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Infrastruktur in Zentralasien durch das Prisma der Anthropologie – ein Interview mit Agnieszka Joniak-Lüthi

Die Anthropologin Agnieszka Joniak-Lüthi erforscht die Folgen von Infrastrukturprojekten in Zentralasien. Im Interview mit Central Asian Analytical Network spricht sie über ihre Arbeit. Wir übersetzen den Artikel mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.

Agnieszka Joniak-Lüthi

Die Anthropologin Agnieszka Joniak-Lüthi erforscht die Folgen von Infrastrukturprojekten in Zentralasien. Im Interview mit Central Asian Analytical Network spricht sie über ihre Arbeit. Wir übersetzen den Artikel mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.

In Zentralasien werden der Start und die Durchführung von Infrastrukturprojekten als großer Erfolg und Gemeinwohl interpretiert. Doch ist das auch in Wirklichkeit so? Wie kann die Infrastruktur nicht nur den globalen, sondern auch den lokalen Kreislauf der Güter, des Kapitals, der Arbeit aber auch der politischen Interessen beeinflussen? Was erwarten die Menschen von der Infrastruktur und warum werden ihre Hoffnungen oft nicht erfüllt? Wie könnte man zu vorwiegend inklusiven, ökologischen, nachhaltigen, richtigen und gerechten Modellen des Infrastrukturaufbaus übergehen? Über die Perspektive anthropologischer Infrastrukturforschung, unter anderem zur Initiative One Belt, One Road berichtet in diesem Interview Professor Agnieszka Joniak-Lüthi.

Agnieszka Joniak-Lüthi ist Professorin für Sozialanthropologie an der Universität Zürich und Leiterin des Projekts „ROADWORK: Anthropologie der Infrastruktur an der Chinas innerasiatischen Grenzen“. Joniak-Lüthi hat über vier Jahre in China studiert und geforscht und verfügt über hohe Regionalexpertise zu China. Sie hat ihre Forschung in den entwickelten süd-westlichen Provinzen begonnen und in den Megastädten wie Peking und Schanghai fortgesetzt. Im Jahr 2011 war sie in den trockenen nord-westlichen Regionen. In einer der letzten Studien hat sie die Verbindung von Verkehrsinfrastruktur einerseits und ökologischer Degradierung und den Prozessen staatliches Verwaltungsaufbaus andererseits untersucht.

CAAN: Wann und aus welchen Gründen ist Infrastruktur für die Anthropologie Forschungsgegenstand geworden?

Joniak-Lüthi: Im Laufe ihrer Geschichte hat die Sozial- und Kulturanthropologie den Fokus auf die Forschung der Orte und Menschen gelegt, die sich sehr weit von der Umgebung des Ethnographen befinden. So sind Ethnographen verreist um die Sozialsysteme, Wirtschaft, Rituale und Religionen von den „Anderen“ zu entdecken. Die heimatliche Gemeinschaft der Ethnographen selbst war nicht ihr  Forschungsgegenstand.

Mit der Entstehung von postkolonialen Studien, feministischen Ansätzen in der Anthropologie und allgemein mit der Entstehung des Poststrukturalismus wurde der frühere Stand der Dinge in Frage gestellt. Auch die Methoden und Schwerpunkte der Forschungen wurden transformiert. Heutzutage forschen europäische Anthropologen zum Beispiel in ihren Gesellschaften, oft in der Stadtumgebung: Wie verhält sich die Regierung in der Öffentlichkeit, welche Rolle haben Rituale im Alltagsleben und wie sind die Menschen miteinander verbunden, zum Beispiel durch Verwandtschaft oder sonstiges.

