Über das gesamte Jahr 2017 berichteten die Korrespondenten von Tengrinews.kz über Außenbezirke der kasachischen Hauptstadt, die in offensichtlichem Kontrast stehen zum gepflegten und modernen Zentrum der Stadt. Am Jahresende begaben sich Renat Taschkinbaew und Turar Kasangapow ein weiteres Mal in diese Regionen Astanas, um die Bewohner zu ihren Erwartungen für das neue Jahr zu befragen. Mit freundlicher Genehmigung von Tengrinews.kz übersetzten wir die Fotoreportage und veröffentlichen sie in gekürzter Fassung.
In den alten Wohnmassiven und Siedlungen herrscht ein besonderes Leben, ähnlich dem in den ländlichen Gebieten Kasachstans. Das Jahr 2018 beginnt für einige dieser Viertel mit spürbaren Veränderungen: Einige Straßenzüge wurden abgerissen, und wer in baufälligen oder provisorischen Wohnungen lebte, wurde in die Neubauten anderer Stadtteile umgesiedelt. Doch nach wie vor leben Menschen in den historischen Teilen Astanas, und stellenweise gar nicht wenige.
Auf der Suche nach dem Christbaum
„Wo steht denn in Ihrem Viertel der Weihnachtsbaum, die Rodelbahn, die Eisskulpturen?“, fragen wir Menschen in Lesosawod. „Seit ein paar Jahren wird bei uns kein Weihnachtsbaum mehr aufgestellt“, sagt eine Frau. Ihre Nachbarin empfiehlt uns jedoch, auf dem Gelände der örtlichen Schule nachzusehen: „Vielleicht hat man da was aufgestellt“.
Im Bezirk Lesosawod sorgen die Leute selbst für Feststimmung, jeder in seiner Wohnung. In ein paar Fenstern sehen wir angeklebte Schneeflocken. Über das Haus und seinen Bezirk haben wir bereits im April berichtet .
Damals erzählten die Anwohner, dass eines ihrer Hauptprobleme die Straße Richtung „Pentagon“ sei – so nennt man hier die fünfstöckigen Wohngebäude, deren Eingänge mit Liebeserklärungen für den „Lesik“ (Kurzform des Bezirksnamens Lesosawod) vollgeschrieben sind.
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„Es gab hier einige Veränderungen, die uns gefreut haben. Man hat die Straßen erneuert, asphaltiert. Aber dann musste wieder irgendwas gemacht werden, und die Gehwege wurden wieder aufgemacht“, berichten Anwohner. Jetzt ist der Weg zum „Pentagon“ verschneit, deshalb ist die Straßensituation schwer einzuschätzen.
Neben der Straße verläuft eine Eisenbahnstrecke, direkt vor den Wohngebäuden, sie wird von den Fußgängern als Gehweg verwendet. Auf den Schienen ist schon lange kein Zug mehr gefahren.
So sah die Gegend im Frühjahr diesen Jahres aus. Damals erzählten uns die Anwohner in einem ungezwungenen Gespräch von den Besonderheiten des Stadtteils, den Problemen, die die alten Häuser mit sich bringen, und von den Vorbereitungen auf die Zwangsumsiedelung in Folge des geplanten Abrisses ihrer Häuser.
Zehn Monate danach sind wir wieder hier. Von den zweistöckigen Wohnhäusern keine Spur, ihre Bewohner wurden in Neubauten umgesiedelt. Übrig blieb nur ein einziges Haus ohne Fenster und Türen. Offensichtlich ist man noch nicht dazu gekommen, es abzureißen. Es scheint, als wäre es gestern gewesen, als uns die Bewohner hier ihre Lesosawoder Witze erzählten (“Ich weiß noch, früher, da konntest du hier keinen Ehemann hier herlocken. Bis zum Beginn des Stadtteils, und dann hieß es „Lebewohl“, wenn er aus der Stadt kam, das war’s“) – und jetzt? Brachland und Stille.
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Wie man uns geraten hat, begeben wir uns auf der Suche nach Neujahrsstimmung zur örtlichen Schule. Tatsächlich baut man hier eine kleine Stadt aus Eis.
Und vor dem Kindergarten sieht man einen geschmückten Tannenbaum.
Die Gefahren des Bermudadreiecks
Ein weiterer Außenbezirk Astanas trägt die Bezeichnung „804. Kilometer“. Er befindet sich zwischen zwei Eisenbahnstrecken.
Wer nicht weiß, dass dieses Wohngebiet Teil der Hauptstadt Kasachstans ist, würde es wahrscheinlich eher zu den Dörfern des Karagander Oblast (Verwaltungsgebiet, Anm. d. Red.) zählen.
„Nee, das ist nicht Astana, Astana sieht anders aus, das hab ich doch im Fernsehen gesehen“, schrieb ein Leser unter unsere Reportage über den „804. Kilometer“ (https://tengrinews.kz/fotoarchive/941/).
