Die Politologin Togjan Qasenova hat ein Buch über Kasachstans Verzicht auf Atomwaffen veröffentlicht. Während der Buchvorstellung sprach sie über die bis heute währenden Folgen sowjetischer Atomtests und die Bedeutung des Atomwaffenverzichts in heutiger Zeit. Der folgende Artikel erschien am 7. Oktober 2022 auf Vlast. Wir übersetzen ihn mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.
Togjan Qasenova, promovierte Politikwissenschaftlerin und Spezialistin für Nuklearsicherheit, hat am 6. Oktober die kasachische Version ihres Buches Nuclear Steppe: How Kazakhstan Gave up the Bomb vorgestellt. Während der Präsentation sprach die Autorin darüber, wie die Anti-Atomkraft-Bewegung zu einem der ersten Schritte der kasachischen Gesellschaft in Richtung Entkolonialisierung wurde, und über die Bedeutung von Kasachstans Atomwaffenverzichts in den gegenwärtig eskalierenden geopolitischen Verhältnissen.
Das Buch wurde erstmals im Februar 2022 in englischer Sprache von Stanford University Press veröffentlicht. Die kasachische Übersetzung wurde nun mit Unterstützung der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) von „Steppe & World Publishing“ herausgegeben. Eine elektronische Version davon ist auf der Website der FES verfügbar.
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Laut Qasenova dauerte die Arbeit an dem Buch 15 Jahre. Der erste Teil erzählt von Atomtests auf dem Territorium Kasachstans und ihren tragischen Folgen für die Umwelt sowie für die Gesundheit der Einwohner:innen. Der zweite Teil konzentriert sich darauf, wie Kasachstan, das nach dem Zusammenbruch der UdSSR das viertgrößte Atomwaffenarsenal der Welt geerbt hatte, dieses nach langen Verhandlungen aufgab und ein atomwaffenfreies Land wurde.
Folgen der Atomtests
Qasenova erläuterte, dass sie ursprünglich vorhatte, im Buch verschiedene Modelle zu untersuchen, warum Länder Atomwaffen aufgeben oder sich dafür entscheiden. Aber als sie begann, in die Region zu reisen und sich mit Opfern der Atomtests zu treffen, wurde ihr klar, dass dieser Teil der Geschichte nicht ausgelassen werden sollte.
„Viele Informationen fehlen noch“, stellt die Autorin fest. „Als Relikt aus der Sowjetzeit fehlt etwas, da Russland keine Materialien liefert. Aber Kasachstan selbst hat auch nicht genug Mühe investiert, um dieses Thema vollständig zu erforschen, die Gesundheit der Bevölkerung zu studieren, zu verstehen, was jetzt passiert, und wie man den Menschen helfen kann, die […] immer noch einen Preis für die sowjetischen Atomtests zahlen.“„Ich wollte diesen Schmerz, diese Geschichten vermitteln. Ich bin sehr stolz auf die atomare Außenpolitik Kasachstans, weil sie wirklich sehr stark ist. Aber für mich war es wichtig, dass all dieses äußere Image mit dem verbunden ist, was im Inneren passiert“, so Qasenova weiter.
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In Bezug auf die aktuellen Probleme der Region konstatiert die Autorin einerseits, dass die staatlichen Stellen den Problemen der Bevölkerung nur unzureichende Aufmerksamkeit widmen. Andererseits bestehe auch in der Gesellschaft eine Diskriminierung der [von den Atomtests betroffenen, Anm. d. Red.] Einwohner:innen. Das derzeit existierende Opferhilfe-Gesetz von 1992 müsse daher seit Langem aktualisiert werden.
„Ich treffe viele Menschen, die eindeutig Krankheiten haben, die mit den Folgen von Atomtests zusammenhängen. Aber weil ihre Krankheit nicht in der Liste der mit dem Testgelände verbundenen Krankheiten aufgeführt ist, erhalten sie keine Hilfe“, sagt die Wissenschaftlerin und fügt hinzu, dass die benötigte kostenlose Hilfe in abgelegenen Gemeinden oft nicht verfügbar ist. „Als ob das Problem des Testgeländes von Kasachstan und der kasachstanischen Gesellschaft getrennt sei. Ich meine, jeder sollte darüber nachdenken. Für eine integrale Nation sollten alle gemeinsamen Probleme wirklich als gemeinsam betrachtet werden und nicht als Probleme einer einzigen Kategorie von Menschen, die leiden“, so Qasenova.
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Ein separates Kapitel des Buches ist den Versuchen von Ärzt:innen gewidmet, die Auswirkungen von Atomtests auf die Gesundheit der Menschen während der Sowjetzeit zu untersuchen. Die Autorin erklärt, dass einige Studien trotz des fehlenden vollständigen Bildes noch heute fortgesetzt werden könnten. „Damals baute das sowjetische Militär in Semipalatinsk [heute Semeı, Anm. d. Red.] die sogenannte Anti-Brucellose-Betreuungsstelle“, sagt Qasenova.