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In den letzten 30 Jahren ist das Thema der transnationalen Arbeitsmigration eine der Hauptrichtungen der anthropologischen Forschung geworden. Dies hat Anthropologen angeregt hat, in die Länder zu fahren, um zu verstehen, unter welchen Lebensbedingungen zum Beispiel in den nordamerikanischen Städten arbeitende Servicekräfte aus Mexiko in ihrem Land gelebt haben oder um die Migranten zu verstehen, die in die Flüchtlingslager kommen. Einige von uns haben zentralasiatische Migranten begleitet, die zwischen Zentralasien und großen Städten Russlands unterwegs sind oder auch chinesische Arbeitskräfte, die zu Bauarbeiten nach Afrika fahren. Mit der zunehmenden Aufmerksamkeit für Mobilität, globale Netzwerke und globale Arbeitsmigration aber auch für die Technologien und Infrastruktur der Mobilität haben wir den Fokus auf diese Themen gelegt. Ein wichtiger Grund dafür war auch die Entwicklung des Internets – der größten globalen Infrastruktur, die unsere Kommunikationsarten, aber auch die Entstehung und Verbreitung von Wissen verändert hat.

Wie untersucht die Anthropologie Infrastruktur, der Straßen, Brücken und Wohnhäuser zugrunde liegen?

Anthropologen und andere Forscher aus den Sozialwissenschaften sind keine Konkurrenz für die Ingenieure, weil die technischen Seiten des Verkehrsbauwesens nicht Gegenstand unserer Untersuchungen sind. Wir führen keine Laboranalysen durch. Vielmehr setzen wir uns mit anderen Themen auseinander und machen eher einen Schritt zurück und konzentrieren uns auf Fragen wie: Braucht man eine Straße an diesem Ort? Wer hat Interesse am Bau der Straßen? Wer profitiert davon und auf welcher Weise? Warum träumen die einen von neuen Straßen, aber die anderen setzen sich gegen sie ein? Was erwarten die Menschen von der Infrastruktur und warum werden ihre Hoffnungen oft enttäuscht? Das sind Beispiele für Fragen, womit sich Anthropologen auseinandersetzen.

Unseren Forschungen basieren weder auf statistischen Daten und staatlichen Prognosen noch auf den Prognosen, die von Investmentbanken oder Baufirmen vorbereitet wurden. Wir lernen einheimische Sprachen, packen unsere Koffer und fahren in diese Gegenden, um vor Ort zu leben und die Infrastruktur im Laufe einer langen Zeitspanne zu untersuchen und ihre soziale Komplexität zu verstehen. Wenn wir zum Beispiel Straßen untersuchen, sprechen wir darüber mit unterschiedlichen Personen – mit Politikern, Wirtschaftsleuten und Ingenieuren sowie mit Bauarbeitern, Autofahrern, Frauen und Männern, Reisende entlang dieser Straßen und Anwohner. Wir versuchen zu verstehen, was in der Wirklichkeit diese Straße ausmacht. Wen verbindet sie, wen schließt sie aus? Welche Möglichkeiten gibt sie und für wen? Welche Beziehungen werden dadurch aufgebaut und welche beendet?

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Infrastrukturprojekte sind meistens politisch. Von daher wird auch diese Seite untersucht. Nehmen wir zum Beispiel die Straßen, die von chinesischen Unternehmen für Pakistan in Gilgit-Baltistan gebaut werden, dessen Territorium zwischen Pakistan und Indien umstritten ist. Im Bereich des Straßenbaus gehen die Fragmentierung von Weiden, geopolitische Interessen und Immigration Hand in Hand mit den besten Möglichkeiten für die einen und der Ausbeutung der anderen. Die neue Straße ist selten nützlich für alle, die dies erhoffen. Nur wenige von denen, die kein Geld haben, profitieren davon.

Infrastruktur – das sind keine magischen Objekte, die mit Armut verbundene Probleme lösen. Sie bringt weder Demokratie noch Gleichstellung der Geschlechter. Das Asphaltieren und die Eröffnungszeremonie verhindern nicht automatisch Armut in den Regionen. Eher kann es umgekehrt so sein, dass die Regionen ausgebeutet werden, wenn dem keine Strategien und Handlungen entgegengesetzt werden.

