Während Usbekistan in Bezug auf die Frauenrechte einen großen Sprung nach vorne gemacht hat, indem die Strafbarkeit häuslicher Gewalt gesetzlich verankert wurde, hat das Land bei der strafrechtlichen Verfolgung von Sexualverbrechen noch einen weiten Weg vor sich. Jüngste Fälle, nach denen Vergewaltiger milde Strafen erhielten, machen das Thema umso aktueller.
Alles begann im Jahr 2021 in einem Waisenhaus in Urganch, wo junge Mädchen über zwei Jahre lang wiederholt vergewaltigt wurden. Die Vergewaltigungen wurden von Mitarbeitern des Justizministeriums und des Ministeriums für Notsituationen in Usbekistan begangen. Der Fall wurde im März von einer Informationsplattform über Gewalt gegen Frauen in Usbekistan, Nemolchi (Russisch für „Schweig nicht!“), aufgedeckt und sorgte im ganzen Land für Schlagzeilen. Ziel dieses Projekts ist es, die Bevölkerung über gewalttätiges Verhalten gegenüber Frauen aufzuklären und eine Gesellschaft ohne Misshandlungen zu fördern.
Die in der Region Xorazm gelegene Kinderbetreuungseinrichtung zwang mehrere minderjährige Mädchen zu sexuellen Gefälligkeiten mit Ministerialangestellten. Die Leiterin der Einrichtung sah eine Verdienstmöglichkeit in den Mädchen und tauschte die sexuellen Dienste der jungen Waisen unter anderem gegen Möbel oder Lebensmittel ein. Leisteten die Mädchen Widerstand, zögerte die Leiterin nicht, Gewalt anzuwenden. Ein 15-jähriges Mädchen, das nicht zu solchen Handlungen gezwungen werden wollte, musste mit ansehen, wie ihr Bruder mit einem Nudelholz geschlagen wurde, um sie zum Nachgeben zu bewegen, berichtet Current Time.
Die sexuellen Handlungen fanden in einer Wohnung statt, die „dem Justizministerium als Dienstwohnung für Angestellte zugewiesen wurde“, berichtet Nemolchi. Die Wohnung war über zehn Monate lang in eine regelrechte „Plattform für sexuelle Beziehungen zwischen dem Regionalleiter und minderjährigen Mädchen“ verwandelt worden. Bei der Gerichtsverhandlung im September 2022 widerlegten die Angeklagten vollständig die Tatsache, dass die Mädchen nicht einwilligungsfähig waren. Sie behaupteten, dass „niemand die Mädchen zum Geschlechtsverkehr gezwungen habe“, berichtet Current Time.
Machtmissbrauch durch Beamte
Dieser Fall ist umso schwerwiegender, als es sich bei den Verantwortlichen um Beamte mit hohen Positionen in der Verwaltung handelt. Zu den Schuldigen gehören etwa der ehemalige Leiter des Notdienstes der Region Yangiariq, Anvar Kuriazov, oder der Leiter des Justizministeriums und Mitglied der nationalen Kommission zur Bekämpfung von Menschenhandels und Zwangsarbeit, Aibek Masharipov. Diese hochrangigen Beamten, die Kinder eigentlich schützen sollten, missbrauchten ihre Macht. „Niemand hat sich gefragt, ob die Mädchen eine freie Wahl hatten“, betont Nemolchi.
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Die gegen die Vergewaltiger verhängten Strafen waren mild und bewirkten, dass die Opfer gegenüber dem Recht noch mehr verunsichert wurden. In obgenanntem Fall verurteilte der Richter die Heimleiterin zu fünfeinhalb Jahren Haft und die Vergewaltiger zu einem Ausgehverbot von 22 Uhr abends bis 6 Uhr morgens. Außerdem müssen sie eineinhalb Jahre in der Region bleiben, berichtet das usbekistanische Medium Gazeta.
Dies ist eine milde Strafe angesichts der Verbrechen, die sie begangen haben. Wie Aziz Abidov, Pressesprecher des Obersten Gerichtshofs von Usbekistan, auf Telegram mitteilte, wurde gegen das Urteil am 3. April Beschwerde eingelegt.
Das gesetzliche Mindestalter vom Tisch gewischt
Das Strafgesetzbuch der Republik Usbekistan verbietet ausdrücklich „sexuelle Beziehungen mit einer Person unter 16 Jahren“. Diese gesetzliche Schwelle wird jedoch von hohen Beamten mit einem Handstreich beiseite gewischt. „Leider glauben selbst unter den Angestellten der Abteilungen viele, dass es verdorbene minderjährige Mädchen gibt […], und sie wollen Sex. […] Niemand will hören, dass das Alter für die Zustimmung in unserem Land 16 Jahre beträgt“, erklärt Nemolchi.uz.
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Dieser Vergewaltigungsfall ist bei weitem kein Einzelfall. Auch eine 13-jährige Waise wurde von ihrem Adoptivvater in der Provinz Qashqadaryo missbraucht. Der Prozess fand am 7. April statt, berichtet das Medium Vnews.
Vergewaltigungen, aber auch Verbrechen erschüttern die Familiensphäre in Usbekistan. Im März sorgte ein Kriminalfall, in den der Sänger Dilmurod Daliev verwickelt war und der mit dem Mord an seiner Konkubine endete, für Aufruhr, so Gazeta.uz. Zur gleichen Zeit verabschiedete das Unterhaus einen Gesetzentwurf zur Aufnahme häuslicher Gewalt ins Strafgesetzbuch, berichtet MediaZona. Damit wird Usbekistan gemäß Amnesty International das fünfte Land in Osteuropa und Zentralasien, das häusliche Gewalt unter Strafe stellt.
In Usbekistan ist die Objektifizierung der Frau als Sexualobjekt weit verbreitet und die Verantwortung für sexuelle Übergriffe wird häufig der Frau zugeschrieben. In einem weiteren Sinne ist häusliche Gewalt in den Sitten verankert und Frauen sprechen nicht darüber, so The Diplomat. Ehefrauen haben in der Regel Angst vor ihren Ehemännern und erleiden die Gewalt im stillen Kämmerlein, da sie es vorziehen, das Geheimnis bis in die Familiensphäre hineinzuwahren.
Charlayne Vilmer, Redakteurin für Novastan
Aus dem Französischen von Michèle Häfliger