Jahrzehnte nach der Einstellung der Atomwaffentests versuchen die Forscher immer noch, die Auswirkungen der Strahlung auf die öffentliche Gesundheit bei Semipalatinsk zu erforschen. Dieser Artikel ist im russischen Original im Online-Magazin The Steppe erschienen, Novastan übersetzt ihn mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.
Umwindete Lenin-Statuen säumen nach wie vor die Parkanlagen der Stadt Semei, im Nordosten Kasachstans. Die Straßen von Semei sind voller Backsteinhäuser und zerklüfteter Fußgängerwege – ein Erbe des ehemaligen Regimes. All dies ist mit bloßem Auge zu sehen, aber andere Spuren der Vergangenheit sind schwerer zu sehen, berichtet Nature.com.
Die Geschichte der Stadt und die DNA ihrer Bewohner umfasst das Erbe des Kalten Krieges. Das etwa 150 km westlich vom einstigen Semipalatinsk gelegene Testgelände Semipalatinsk war die Basis, auf der die Sowjetunion ihr Atomwaffenarsenal errichtete.
Die lange Geschichte des Testgeländes Semipalatinsk
Zwischen 1949 und 1963 verwandelte die Sowjetunion ein etwa 19 Kilometer langes Grundstück in ein Testgelände, wo sie mehr als 110 Atomtests durchführte. Vieles, was über die gesundheitlichen Auswirkungen von Strahlung bekannt ist, wurde durch Forschung ermittelt und dargelegt. Zum Beispiel die Folgen des Atombombenabwurfs über Hiroshima und Nagasaki oder der Atomkatastrophe von Tschernobyl. Wissenschaftler haben viel über die Auswirkungen von radioaktiver Strahlung auf Menschen und Umwelt herausfinden können. Diese Studien haben jedoch wenig Hinweise darauf hervorgebracht, dass die Auswirkungen von Strahlung von Generation zu Generation übertragen werden.
Seit Jahrzehnten sind die Menschen in der Nähe des Standorts des Atomwaffengeländes nicht nur akuten Ausbrüchen, sondern auch konstanten niedrigen Strahlendosen ausgesetzt. Kasachische Forscher sammeln nun Daten über diejenigen, die die Explosionen überlebt haben, sowie über ihre Kinder und Enkelkinder. Die Folgen der Exposition zu radioaktiven Stoffen sind nicht immer offensichtlich und nicht immer leicht zu verfolgen: Ausbrüche erhöhen das Krebsrisiko, und es besteht die Möglichkeit, dass die Auswirkungen der Strahlung auf das Herz-Kreislauf-System von Generation zu Generation übertragen werden könnten.
Trotz der Untersuchung der Auswirkungen auf die Gesundheit müssen Forscher in Kasachstan auch die Angst überwinden, die die Bewohner der Fallout-Zone befallen hat. Die Anwohner geben den Tests die Schuld für eine Vielzahl von Problemen. Das Bewusstsein furchtbaren Nachwirkungen ausgesetzt zu sein prägt die Familien, die auf die medizinische Versorgung der Regierung angewiesen sind. Modernste Gentechnik kann dabei helfen. „Das Testgelände war eine große Tragödie“, sagt heute Talgat Muldagalijew, stellvertretender Direktor des Radiation Medicine and Ecology Research Institute in Semeij, „aber wir können die Zeit nicht zurückdrehen. Jetzt müssen wir mit den Konsequenzen leben und diese untersuchen.“
Tödliche Auswirkungen
Am 12. August 1953 spielte Valentina Nikontschik auf der Straße, als sie eine ohrenbetäubende Explosion hörte und dann ohnmächtig wurde. Sie erlebte die erste Explosion einer Atomwaffe der zweiten Generation – einer thermonuklearen Vorrichtung. Eine solche Bombe entspricht 400 Kilotonnen TNT, und somit mehr als der 25-fachen Kapazität einer Bombe, die auf Hiroshima abgeworfen wurde. Der Atomtest von 1953 gilt als der zerstörerischste Test an diesem Standort, was die Strahlenbelastung angeht.
Bis dahin hatte die sowjetische Armee in dieser Einrichtung bereits seit vier Jahren Tests durchgeführt. Die Armee warf Bomben aus Flugzeugen ab, um die Auswirkungen von Explosionen auf Gebäude, Brücken, Fahrzeuge und Vieh zu untersuchen. Aber sie waren sich entweder nicht bewusst oder waren gleichgültig gegenüber der Tatsache, dass die Winde, die in der Steppe wehen, die Strahlung in benachbarte Siedlungen tragen könnten.
