Startseite      „Eine eklatante Manifestation von Russophobie“ – Kasachstan im Epizentrum eines Informationskriegs

„Eine eklatante Manifestation von Russophobie“ – Kasachstan im Epizentrum eines Informationskriegs

In Bezug auf Russlands Krieg in der Ukraine nimmt Kasachstan eine neutrale Position ein, ohne aber Freiwillige daran zu hindern, die Entsendung humanitärer Hilfe in die Ukraine zu organisieren. Einzelne empörte Äußerungen Russlands darüber entwickelten sich schließlich zu einer gezielten (Des)Informationskampagne, der sich auch Journalist:innen anschlossen.

In Bezug auf Russlands Krieg in der Ukraine nimmt Kasachstan eine neutrale Position ein, ohne aber Freiwillige daran zu hindern, die Entsendung humanitärer Hilfe in die Ukraine zu organisieren. Einzelne empörte Äußerungen Russlands darüber entwickelten sich schließlich zu einer gezielten (Des)Informationskampagne, der sich auch Journalist:innen anschlossen.

Kürzlich kamen drei Krankenwagen aus Kasachstan in der Ukraine an. Der Telegram-Kanal „Ateo Breaking“ berichtete, dass die Autos von den Behörden des zentralasiatischen Landes geschickt worden seien, um jenem Land zu helfen, in dem Russland eine „militärische Spezialoperation“ durchführt. Nur-Sultan [mittlerweile wieder Astana, Anm. d. Red.] hat mit dieser Aktion jedoch nichts zu tun. Die Autos wurden von kasachstanischen Geschäftsleuten finanziert, wie das ukrainische Gesundheitsministerium und die ukrainische Botschaft in Kasachstan mitteilten. Den Transport in die Ukraine übernahmen die NGOs „Ukrainian American House“ und „Initiative E+“ sowie die Viktor-Pintschuk-Stiftung.

Ukraine-Solidarität von unten

Von Beginn der „Spezialoperation“ an gingen die kasachstanischen Behörden auf Distanz zu den Konfliktbeteiligten. Der stellvertretende Verteidigungsminister Sultan Qamaletdinov äußerte sich zu diesem Thema sehr deutlich: „Wir unterstützen keine Seite. Diesbezüglich kann es keine Fragen geben.“ Allerdings teilen nicht alle Kasachstaner:innen diese Sichtweise. Seit Beginn des Krieges haben Hunderte von Freiwilligen und Enthusiast:innen über die ukrainische Botschaft in Kasachstan humanitäre Hilfe in bedürftige Gebiete geschickt und Spenden für die Opfer gesammelt.

Wichtig ist hier zu betonen, dass es sich um Bürgerinitiativen handelt und nicht um einen von oben lancierten Verteilungsauftrag der Behörden. Aufnahmezentren sind in elf Städten tätig: in Qaraģandy, Oral, Semeı, Óskemen, Aqtaý, Túrkistan, Atyraý, Ekibastuz, Aqtóbe, Almaty und Nur-Sultan.

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Anfang Juni schickten Kasachstaner:innen mit mehreren Flügen und elf Lastwagen humanitäre Hilfe mit einem Gesamtgewicht von über 200 Tonnen in die Ukraine – darunter Körperpflegeprodukte, Lebensmittel, Medikamente und mehr. In Kasachstan selbst werden Konzerte zur Unterstützung der Ukraine organisiert, die aber die lokalen Behörden eher verunsichern, als dass sie von ihnen gefördert werden. Bei einem Benefizlauf am 24. August sollten Gelder gesammelt werden, um Schulen im Gebiet Tschernihiw wiederaufzubauen.

Das offizielle Nur-Sultan mischt sich nicht besonders in diese Aktivitäten ein. Im Frühjahr schickten die Behörden selbst drei Sonderflüge mit Medikamenten, Lebensmitteln und Bettzeug in die Ukraine, dabei blieb es aber auch. Im Alltag versucht die Staatsführung, ein Gleichgewicht zu wahren – einerseits verbietet sie Kundgebungen zur Unterstützung der Ukraine, andererseits wird man für Aufkleber mit den Buchstaben Z und V – Symbolen zur Unterstützung der „Spezialoperation“ – zur Verantwortung gezogen.

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Je länger die „Spezialoperation“ dauert, desto schwieriger wird es aber, das Gleichgewicht zu halten. Zudem machte der „große Nachbar“ zuletzt immer deutlicher, dass er von Kasachstan eine ganz andere Haltung gegenüber dem militärischen Konflikt erwartet. Im Frühjahr wurden bekannte Medienpersönlichkeiten für diese Zwecke eingesetzt, die Nur-Sultan russophobe Politik und Verrat vorwarfen. Jetzt haben sich Dutzende beliebter Telegram-Kanäle der (Des)Informationskampagne (Anm. d. Red.: in der Originalfassung des Artikels ist von „Informationskampagne“ die Rede) angeschlossen und veröffentlichen fast täglich entweder glatte Lügen oder verzerrende Informationen, die die russischen Medien ohne Überprüfung übernehmen.