Von daher haben einige Infrastrukturen Veränderungspotenzial. Ob diese Veränderungen wie erwünscht erfolgen, ist eine ganz andere Frage. Mithilfe unserer Forschungen hoffen wir neue Kenntnisse zu erhalten, um die Frage zu beantworten, wie es gelingt „bessere Straßen“ zu bauen, die sozial und wirtschaftlich nachhaltig werden. Aber auch, dass es manchmal besser ist, keine größeren und breiten Straßen zu bauen, etwa aus geopolitischen Gründen oder aus der Motivation, den CO2-Fußabdruck zu reduzieren.

Was ist der Grund, dass Forschungen zur Infrastruktur nicht nur in der Anthropologie, sondern auch in den anderen Sozialwissenschaften so populär geworden sind?

Wahrscheinlich, wegen der „unerwarteten“ Erfahrungen, die dadurch geschafft werden. Stellen Sie sich eine Brücke, ein Wohnhaus, eine Straße oder einen Deich vor – diese Objekte scheinen statisch und nicht sozial zu sein. Intuitiv könnten wir sagen, dass sie keinen Gegenstand der soziologischen Untersuchungen sein können. Aber wenn Sie sie genau beobachten, finden Sie enorme Perspektiven: Eine Straße oder ein Deich wird zu einem Schlüsselloch, wodurch Sie das reiche, soziale Universum entdecken.

Für den Anthropologen ist die Infrastrukturforschung wie das Öffnen der Kiste voller Überraschungen und Beziehungen, die uns in nicht vorhersagbare Richtungen führen. Sie untersuchen lokale Deutungen und Konflikte, die mit den Straßen verbunden sind, aber auch überregionale und nationale Folgen der Projekte, ihre Rollen für den Warenkreislauf, den Kapital, die Arbeit und politischen Interessen. Sie müssen sich zwischen vielen Skalen bewegen: lokal, überregional, national, global und wieder zurück.

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Andererseits ist Infrastrukturforschung für die Zukunft von entscheidender Bedeutung. Während Ingenieure zu den Materialien und Technologien des Straßenbaus und Geologen zur Kenntnis des Geländes beitragen, teilen Anthropologen ihr Wissen über das tägliche Leben auf Straßen und ihre soziale und politische Komplexität. Wir untersuchen ihre ungeplanten und unerwarteten Folgen, ihre Rolle in nationalen Prognosen, im Kapitalismus und in der Geopolitik sowie ihre kulturellen Bedeutungen. Wir untersuchen, was Infrastruktur auf verschiedenen Ebenen und für verschiedene Akteure „tut“ und bedeutet.

Infrastruktur ist kein neutrales materielles Objekt. Menschen projizieren auf die Straße ihre Erwartungen, Ängste, Träume, Enttäuschungen. Sie sehnen sich vielleicht nach guten Straßen oder haben Angst vor den Veränderungen, die die Straßen mit sich bringen – meistens beides gleichzeitig. In einem von mir geleiteten Projekt zeigen wir, dass Straßen keine unpolitischen Kies- oder Asphaltstreifen sind. Die mit Straßen auf der ganzen Welt verbundenen Belastungen beweisen dies. Menschen verbinden Straßen nicht nur mit Chancen, sondern auch mit der Ausbreitung kapitalistischer und geopolitischer Interessen, der Zersplitterung und Verseuchung von Agrar- und Weideland, der Ausbreitung von Krankheiten entlang, der Umsiedlung junger Menschen aus ländlichen Gebieten und dem Tod von Mensch und Tier. Ich glaube, dass dieses Wissen in die Ingenieurausbildung einfließen sollte, denn all diese Dinge beeinflussen das tägliche Leben auf den Straßen: wie die Menschen sie benutzen und ob sie ihnen etwas bedeuten.

Wie kann die Infrastrukturforschung das Leben von Menschen verändern und welche Auswirkungen könnte sie haben?