1963 unterzeichneten Vertreter der Sowjetunion den Vertrag über das Verbot von Kernwaffenversuchen in der Atmosphäre, im Weltraum und unter Wasser, der die Bodenerprobung beendete. Unterirdische Tests, die bis 1989 dauerten, trugen zu bestimmten Strahlenrisiken bei. Die Tests, die aber am Boden in den ersten 14 Jahren des Bestehens des Standorts, ausgeführt wurden, gelten als die gefährlichsten in Bezug auf die akute Strahlenbelastung. Die absorbierte Strahlendosis wird in Gray (Gy) gemessen, und eine hohe Strahlendosis ab etwa 1 Gy reicht aus, um Zellen und Gewebe zu töten. Menschen, die einer höheren Dosis ausgesetzt waren, leiden oft unter Erbrechen, Durchfall oder Blutungen. Abhängig vom Grad der Bestrahlung und des Zelltods können Menschen innerhalb von Stunden oder Wochen, nachdem sie den Strahlen ausgesetzt waren, sterben.
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Im August 1956 wurden mehr als 600 Einwohner der Stadt Ust-Kamenogorsk, etwa 400 km östlich des Testgeländes, nach einem Bodentest in Semipalatinsk, mit extrem erhöhter Strahlung in ein Krankenhaus gebracht. Es gibt keine Aufzeichnung darüber, wie viele Menschen daran gestorben sind. Strahlung beeinflusst auch die Zellteilung, dies ist insbesondere bei der Entwicklung eines Fötus ein zu beachtender Faktor. Frauen in der Nähe des strahlenexponierten Ortes gebaren deutlich öfter Kinder mit genetischen Krankheiten, einschließlich des Down-Syndroms und angeborener Fehlbildungen. Aber für einige mag sich der Effekt erst nach Jahren zeigen. Dies war bei Nikontschik der Fall. Jahre nach der Explosion entdeckte sie, dass sie Herz- und Schilddrüsenprobleme hatte. Sie und ihre Ärzte glauben, dass diese mit den Tests verbunden sind. „Als ich ein Kind war, dachten wir nicht darüber nach, wie dieses Ereignis unsere Gesundheit beeinflussen könnte“, sagte sie.
Nach den Versuchen vom August 1956, die unter den Bewohnern von Ust-Kamenogorsk zu Strahlenkrankheiten führten, richtete das sowjetische Militär eine geheime medizinische Station ein, um den Bedürftigen zu helfen. Diese Station war aber auch als Ort für die Sammlung medizinischer Daten über die strahlenexponierten Personen gedacht. Um dies jedoch zu verbergen, schuf die Armee die anti-Brucellose Gesundheitsfürsorgestelle Nr. 4, die die eigentlichen Gründe der Erkrankung der Patienten als eine angebliche bakterielle Krankheit maskierte, die von Nutztieren übertragen wird. Diejenigen, die einen Arzt aufsuchten, wurden untersucht, erhielten aber nie eine wahrheitsgemäße Diagnose.
Im Jahr 1991 schickten Moskauer Beamte einen Sonderausschuss in die Region, um eine Ambulanz zu eröffnen. Einige Datensätze wurden vernichtet. Andere Verschlussakten wurden an Moskau zurückgegeben. Auch heute noch wissen die Forscher nicht, was in diesen Aufzeichnungen stand. Das Gesundheitszentrum Nr. 4 wurde in das Forschungsinstitut für Strahlenmedizin und Ökologie (NIIRME) umbenannt, das die restlichen klassifizierten Patientendaten übernahm. Zusätzlich zu den epidemiologischen Studien über die Auswirkungen von Strahlung auf die menschliche Gesundheit verfügt NIIRME über eine kleine Klinik für die Behandlung von Menschen, deren Familienangehörige von der radioaktiven Strahlung betroffen waren.
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Seit vielen Jahren sind diejenigen, die medizinische Hilfe von der Gesundheitsfürsorgestelle Nr. 4 oder der NIIRME in Anspruch nehmen, in das staatliche Ärzteverzeichnis eingetragen, das den Gesundheitszustand von Menschen überwacht, die Opfer der Strahlung wurden. Dort wurden Betroffene nach deren Generation und Strahlendosis gruppiert. Obwohl das Register nicht alle Opfer umfasste, zählte es mehr als 351.000 Menschen über drei Generationen von Opfern hinweg. Fast ein Drittel von ihnen starb, viele wanderten aus, oder das Institut verlor den Kontakt zu ihnen. Aber laut Muldagalijew stehen seit 1962 rund 10.000 Menschen unter ständiger medizinischer Überwachung. Forscher sehen das Register als eine wichtige und relativ unerforschte Ressource, die langfristig die noch unetdeckte Folgen der Strahlenbelastung aufdecken kann.