So wurden auch die eingangs erwähnten Krankenwagen von der staatlichen Onlinezeitung Gazeta.ru aufgegriffen. Auf Twitter verbreitete Gazeta.ru, dass die Fahrzeuge nicht nur von Kasachstans Behörden geschickt worden seien, sondern auch für die ukrainischen Streitkräfte bestimmt wären.

Angebliche Waffenverkäufe

Eine weitere Nachricht behauptet, dass Kasachstan Waffen an das Vereinigte Königreich verkaufe, die dann an die Ukraine geliefert werden würden. Die entsprechenden Dokumente wurden Anfang August von der pro-russischen Hackergruppe Beregini veröffentlicht. Der Deal wurde angeblich durch die Vermittlung des Unternehmens „Technoexport“ durchgeführt. Zuerst wanderten diese „Nachrichten“ auf russischen Telegram-Kanälen umher, dann wurden die Medien darauf aufmerksam.

Kasachstans Ministerium für Industrie und Infrastrukturentwicklung dementierte sofort und teilte mit, dass es weder „Technoexport“ noch sonst jemandem eine Lizenz zum Export von Waffen nach Großbritannien erteilt habe. Auch die in einem solchen Fall notwendige Genehmigung für die Wiederausfuhr von Waffen sei nicht erteilt worden. Es scheint, dass das Thema abgeschlossen wäre, aber nein. Der Telgram-Kanal „Rybar“ bezeichnete die Aussage des Ministeriums als „ohne Grundlage“ und stellte nach „Wühlen“ in den Technoexport-Dokumenten fest, dass das Unternehmen über die erforderlichen Lizenzen und Genehmigungen verfüge.

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„Egal, ob die offiziellen Vertreter der kasachischen Regierung zu ihrer Verteidigung behaupten, dass sie ohne die Erlaubnis des Herstellers, also Russlands, keine sowjetischen Waffen exportieren können – sie tun dies mit aller Kraft hinter verschlossenen Türen“, so die Autor:innen des Kanals mit mehr als einer halben Million Abonnent:innen. Das heißt, nicht die russischen Strafverfolgungsbehörden, nicht die Führungsstrukturen, nicht einmal die Redaktionen irgendwelcher Medien, sondern ein anonymer Telegram-Kanal beschuldigte die kasachstanischen Behörde direkt der Lüge, wohlwissend, dass sie dafür nicht belangt werden würde.

„Wilde Mambets“

Nach einem ähnlichen Prinzip entwickelte sich eine für Kasachstan schmerzhafte Geschichte über Gewalt gegen Kinder. Eine Gruppe von Teenagern missbrauchte in Almaty zwei Brüder im Alter von vier und neun Jahren und zwang sie zu gegenseitigem Oralsex. Die Mutter der Jungen wandte sich an die öffentliche Stiftung NeMolchi.kz und Journalist:innen, um Hilfe zu erhalten und schrieb auch eine Erklärung an die Polizei.

Später erschien jedoch ein Video mit ihr auf dem Telegram-Kanal „Mnogonational“ unter dem Titel „In Kasachstan zwangen wilde Mambets [ein verbreiteter Name, der im Jugend-Slang für unkultivierte, ungebildete Menschen zentralasiatischer Herkunft verwendet wird, Anm. d. Red.] kleine russische Kinder […], auf dem Spielplatz Oralsex zu machen, und filmten alles mit der Kamera“. Das Thema wurde vom russischen TV-Sender Tsargrad aufgegriffen, der „einen weiteren Fall eklatanter Manifestation von Russophobie in Kasachstan“ ankündigte. „Diesmal haben die Russlandhasser ihre schmutzigen Taten auf die Spitze getrieben – russische Kinder haben gelitten“, hieß es in einer Mitteilung des Senders, auf die später von anderen russischen Medien verwiesen wurde.

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Hier trat die Mutter der Opfer mit einer Gegendarstellung hervor. Die Frau nannte die Veröffentlichungen eine Provokation. „Alle an dem Vorfall Beteiligten sind europäischer Nationalität und man darf dem keine interethnische Färbung geben. Ich lebe seit meiner Geburt in Kasachstan und habe viele Freunde anderer Nationalitäten. Wir alle leben in Frieden“, betonte sie.

Wer für diese Provokation zur Verantwortung gezogen wird, bleibt offen. Denn auch der Telegram-Kanal „Mnogonational“, der als erster von „wilden Mambets“ sprach, ist anonym. Vielmehr traten die Autor:innen des Kanals nach und behaupteten, dass die Mutter der Kinder gezwungen worden sei, die Gegendarstellung aufzuschreiben. Beweise dafür lieferten sie natürlich nicht.