Die Welt der Sozialanthropologen ist nicht schwarz-weiß. Im Laufe unserer Forschung stoßen wir auf alle möglichen „Grauzonen“. Wir gehen in Bereiche, die von wissenschaftlicher Neugier getrieben werden, um die Dinge so zu verstehen, wie sie wirklich sind. Nicht so, wie sie in der Wirtschaft oder in Regierungsprogrammen sind, und nicht so, wie sie sein wollen. Wir sprechen mit Politikern, die von überteuerten Verträgen für den Bau von Straßen profitieren könnten, mit Ingenieuren, die die besten Straßen bauen wollen, aber oft Kompromisse eingehen müssen, und mit Menschen, die an den Straßen leben, wie zum Beispiel Viehzüchter, für die eine neue Schnellstraße ihre Weiden mit aus Autofenstern geworfenem Müll verschmutzt. Wir hören all die verschiedenen Stimmen und Interessen, die oft in Konflikt geraten.

Anthropologen, die sich mit Infrastruktur beschäftigen, sind nicht naiv: Wir gehen nicht davon aus, dass neue Infrastruktur automatisch für alle ein besseres Leben schafft. Vielmehr sind wir neugierig, kritisch und sachlich. Wir hören oft Prognosen, dass neue Straßen den Weg für lokale Güter öffnen werden, um größere und neue Märkte zu erschließen, was der lokalen Wirtschaft zugutekommen wird. Aber die Hersteller brauchen viel mehr als nur eine Straße, um ihre Produkte zu verkaufen – sie brauchen ein Vertriebsnetz, Geld zum Reisen, sie müssen auf diesem größeren Markt konkurrenzfähig sein, und sie brauchen Sprachkenntnisse. Studien zeigen, dass neue Straßen billigen Massengütern, die anderswo – zum Beispiel in chinesischen Fabriken – hergestellt werden, den Weg in die Dörfer in viel größerem Umfang öffnen können, als dass sie die lokale Produktion und Industrie fördern, vorausgesetzt, der Straßenbau wird nicht durch andere staatliche oder private Initiativen unterstützt.

Es wird oft behauptet, dass neue Straßen den Zugang zur Medizin erleichtern, zum Beispiel zu den Krankenhäusern. In einigen Fällen könnte es relevant sein. Allerdings gibt es Situationen, in denen der Bau eines neuen Krankenhauses in einem Dorf viel besser ist als eine Straße zur weit entfernten Stadt, wo die Patienten keine sozialen Netzwerke haben und wo sich Verwandte um sie nicht kümmern können. Im Rahmen der Initiative “One Belt, One Road“ nehmen die zentralasiatischen Länder große Kredite von China auf, um die Verkehrsinfrastruktur der jeweiligen Länder zu verbessern. Man muss jedoch beachten: Wenn so viel Geld aus dem Staatshaushalt für die Rückzahlung von Krediten ausgegeben wird, wird es an anderen Stellen fehlen, die mindestens ebenso relevant sein könnten, wie zum Beispiel Bildung oder die Förderung der heimischen Wirtschaft.

Wir teilen die Ergebnisse unserer Studien mit den Entwicklungsagenturen und Investitionsbanken und versuchen die Politiker durch unsere Publikationen zu beeinflussen. Darüber hinaus geben wir die Informationen den Ingenieuren weiter und führen öffentliche Vorlesungen durch, um unsere Sachkenntnisse mit der Gesellschaft zu teilen. Unser Hauptziel ist es, kritisches Wissen zu schaffen, welches dazu befähigen wird, einen Übergang zu den inklusiven, ökologisch nachhaltigen, richtigen und gerechten Modelle des Infrastrukturbaus zu schaffen.

Wie hilft die Infrastruktur-Anthropologie helfen, die Transformationsprozesse in Zentralasien zu verstehen?