Ende der 90er Jahre reisten kasachische Forscher nach Beskaragai, einer Stadt am Rande einer stark bestrahlten Deponie. Sie nahmen Blutproben von 40 Familien, von denen jede über drei Generationen hinweg betroffen war und schickten sie an den Humangenetiker Juri Durbrow von der Universität Leicester. Juri Dubrow ist auf die Untersuchung des Einflusses von Umweltfaktoren auf Embryonen und DANN spezialisiert. Er war daran interessiert die Vererbung von Mutationen von einer Generation an die nächste zu erforschen.
Im Jahr 2002 berichteten Dubrow und seine Kollegen, dass die Keimbahnmutation bei denjenigen, die einer direkten Bestrahlung ausgesetzt waren, fast doppelt so hoch war wie bei der Kontrollgruppe. Die Auswirkungen setzten sich in den folgenden Generationen fort, die aber selbst nicht direkt von den Explosionen betroffen waren. Ihre Kinder hatten Keimbahnmutationen, die bis zu 50 Prozent höher waren als in der Kontrollgruppe. Dubrow glaubt, dass, wenn Forscher ein Mutationsmuster bei den Nachkommen exponierter Eltern etablieren, langfristige, intergenerationelle Gesundheitsrisiken antizipiert werden können. „Das ist die nächste Herausforderung. Wir glauben, dass Methoden wie die Sequenzierung der nächsten Generation uns echte Informationen über die Auswirkungen menschlicher Mutationen liefern können“, behauptet Dubrow.
Das wichtigste zusammengefasst
Als Zhanar Mukhamedzhanova 19 Jahre alt wurde, begann sie sich bei der Arbeit schwach zu fühlen. Es kam ihr seltsam vor, denn ihre Arbeit war nicht arbeitsintensiv. Daraufhin wurde sie in der Regionalklinik in Semei untersucht. Ihr Blutdruck war über 160, was für medizinische Verhältnisse ziemlich hoch ist. Obwohl Mukhamedzhanowa den größten Teil ihres Erwachsenenlebens in der Stadt verbrachte, hat sie ihre ersten Lebensjahre im Bezirk Abai verbracht, der von einem der größten und belastetsten Atomtests betroffen war.
Ihre beiden Eltern waren Zeugen der Atomtests: Ihr Vater starb mit 41 Jahren an einem Schlaganfall und ihre Mutter mit 70 Jahren an einer Herzerkrankung. Die ältere Schwester hat hohen Blutdruck und ihre jüngere Schwester hat eine Herzinsuffizienz.
Im vergangenen November entdeckten Ljudmila Piwina und ihre Kollegen von der Staatlichen Medizinischen Universität Semei, dass eine anhaltende niedrig dosierte Strahlenbelastung zu Herz-Kreislauf-Problemen führen kann, wie zum Beispiel zu Bluthochdruck. Sie analysierten den Gesundheitszustand von etwa 1.800 Menschen, darunter Überlebende von Atomtests der zweiten und dritten Generation. Als sie sich auf Menschen konzentrierten, deren Eltern zwischen 1949 und 1989 in exponierten Gebieten lebten, fanden sie heraus, dass das Risiko von Bluthochdruck mit der Menge der Strahlung, die sie erlitten, zunahm.
Bei einer längeren niedrigen Bestrahlungsdosis häufen die Zellen Mutationen an, weil sie ständig versuchen, die durch ihre DNA verursachten Schäden zu reparieren. Der ehemalige Strahlenepidemiologe Bernd Groscher stellt fest, dass es wichtig sei, die Bevölkerung, die verschiedenen Arten von Strahlung ausgesetzt wurde, zu untersuchen, um das Ausmaß der Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit vollständig zu erforschen. Wenn es in Kasachstan ein Register gäbe, wäre es ein großer Fehler, dieses nicht zu analysieren, sagte Grosche.