Das heikle Thema der Sprache

Die russische, regierungsfreundliche Öffentlichkeit hat noch ein weiteres heikles Thema in den Beziehungen zwischen beiden Ländern aufgegriffen – die Sprache. Anfangs wurden in sozialen Netzwerken Botschaften verbreitet, dass die Klassen mit russischsprachigem Unterricht in den nächsten sechs bis sieben Jahren aus Kasachstans Schulen verschwinden würden. Medien wie Glas.ru und Tsargrad berichteten darüber. Wie sich herausstellte, beriefen sie sich auf einen zwei Jahre alten Beitrag des kasachischen Kanals 31 und verzerrten dessen Essenz.

Kasachstans Bildungsministerium dementierte diese Fake News, aber einige Tage später tauchte das Problem der russischen Sprache in den Schulen erneut auf. Nach einer Erklärung von Bildungsminister Ashat Aımaģambetov am 16. August verbreitete sich in sozialen Netzwerken und Telegram-Kanälen die Nachricht, dass ab 2022 in Kasachstan Schulkinder der ersten Klasse kein Russisch mehr lernen werden, während das Erlernen der kasachischen Sprache für alle Erstklässler obligatorisch bliebe. Tatsächlich sprach der Minister nur über Schulen mit Kasachisch als Unterrichtssprache, was in einer Reihe von Medien bewusst nicht wiedergegeben wurde. Staatliche Agenturen (insbesondere TASS) und große russische Medien gaben die korrekte Version der Nachrichten weiter, aber allein, welche Aufmerksamkeit sie erregte, überrascht.

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Im Übrigen sagte Minister Aımaģambetov Anfang Juni in einem Interview mit Nur.kz genau das Gleiche: Es sei für Kinder schwierig, ab der ersten Klasse mit dem dreisprachigen Unterricht zu beginnen, deshalb habe man beschlossen, Sprachen stufenweise für die Grundschulklassen einzuführen. „Wir haben eine Entscheidung zu diesem Thema getroffen und arbeiten bereits daran, dass das Kind in Schulen mit kasachischer Unterrichtssprache in der ersten Klasse nur eine Sprache lernt: Kasachisch. Das heißt es lernte zuerst Lesen und Schreiben in seiner Muttersprache. In der zweiten Klasse kommt die russische Sprache ins Programm und in der dritten Klasse Englisch“, sagte erklärte der Minister. Hat sich damals irgendjemand in den russischen Medien dafür interessiert? Nein.

Eine (Des)Informationskampagne

Alle genannten Materialien sind nur jene, die in den letzten zwei Wochen [vor dem 20. August, Anm. d. Red.] eine gewisse Resonanz hatten. Außerdem gab es einen gelöschten Post des ehemaligen Präsidenten, jetzt stellvertretenden Vorsitzenden des Sicherheitsrates der Russischen Föderation, Dmitrij Medwedew im sozialen Netzwerk Vkontakte. In diesem behauptete er, dass Kasachstan ein „künstlicher Staat“ sei, dessen Behörden eine Politik des „russischen Völkermords“ verfolgen würden (der Post wurde 10 Minuten nach der Veröffentlichung gelöscht und vom Pressedienst von Vkontakte sowie von Medwedew selbst durch Hacking erklärt).

Hinzu kommt eine große Anzahl von Fälschungen auf Telegram-Kanälen und öffentlichen Websites, wie zum Beispiel, dass kasachische Kinder einen russischen Jungen in Nur-Sultan getötet hätten. Die Nachricht wird von einem Video eines Kampfes im letzten Jahr begleitet, bei dem niemand getötet wurde). Ihre Zahl ist in letzter Zeit so stark gewachsen, dass man von einer geplanten (Des)Informationskampagne sprechen kann.

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Offizielle Vertreter:innen Russlands bestreiten dies kategorisch. Präsident Wladimir Putin hat Kasachstan wiederholt als „strategischen Partner“ bezeichnet, sein Pressesprecher nannte das Land einen „befreundeten Staat“. Am 19. August traf Kasachstans Staatschef Qasym-Jomart Toqaev zu einem Treffen mit Wladimir Putin in Sotschi ein. Bei dem Treffen umarmten sich die Präsidenten.

Später sagte Toqaev, er sei zufrieden mit der Entwicklung der Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern. „Uns verbindet eine gemeinsame Grenze – die längste vollständig abgegrenzte Landgrenze der Welt. Für pessimistische Prognosen über die Zukunft unserer Zusammenarbeit gibt es natürlich keinen Anlass! Als Präsident der Republik Kasachstan bin ich persönlich entschlossen, unserer bilateralen Zusammenarbeit in allen Bereichen zusätzliche Impulse zu geben“, wird Toqaev auf der Webseite der Präsidialverwaltung zitiert.

Fergana News

Aus dem Russischen von Robin Roth

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