Die Anwohner nennen dieses Gebiet scherzhaft „Bermudadreieck“, da es erstens von beiden Seiten von Gleisen umgeben ist, und zweitens, da nicht alle Einwohner Astanas diesen Ort kennen, und selbst wenn jemand einmal hier hinkommen möchte, so findet er den Weg nicht auf Anhieb.
Im Frühjahr konnten wir trotz des Schlamms bis zu den Häusern zu Fuß laufen, aber jetzt, wo Schnee gefallen ist, schafften wir es nicht.
Die Bewohner des 804. Kilometers legen den Weg zu ihren Häusern gewöhnlich auf den Bahngleisen zurück – auf eigene Gefahr, denn hier fahren auch Schnellzüge.
Djusen Oralow weiß von den Gefahren auf den Schienen zu berichten: In den 90er Jahren ist er selbst unter den Zug gekommen. Ein Bein hat er verloren. „Es war Winter, ein Schneesturm, ich hatte einen Schafspelz an. Auf dem Nachbargleis fuhr ein Güterzug und so bin ich halt unter den Zug gekommen. Die Erste Hilfe war sofort zur Stelle. Ich bat sie, das Bein wieder anzunähen, aber sie sagten, das sei nicht möglich“, erzählt er. Jetzt läuft er mit einer Protese. Obwohl er Invalide ist, hat er eine Halbtagsarbeit gefunden – in der Gepäckaufbewahrung des Senioren- und Invalidenhauses. Zur Haltestelle läuft er zu Fuß.
“Es hat sich überhaupt nichts geändert. Die einzige Reaktion auf eure Reportage war, dass der Bezirksinspektor zu uns kam. Meinte, man hätte ihn von ganz oben geschickt, um die Lage in diesem sogenannten „Bermudadreieck“ zu begutachten. Er war schockiert, meinte, er hätte nicht mal gewusst dass es so einen Stadtteil überhaupt gibt. Und das war’s dann auch schon, danach wurde es wieder still, nichts hat sich geändert, alles ist wie immer“, erzählt eine Bewohnerin.
Die Menschen vom „804. Kilometer“ beschweren sich darüber, dass bei ihnen kein Schnee geräumt wird. „Heute musste unser Kind schon wieder durch Schneehaufen und auf den Schienen zur Schule laufen“, berichten Anwohner. „Ob wir in Neujahrsstimmung sind? Nicht wirklich. Manchmal vielleicht, die Kinder am Neujahrsmorgen oder so.“
Warten auf den Abriss
Im Wohngebiet „Promyschlennyj“ jedoch sieht man schon an den geschmückten Weihnachtsbäumen im Fenster, dass sich alle auf das Neue Jahr einstimmen.
Echte Tannen werden auch auf der Straße verkauft, 7000 Rubel kostet ein Baum. „Kommen Sie, wir werden uns schon einig“, sagt der Verkäufer, offensichtlich bereit zu preislichen Kompromissen.
Wir besuchen eine alte Baracke, die wir auch schon im Frühjahr besichtigten. Hier lebt immer noch Nasgul, Mutter von vier Kindern. Es hat sich nichts verändert, sagt sie. Und von Neujahrsstimmung ist auch bei ihnen keine Rede. „Ich habe dieses Jahr nicht mal einen Baum aufgestellt“, gibt sie zu.
Im Leben von Ruslan Tschumarow jedoch, mit dem wir beim vorigen Mal gesprochen haben, hat sich einiges verändert. Wie uns seine Mutter erzählt, hat er ein Studium in Sankt-Petersburg begonnen. Fachrichtung: Marketing.
„So lange ich hier lebe, so lange höre ich auch schon Gerüchte vom Abriss. Aber nichts passiert. Jetzt ist es gut hier, die Busse fahren“, berichtet uns eine Rentnerin.
In „Promyschlennyj“ sieht man auch Neubauten.
Auch bei stärkstem Frost gehen die Kinder draußen rodeln, wenn auch der Schneehügel nicht groß ist. „Ich freue mich schon sehr auf’s Neue Jahr“, erzählt die Viertklässlerin Angelina.
Positive Entwicklungen
Auch im Bezirk „Tschugunki“ sind die Fenster geschmückt. Auch von diesen Wohnheimen haben wir im alten Jahr bereits berichtet.
Leider waren einige dieser Gebäude damals in so traurigem Zustand, dass sie die Bezeichnung „Bruchbude“ tatsächlich mehr als verdienten.
Beim jetzigen Besuch tropfte es schon nicht mehr durch das Dach (allerdings war damals auch Frühling, jetzt Winter), und es scheint, als wäre die fünfte Etage, die damals komplett in Schutt und Asche lag, tatsächlich etwas sauberer geworden.
