ANALYSE. Der Wahlkampf und die Präsidentschaftswahl in Kasachstan, bei denen der geplante Sieg von Kassym-Jomart Tokajew zustande kam, waren von beispiellosen Demonstrationen und Protesten geprägt. Vor allem die gebildeten kasachstanischen Jugendlichen der Großstädte (Almaty und Nur-Sultan) führten kreative Proteste an, um faire Wahlen und Veränderungen zu fordern. Diese wurden von den Behörden energisch unterdrückt, mit sofortigen Verhaftungen und Gefängnisstrafen für Teilnehmer. In ihren Mitteilungen verweisen die kasachstanischen Behörden einstimmig auf „die geisterhafte Welt des Westens“ und Versuche einer „sozialen Destabilisierung“, die von „Pseudo-Gegnern“ aus dem Ausland durchgeführt werden.
Warum eine so aggressive Rhetorik gegenüber dem Westen, der den Machtübergang in Kasachstan weitgehend unterstützt? Was zeigt diese Rhetorik über die Möglichkeit für das Regime und den neuen Präsidenten, den Dialog mit der jungen Rebellengeneration wieder aufzunehmen? Erklärungsversuche unserer französischen Redaktion.
Die Präsidenschaftswahl in Kasachstan am 9. Juni brachte Interimspräsident Kassym-Dschomart Tokajew als Sieger hervor. Sie war von Demonstrationen in den Straßen von Almaty und Nur-Sultan geprägt, wobei mehr als 500 Menschen verhaftet wurden. Für die kasachstanischen Behörden kommt dieser beispiellose Protest aus dem Westen.
„Erteile nicht denen das Wort, die uns ablehnen.“
Seit Beginn der Kampagne, als Tokajew von Nursultan Nasarbajew als Kandidat für die Präsidentenpartei Nur-Otan nominiert wurde, sprach dieser von Bedrohungen für die Kampagne und den Machtwechsel, den er initiierte: „Wir müssen unsere Unabhängigkeit mit starken Händen halten. Ja, die Finger einer Hand sind nicht gleich. Es gibt verschiedene Menschen unter uns. Es gibt diejenigen, die der geisterhaften Welt des Westens hinterherlaufen. Wenn wir die Kraft unserer Hand loslassen und denen, die unser Wesen ablehnen, eine Stimme geben, werden wir unsere Unabhängigkeit verlieren.“
Diese Erklärung des ersten Präsidenten, auch auf Lebenszeit „Führer der kasachischen Nation“, enthält die gesamte Wahlpolitik: keine Pause, keine Selbstgefälligkeit gegenüber denen, die Alternativen verlauten lassen. Sie bezieht sich auch auf die Bedrohung durch den Westen.
Für George Voloshin, Leiter des französischen Wirtschaftsforschungsunternehmens Aperio Intelligence und Russland/GUS-Experte, ist es jedoch nur eine „rhetorische Figur, keine tatsächliche Kritik am Westen“. „Nasarbajew hat dies bereits mehrmals und in anderen Zusammenhängen zum Ausdruck gebracht. Es ist eine Art deutlich zu machen, dass von Kasachstan nicht erwartet werden sollte, dass es sich schnell und nach westlichen Standards demokratisiert, sondern seinen eigenen Weg gehen muss„, sagt der Beobachter, der von Novastan kontaktiert wurde.
Das Ausland und Muchtar Abljasow sind schuldig.
Im Einzelnen beschuldigen die kasachstanischen Behörden „radikale Elemente“ der DVK-Bewegung als verantwortlich für die Proteste. Diese im Land verbotene Bewegung wurde vom ehemaligen Bankier und Oppositionspolitiker Muchtar Abljasow gegründet. Für Voloshin „tun die Behörden so, als würden sie denken oder versuchen, alle glauben zu machen, dass die Demonstrationen von der DVK und Abljasow inspiriert wurden.“ Dabei sind aber „viele Menschen hinausgegangen um zu demonstrieren, weil sie diese Verachtung für ihr Streben nach wirklicher Veränderung nicht mehr ertragen konnten.“
In seiner Siegesrede am Tag nach der Wahl erklärte Tokajew auch die Probleme Kasachstans dadurch, dass das Land „zum Objekt des Einflusses turbulenter internationaler Prozesse“ geworden sei. Laut Voloshin „ist es eine übliche Rhetorik (des kasachstanischen Machtapparats, Anm. d. Red.), die nicht darauf abzielt, jemanden zu kritisieren, sondern sich gegenüber der Bevölkerung für eine unbefriedigende sozioökonomische Situation zu rechtfertigen, indem sie auf die ‚internationalen Prozesse‘, Handelskriege und Sanktionen hinweist.“
Selbst Amirdschan Kossanow, der bei der Präsidentschaftswahl den zweiten Platz belegte, äußerte sich sehr hart zu den Protestbewegungen. „Die Durchführung von Kundgebungen und der Wahlboykott in Almaty und Nur-Sultan, die von einem ausländischen Pseudo-Oppositionellen organisiert wurden, waren illegal. [….] Diejenigen, die im Ausland sitzen (….) und Menschen bei Wahlen drängen, anstatt sie ihr verfassungsmäßiges Recht ausüben zu lassen [….], das ist es eine echte politische Provokation und Bosheit. An dieser Veranstaltung waren junge Menschen beteiligt. Unsere Jugend irrt sich, wenn sie sich an pseudodemokratische Positionen hält. Deshalb möchte ich sagen, dass hinter dieser Bewegung eine große perverse Absicht steckt„, so Kossanow.