Es gibt eine Reihe von hervorragenden Studien zum Thema Infrastruktur in Zentralasien, die den postsozialistischen Übergang beeinflusst haben. Als Beispiele können wir “Border Work“ von Madeleine Reeves  über Infrastruktur an den Grenzen nennen, oder aber „Azan on the moon“  von Till Mostowlansky über den Pamir-Highway und  Christine Bichsels „Conflict transformation in Central Asia“ über die Irrigationsinfrastrukturen vor und nach 1991. Alle diese und andere Publikationen zeigen, wie der Zerfall der Sowjetunion, der Verzicht auf die Versorgung aus Moskau und die regelmäßige Wartung der Infrastruktur die Lebensbedingungen der Menschen und ihre Identität grundlegend verändert haben. Die Erforschung der Straßen in Zentralasien geben uns ein Verständnis davon, was die Menschen von der Infrastruktur erwarten, was sie brauchen und wovor sie Angst haben, wie sie sich die Rolle des Staates dabei vorstellen, mit welchen Orten sie verbunden werden möchten und zu welchen eher eine Distanz wahren möchten. Außerdem werden wir durch das Projekt erkennen, was die Menschen unter gerechter Entwicklung verstehen. Die Infrastrukturanthropologie zeigt auf, dass der Bau jeder großen Straße in Zentralasien ein Flickenteppich aus  internationalen Auftragnehmern und aus verschiedenen Quellen stammenden Investitionskapital ist –  ein hervorragendes Prisma, um dieses „Spiel“ aus nächster Nähe zu erforschen.

Zentralasien hat ein enormes Potenzial im Bereich der Infrastrukturentwicklung. Deshalb gibt es ein Interesse von Seiten ausländischer Firmen und Investmentbanken. Wir sehen, dass China sein Projekt der Initiative „One Belt, One Road“ durchführt. Auch Russland, die Türkei, Saudi-Arabien, die Europäische Union, Australien und die USA sind daran interessiert, Infrastrukturverträge in Zentralasien abzuschließen.

Wie hängen Infrastruktur, Staatlichkeit und Kolonialismus zusammen? Könnte man sagen, dass die Länder der Region ihren Straßenausbau kontrollieren oder immer noch als Transitgebiet für große Akteure dienen?

Straßen und Kolonialisierung sind eng miteinander verbunden, sei es in der Vergangenheit im kolonialen Indien oder Vietnam oder heute im Amazonasgebiet. Langfristige Abhängigkeiten sind jetzt im Prozess der Entstehung und es steht Vieles auf dem Spiel. Daher wäre es für die Länder der Region nützlich, die verschiedenen Vorschläge für Zusammenarbeit und Investitionen sowie die verschiedenen geopolitischen Einflüsse gründlich zu diskutieren und abzuwägen. Ich glaube nicht, dass die zentralasiatischen Länder nur als „Transitgebiet“ betrachtet werden. Dafür ist ihr Infrastrukturpotenzial zu bedeutend. Ich hoffe jedoch sehr, dass die zentralasiatischen Staaten allmählich eine hartnäckige Haltung einnehmen und bessere Bedingungen für langfristige Kredite aushandeln werden. Darüber hinaus müsste unbedingt sichergestellt werden, dass diese Darlehen für Infrastrukturprojekte verwendet werden, die für die lokale Bevölkerung von Bedeutung sind, und dass sie mindestens ebenso viel wie ausländische Bauunternehmen profitieren.

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Straßen und Identitätsprozesse sind eng miteinander verbunden – wir sehen dies zum Beispiel in Situationen, in denen Dorfbewohner sich dem Bau von Straßen widersetzen, weil er eine Verbindung zu Orten herstellen würde, mit denen sie nicht verbunden sein und nicht verbunden werden möchten. Straßen fördern auch die innere Migration, und einige Menschen befürchten vielleicht, dass dies ihre Identität und ihre Welt in einer Weise verändern, die es ihnen in dem Fall schwer macht, sich zurechtzufinden.

Für Zentralasien ist dies genau das, worüber wir in diesem Projekt sprechen. Diese Fragen bilden unter anderem die Grundlage unserer Studie. Da unser Team erst vor einem Jahr mit der Arbeit an diesen Fragen begonnen hat, wird es einige Zeit dauern, bis wir die Ergebnisse unserer Forschung formulieren und validieren können. Wir freuen uns, in Zukunft mit neuen Ergebnissen auf Ihre Plattform zurückzukehren. In der Zwischenzeit laden wir alle Interessierten ein, unsere Projektwebsite roadworkasia.com zu besuchen, um unsere Arbeit zu beobachten und nützliche Links zu Veröffentlichungen, Blogs und Forschungsprojekten zur Initiative „One Belt, One Road“ und zur Infrastruktur in Zentralasien zu finden.