Kari Kitachara, Epidemiologin an der Krebsabteilung des nationalen Krebsinstituts, untersucht die Auswirkungen der Strahlung auf die Gesundheit von medizinischen Strahlungstechnikern, die besser in der Lage sind, die Strahlenbelastung zu überwachen. Andere untersuchen die gesundheitlichen Auswirkungen auf Arbeiter, die Uran abbauen oder im Bereich der Atomkraft tätig sind, da diese seit langem einer niedrigen Strahlendosis ausgesetzt sind.
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Eine der größten Herausforderungen bei der Untersuchung der gesundheitlichen Auswirkungen von radioaktiver Strahlung ist, dass es oft schwierig ist, ein bestimmtes Problem allein durch Strahlung zu erklären, sagt Julia Semenowa, ebenfalls Forscherin an der Staatlichen Medizinischen Universität von Semei. Sie untersucht insbesondere die Auswirkungen von facettenreichen Tests auf die Entstehung von Krebs. Da Krebs und Bluthochdruck häufige Krankheiten sind, können Gruppenstudien helfen, herauszufinden, welche Faktoren zu ihrer Entwicklung beitragen können. Semenowa und ihre Kollegen planen, das Register für epidemiologische Studien zu nutzen, um den Zusammenhang zwischen Strahlung und Krankheit besser zu verstehen.
Die Forscher, die die Bevölkerung der Teststandorte untersuchen, wissen jedoch noch nicht genau, inwieweit langfristige und geringe Strahlung die menschliche Gesundheit beeinträchtigen können. Umso mehr Zeit vergeht, desto schwieriger ist es, die Auswirkungen von Strahlung von anderen Umweltfaktoren zu trennen. „Jede Katastrophe hat einen Anfang und ein Ende“, sagte Muldagalijew, „aber im Falle von Strahlung ist dieses Ende unbekannt.“
Unsichtbares Erbe
Fröhliche Autoreifenskulpturen begrüßen die Besucher des zweistöckigen Kinderheims, das in einem Wohnstadtteil von Semei versteckt liegt. Im zweiten Stock befinden sich Räume mit creme- und orangefarbenen Wänden, die „Sonnenzimmer“ genannt werden. Im Inneren rollt sich ein dreijähriger Junge namens Arthur auf dem Boden und setzt sich langsam auf einen Stuhl – er hatte schon drei korrigierende Operationen, die es ihm ermöglichten wieder zu laufen. Sein älterer Bruder, geboren mit Hydrozephalie (ein Überschuss an Flüssigkeit in seinem Gehirn, der seinen Kopf vergrößert), wohnte lange Zeit im selben Waisenhaus, wurde aber inzwischen verlegt. In einer Wiege liegt die zweijährige Maria, die weder laufen, krabbern oder sitzen kann. Sie erstickt fast, wenn sie weint. Die Pflegerinnen wissen nicht genau, was mit ihr los ist und ob sie bis ins Erwachsenenalter überleben wird.
Kinder mit Behinderungen, die diese Einrichtung und andere Einrichtungen in der Region durchlaufen haben, sind ein klares Erbe des Atomwaffentestgeländes. Laut Raikhan Smagulow, einem Lehrer im Waisenhaus, sind viele der acht Kinder, die im November im „Sonnenzimmer“ waren, in verstrahlten Dörfern aufgewachsen. Einige Ärzte empfahlen sogar, dass strahlenexponierte Erwachsene darauf verzichten sollten, Kinder zu gebären. Es gibt jedoch wenig Beweise und viele Diskussionen darüber, ob die Strahlenbelastung in der Vergangenheit zur Entwicklung angeborener schwerer Krankheiten beigetragen hat. Diese Frage, wie viele andere Fragen, versucht die Forschung zu ergründen, aber es wird nach wie vor schwer sein, diese zu beantworten, sagt Muldagalijew.
Für viele Menschen in der Region sind diese Folgen wahrscheinlich weniger sichtbar als bei angeborenen Behinderungen. Aber sie können heimtückischer und beunruhigender sein.
Anstatt dafür bekannt zu sein, dass die Stadt der Geburtsort einiger berühmter kasachischer Dichter und Künstler war, ist Semei nun vor allem für seine dunkle Vergangenheit bekannt. „Die Stadt ist gebrandmarkt“, sagt Simbat Abdykarimowa, Neurologin im Waisenhaus. „Wir wollen stolz auf unsere Stadt sein, da wir hier leben, aber viele internationale Journalisten kommen nur hierher um über das Testgelände zu berichten. Wir versuchen zu vermeiden, dass wir nur dafür bekannt sind.“
Zarina Muchametalijewa für The Steppe
Aus dem Russischen von Svenja Petersen
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