„Die Hauptidee war, zu beobachten, wie sich Strahlung auf den Menschen auswirkt. Als die Sowjetunion zusammenbrach, wurden viele Dokumente weggenommen. Es heißt, dass einige verbrannt wurden, andere aber erhalten blieben.“ Zu dieser Zeit überwachte die Betreuungsstelle die Gesundheit von etwa 10.000 Bewohner:innen ländlicher Gebiete. Spezialist:innen des kasachstanischen Instituts für Strahlenmedizin und -ökologie, das auf der Grundlage der Betreuungsstelle gegründet wurde, kamen Jahre später auf diese Daten zurück und stellten eine erhöhte Sterblichkeit und Krebsanfälligkeit bei Bewohner:innen von strahlenbetroffenen Regionen fest. Jetzt forschen Wissenschaftler:innen an der zweiten und dritten Generation der Bewohner:innen.
Die Notwendigkeit eines Atomwaffenverzichts
Angesichts des aktuellen Krieges in der Ukraine und der Unberechenbarkeit der globalen Nuklearpolitik bleibt Qasenova der Meinung, dass der Atomwaffenverzicht Kasachstans ein notwendiger und richtiger Schritt war. Die Wissenschaftlerin meint, dass sich das Land zur Wahrung seiner Souveränität als Staat positionieren musste, der trotz möglicher Ungerechtigkeit nicht versucht, das internationale Regulierungssystem zu brechen.
Außerdem wäre es während der Krise der 1990er Jahre schwieriger gewesen, die damals notwendigen ausländischen Investitionen anzuziehen, wenn das Land eine andere Entscheidung getroffen hätte. Sich nur auf Waffen zu konzentrieren, sei der Expertin nach jedoch falsch. „Für mich als Spezialistin sind die Entscheidungen Kasachstans zu nuklearem Material und Infrastruktur viel wichtiger“, sagt Qasenova. „Weil Kasachstan sie vollständig kontrolliert hat.“
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Im Prozess der Herstellung von Atomwaffen sei die Komponente Kernmaterial technisch am komplexesten. Wenn also ein Land von irgendwoher Kernmaterial erhalten habe oder produzieren könne, dann sei es sehr nahe daran, die latente Fähigkeit dazu zu haben ein Nuklearprogramm zu starten.
„Und auch hier wurde die Position Kasachstans sehr deutlich – dass das damals nicht das war, was das Land brauchte“, meint die Autorin. „Der Krieg, die russische Invasion in der Ukraine und die Tatsache, dass uns allen noch mehr Angst vor dem Abwurf taktischer Atomwaffen gemacht wurde, hat deutlich gezeigt: Solange es Atomwaffen gibt, werden wir alle deren Geiseln sein. Ich bin sehr stolz darauf, dass Kasachstan kein Teil davon ist“, so Qasenova weiter.
Die Anti-Atom-Bewegung als nationale Bewegung
Die Anti-Atom-Bewegung, die auch Gegenstand des Buches ist, ist laut der Autorin durch einen roten Faden mit anderen historischen Ereignissen verbunden, in deren Verlauf die Gesellschaft ihre eigene Identität und ihre eigenen Ideen geformt hat: „[Die Jeltoqsan-Unruhen, Anm. d. Red.] 1986 war[en] das erste Zeichen innerhalb der Republik: Moskau, entscheide nicht für uns über unser Schicksal! Und wie wir die tragische Entwicklung dieser Ereignisse kennen, waren es hauptsächlich ethnische Kasach:innen, die darunter gelitten haben. Für das multinationale Kasachstan war dies eine Tragödie. Der Beginn der Anti-Atom-Bewegung war eine Chance für eine nationale Idee, denn die Anti-Atom-Bewegung vereinte alle Völker Kasachstans“.
„Es gab eine allgemeine Idee: Atomtests stoppen. Und in allem manifestierte sich „reclaiming the agency“ – die Rückeroberung der Entscheidungsfreiheit – dass wir mehr Einfluss auf unser Schicksal haben wollen. Für mich ist es also eine direkte Verbindung“, meint Qasenova. Leider sei laut der Autorin die Rolle der Anti-Atomkraft-Bewegung aus politischen Gründen gedämpft und zu wenig darüber gesprochen worden. Die Gegenwart macht ihr hingegen Hoffnung.
„Die neue Generation ist komplett anders. Sie kennt die Sowjetunion nicht mehr und hat nicht diese rein sowjetische Angst – genetische Angst, sagen wir manchmal in Kasachstan“, meint Qasenova. „Und der Krieg hat das besonders deutlich gemacht: Die neue Generation, darunter auch Nicht-Kasach:innen [Angehörige der Ethnie, Anm. d. Red.], definiert ihre Identität stärker als Kasachstaner:innen [Staatsbürger:innen Kasachstans, Anm. d. Red.]. Dieser Prozess ist jetzt im Gange. Er ist sehr interessant und macht Hoffnung.“
Olga Loginova für Vlast
Aus dem Russischen von Robin Roth
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