Erzählen Sie bitte über das Projekt „Roadwork: Anthropologie der Infrastruktur an Chinas innerasiatischen Grenzen“.

Das Projekt wird von Schweizer Nationalfonds zur Förderung der Wissenschaftlichen Forschung finanziert und konzentriert sich auf einige zentrale Straßen- und Eisenbahnverbindungen, die oder bereits gebaut wurden oder an denen noch gebaut wird. Sie befinden sich in Nordchina, Kirgistan, Kasachstan, Tadschikistan, Pakistan, Nepal und Laos. Wir interessieren uns dafür wie sich die Infrastrukturinvestitionen im Rahmen des Projekts “One Belt, One Road“ in Chinas Nachbarländern auswirken. Wir folgen dem chinesischen Kapital und beobachten, wie und welche Infrastrukturprojekte mithilfe diesen entwickelt werden, wofür diese Infrastrukturen förderlich sind und was sie erschweren, wie sie lokale Territorien dadurch verändern. Das ist nur ein Teil. Unser Ziel ist es, die „One Belt, One Road“-Initiative nicht aus der Vogelperspektive zu untersuchen, das heißt durch laute Slogans und Prognosen, sondern durch die Position eines Frosches von unten nach oben.

Das zweite Ziel des Projekts ist es, nicht auf den Prozess des Ausbaus zu akzentuieren, sondern auf der Zerstörung und Instandhaltung der Infrastruktur. Eröffnungszeremonien sind öffentliche Momente, die das Interesse der Massenmedien erregen, die dann Bilder von lächelnden Politikern zeigen, die Hände von Investoren und stolzen Ingenieuren schütteln. Unser Ziel ist zu erforschen, was danach passiert – wenn das „Leben“ der neuen Straßen- und Eisenbahnverbindungen beginnt und die geplanten und nicht geplanten Folgen sichtbar werden.

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Ein paar Beispiele: Die Wissenschaftler im Team untersuchen zum Beispiel die Frage, wie die Autobahnen in den Weidengebieten von Nordchina der Viehzucht und die saisonale Migration von Wildtieren beeinflussen. Eine andere Wissenschaftlerin untersucht, wie sich der Bau einer neuen Schnellstraße zwischen Qorģas und Almaty auf die  Wirtschaft am Straßenrand auswirkt, auf Straßenreparaturwerkstätten, Restaurants, Herbergen entlang der alten Straße, die durch eine Reihe von Dörfern und Städten führt und vielen ein verlässliches Einkommen verschafft. Noch ein andere Forscherin untersucht, wie der Bau einer neuen „alternativen Straße“, die Nord- und Südkirgistan verbinden soll, die Konzepte von Zugehörigkeit und lokaler Identität verändert, welche Bedenken und Hoffnungen sie weckt und wie sie sich auf die lokale Wirtschaft und Regierungsführung auswirkt.

Was das ganze Projekt zusammenführt ist die Aufgeschlossenheit und Neugier. Wir haben uns vorgenommen, die große Initiative „One Belt, One Road“ zu analysieren. In jedem Land erzeugt das chinesische staatliche Kapital einen anderen Effekt, wird anders wahrgenommen und auch mit den unterschiedlichen kulturellen und politischen Bedeutungen assoziiert. Für ethnographische Untersuchungen solcher großen Initiativen wie „One Belt, One Road“ sind kollektive Anstrengungen notwendig. Wir hören einander zu, besprechen unsere Studienergebnisse, versuchen zusammen die Prozesse zu verstehen, die wir beobachten und dann veröffentlichen und halten Vorträge sowohl für akademische als auch für nichtakademische Zuhörer, um unser Wissen so weit wie möglich zu verbreiten.

Zarina Urmangabetova für Central Asian Analytical Network

Aus dem Russischen von Kunduz Zhyrgalbekova

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