Für den Experten George Voloshin ist „Amirdschan Kossanow kein echter Kandidat einer echten Opposition, sondern ein Statist, dessen Anwesenheit der Wahl Legitimität verleihen sollte. Seine Kommentare stimmen gut mit der Position des Regimes gegenüber dem im Exil lebenden Gegner Muchtar Abljasow überein.“
Ist es möglich, sich mit den jungen Demonstranten zu versöhnen?
Diese Worte, die sich auf das Ausland und die Angstfigur Muchtar Abljasow beziehen, unterbinden die Taten der vielen gebildeten Jugendlichen, der sich während dieser Kampagne und des Machtwechsels mobilisiert haben. Wird der neue Präsident in der Lage sein, den Dialog mit ihnen wieder aufzunehmen?
Das schien er am Sonntag tun zu wollen, kurz nachdem er seine Stimme abgab, indem er einen Dialog vorschlug, umgesetzt durch die Schaffung eines „Ausschusses für öffentliches Vertrauen“ mit dieser Jugend, die für „kreative Bewegungen“ steht. Er drückte selbst seine positive Einstellung gegenüber dieser Jugend aus: „auch wenn sie gegen die Behörden, gegen die Regierung protestiert“ sei es notwendig, einen Dialog „mit denen, die die Regierung unterstützen, und mit denen, die sie ablehnen“ aufzunehmen.
„In dieser Erklärung versucht der neu gewählte Präsident wahrscheinlich, seine Sichthöhe zu demonstrieren“, sagt der Kasachstanexperte Adrien Fauve, der an der Universität Paris-Sud Politikwissenschaft lehrt. „Er wendet sich direkt an die Demonstranten und schlägt einen Dialog über ein Vertrauenskomitee vor. In Begriffen der politischen Soziologie könnte man das als einen Versuch verstehen, nicht-konventionelle politische Partizipation (Demonstrationen, usw.) in konventionelle Partizipation in bestimmten Regierungsbereichen zu verwandeln“, so der Forscher im Gespräch mit Novastan.
„Sein Vorschlag für einen Dialog spiegelt deutlich die Befürchtung des Regimes wider, dass die Demonstrationen weitergehen und zunehmen werden“, so Voloshin. „Junge Menschen sind wahrscheinlich am stärksten von dem wirtschaftlichen Abschwung und dem Mangel an Möglichkeiten in einem geschlossenen politischen System betroffen. Wie anderswo ist die Arbeitslosenquote für die unter 25-Jährigen höher als für andere demografische Gruppen und die Beschäftigten leben oft unter prekären Bedingungen„, beschreibt der Beobachter. „Es ist noch schwierig zu sagen, inwiefern Präsident Tokajew und seine Regierung – erst im Februar ernannt und daher vollständig von seinem Vorgänger geerbt – den Jungen und anderen Unzufriedenen, wie zum Beispiel Großfamilien, nicht nur ein offenes Ohr anbieten können, sondern vor allem auch echte Reformen durchführen können, um die Lösung ihrer Probleme anzustreben.“
„Eines ist vorerst sicher, es ist schwer zu wissen, wie beliebt dieser Protest außerhalb von Großstädten wie Almaty und Nur-Sultan ist“, sagt Adrien Fauve. „Die Jugend ist kein monolithischer Block: Zwischen einem 18-jährigen jungen Mann in Kyzyl-Orda und einer 32-jährigen Frau in Pawlodar kann es Unterschiede geben… Aus dieser Perspektive ist es interessant, die Auswirkungen sozialer Netzwerke zu verfolgen.“
Die Redaktion
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