gewesen wären.“
Nurmuchambetow denkt, dass man das Bild nicht aus heutigem Standpunkt beurteilen sollte. „Auf Chludows Bild, das Frauen zeigt, wie sie öffentlich mit den Zähnen Kamelzaumzügel aufknoten, ist ein echtes kasachisches Fruchtbarkeitsritual dargestellt. Dieses Ritual gab es schon zur Zeit der Sarmaten. Wen solche Bilder empören, der hat keine Ahnung von der Kultur seines eigenen Volkes.“
Das ist Phantasie
Der Direktor des staatlichen Zentralmuseums der Republik Kasachstan, Nursan Alimbaj bestätigt zwar, dass die Frauen auf dem Bild „Kasachinnen schlagen die Wolle“ wirklich posiert haben, aber halbnackt waren sie nicht. Der Künstler habe die Brüste später selbst hinzugemalt.
„Seine Bilder zeigen wirklich nackte kasachischen Frauen“, kommentiert er. „Selbstverständlich war es unzumutbar. Chludow wurde auch selbst deswegen kritisiert. Er antwortete, dass es nur seine Künstlerphantasie sei und eine Art, die Realität zu interpretieren. Er wollte einfach die Schönheit des weiblichen Körpers darstellen. In den Archiven unseres Museums haben wir Chludows Briefe, in denen er selbst diesen Fall erklärt.“
Aber leider erteilt das Museum keinen Zugang zu diesem Brief, in dem Chludow das Geheimnis seines Gemäldes aufdeckt.
Dana Kruglowa
Informburo.kz
Aus dem Russischen von Liliya Gubasheva