„Die haben sich da schon drum gekümmert, sind raufgegangen und haben alles gemacht, das ist doch ihr Eigentum“, erzählt unsere alte Bekannte Nadeschda Dimitriewna Onoprienko, ehemalige Vorsitzende der Wohnungsgenossenschaft, heute Hausmeisterin. „Ich will Ihnen mal eins sagen: Als hier die Privatisierung stattfand, war hier alles so gut wie kostenlos. Für einen Quadratmeter haben wir nur 290 Tenge gezahlt (heute umgerechnet 73ct, Anm. d. Red.). Alles andere ist dann die Verantwortung des Eigentümers. Und die sind nun auch gefragt, in ihr Eigentum zu investieren! Wofür sind denn sonst die 50.000 gedacht, die sie von ihren Mietern nehmen? Wir leben doch gut, das Wasser fließt, wir haben keine Zähler, also bitteschön, aber investieren muss man die eine oder andere Kopeke schon“, sagt sie.
„Schau doch, wie viele Menschen hier wohnen, was hier los ist! Wir sind mal ans linke Ufer gefahren, da ist überhaupt niemand. Wie leben sie da? Da sind die Türen verschlossen. Bei uns geht man ein und aus, alles ist offen. Die Kinder gehen ganz allein spazieren. Das ist doch gut, wenn viele Leute da sind. Früher sind alle aus „Tschugunki“ geflohen, und jetzt kommen alle wieder. Es gibt Licht, Wasser, keine Schlägereien“, erzählt die Frau.
Dann trifft sie auf der Straße eine fünffache Mutter, Alima. Sie bewohnt mit ihren Kindern ein Zimmer im örtlichen Wohnheim für 35.000 Tenge (ca. 88 Euro, Anm. d. Red.). Alimas Mann arbeitet als Wachmann. „Tolle Menschen, wirklich, das ist unsere Zukunft“, freut sich Nadeschda Dmitriewna. Alima jedoch erzählte uns, dass sie sich für das Mietzimmer verschuldet haben, und die Schulden nicht abbezahlen können, da ihr Mann seinen Lohn nicht bekam.
Hoffnung oder Verzweiflung?
Und noch eine mehrfache Mutter aus Tschugunki. Vor gar nicht allzu langer Zeit wäre diese Familie fast obdachlos geworden – aus demselben Grund.
„Man hat sie aus der Wohnung geworfen, in der sie wohnten. Ich ging gerade über die Straße und sah sie da stehen mit den Kindern und den ganzen Sachen, und frage „Warum sind Sie hier?“ und sie sagt: „Ich wurde rausgeworfen“. Ich fragte „Wer hat Sie rausgeworfen?“ Hier genau saß sie, die Ärmste“, erzählt Nadeschda Dmitriewna. Sie gab der Mutter mit ihren Kindern dieses Zimmer, was zu dem Moment gerade leer stand.
„Ich habe in einer Mietwohnung gewohnt und konnte nicht zahlen, mein Kind war damals gerade krank. Die Verwandtschaft hat geholfen, aber irgendwann konnten sie auch nicht mehr. Deshalb musste ich dann eine Nacht mit den Kindern auf der Straße schlafen“, erzählt Dametken Kurmanbekowa.
Die Mutter von fünf Kindern arbeitet als Ticketverkäuferin im Bus. Am Tag verdient sie 3000-4000 Tenge (ca. 8-10 Euro, Anm. d. Red.). Ihr Ex-Mann zahlt Alimente – 10.000 Tenge (ca. 25 Euro, Anm. d. Red.). „Sein Vater schickt das Geld, er sagt, er lebt im Sowchos, da gibt es keine Arbeit“, erklärt sie. Momentan ist sie krank und geht nicht zur Arbeit.
„Und wo gibt es bei Ihnen in Tschugunki einen Weihnachtsbaum oder ein paar Eisskulpturen?“, fragen wir Nadeschda Dmitriewna. „Früher, als ich Vorsitzende war, hab ich mich um die Tanne gekümmert. Jetzt haben wir das noch nicht gemacht, und werden vielleicht auch keine aufstellen. Es hat doch jeder in seiner Wohnung eine“, sagt sie. „Und sind sie in Neujahrsstimmung?“, fragen wir. „Na aber sicher! Die Hauptsache ist, dass alles funktioniert – Wasser, Licht. Das ist das, was mir wichtig ist“, antwortet uns die Hausmeisterin. „Davon abgesehen bin ich natürlich schon in Neujahrsstimmung. Die Bäume sind ja schon in allen Fenstern zu sehen“, betont die Rentnerin optimistisch.
„Wie man so schön sagt: Weine nicht, dass kein Essen da ist, weine, dass keine Leute da sind. Stimmt doch, oder, mein Söhnchen?“, meint sie. Und schlägt dann plötzlich vor: „Zieht doch um zu uns“.
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Diejenigen jedoch, die tatsächlich Neujahrsatmosphäre schnuppern möchten, sollten versuchen, auf das Gelände der ehemaligen EXPO-Ausstellung zu fahren. In den Tagen um das Neue Jahr herum fühlt man sich hier wie im Märchen. Einfach fantastisch. Ein vollkommen anderes Astana.
Text: Renat Taschkinbaew, Fotos: Turar Kasangapow
Tengrinews.kz
Aus dem Russischen von Katharina Kluge
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