Startseite      „In der Liste enthalten“: Die Suche nach im 2. Weltkrieg vermissten Soldaten aus Zentralasien

„In der Liste enthalten“: Die Suche nach im 2. Weltkrieg vermissten Soldaten aus Zentralasien

Während des Zweiten Weltkriegs zogen mehrere Hunderttausend Einwohner der damaligen zentralasiatischen Sowjetrepubliken an die Front. Viele starben oder gelten bis heute als vermisst. An den Kriegsschauplätzen versuchen Wissenschaftler und Freiwillige bis heute, die Identität ehemaliger Soldaten zu bestimmen. Genau hierfür setzt sich die 2019 gegründete kasachstanische Stiftung „Atamnyn Amanaty“ ein. Aliıa Sagimbaeva, die Gründerin der Organisation, berichtete Fergana News von dessen noblem Unterfangen.

Die Stiftung „Atamnyn Amanaty“ sucht nach Gefallenen des 2. Weltkriegs, Photo: Aliıa Sagimbaeva

Während des Zweiten Weltkriegs zogen mehrere Hunderttausend Einwohner der damaligen zentralasiatischen Sowjetrepubliken an die Front. Viele starben oder gelten bis heute als vermisst. An den Kriegsschauplätzen versuchen Wissenschaftler und Freiwillige bis heute, die Identität ehemaliger Soldaten zu bestimmen. Genau hierfür setzt sich die 2019 gegründete kasachstanische Stiftung „Atamnyn Amanaty“ ein. Aliıa Sagimbaeva, die Gründerin der Organisation, berichtete Fergana News von dessen noblem Unterfangen.

Fergana News: Wie entstand die Idee, eine Stiftung zu gründen?

Aliıa Sagimbaeva: Die Idee entstand 2006 infolge meiner ersten Arbeitserfahrung als Genealogin und psychologische Beraterin. Ich interessiere mich also nicht nur für das Leben der Patienten selbst, sondern auch für das seiner Familie, seiner Vorfahren und deren Stämme. Kaum hatte ich mit der Beratung begonnen, stellte ich fest, dass die Vorfahren vieler Kasachstaner im Krieg gekämpft haben. Es geht dabei um knapp 80 Prozent der Gesamtbevölkerung.

Als ich tiefer in die Materie einstieg, wurde mir eines bewusst: Bis heute warten Kinder, Enkel und Urenkel der im Krieg Verschwundenen auf Informationen über ihre Vorfahren. In der Psychologie nennt man dies ein Gestaltthema, das geschlossen werden muss. Bei diesem Phänomen handelt es sich um ein kollektives Trauma fast aller Völker des postsowjetischen Raums, darunter auch die Kasachstaner. Und nicht nur der Staat in diesem Thema etwas ins Rollen bringen kann, machten wir uns als Ehrenamtliche an die Arbeit.

Sicher hatten Sie auch persönliche Motive?

Mein Großvater mütterlicherseits, Turlubek Ilbisinov, war Kriegsveteran. Bei der Verteidigung Leningrads kam er mit Verletzungen davon. Als schließlich meine Klienten von ihren Vätern und Großvätern erzählten, begriff ich, dass mir ein Detail lange entgangen war: Mein Großvater auch dank seiner Gefährten überlebt. Darum trage ich allen Gefallenen gegenüber eine Schuld und bin Ihnen zu Dank verpflichtet.

Wie kam es schließlich zur Gründung von „Atamnyn Amanaty“?

Vor 13 Jahren traf ich Professor Maidan Kuzainov. Er war einer der ersten Wissenschaftler, die in den 80er Jahren mit der Suche nach Verstorbenen begonnen hatte und bis heute überaus aktiv dabei ist. Ob bei der Recherche im Archiv, auf Ausgrabungen ehemaliger Schlachtfelder oder als Dozent an der Universität – Kuzainov ist hier nicht wegzudenken, und das trotz seines hohen Alters. Unserer Stiftung half er besonders bei der Systematisierung unserer Arbeit.

In Kasachstan, Usbekistan, Kirgistan und Russland gibt es eine ganze Reihe Ehrenamtliche, die in Gruppen oder auf eigene Faust auf die Suche gehen. Um ihnen eine Anlaufstelle zu bieten, beschlossen wir, einen öffentlichen Verein zu gründen und ihn „Atamnyn Amanaty“ zu nennen. Das Wort „Amanat“ ist bei den Turkvölkern mit großer Bedeutung aufgeladen: Es bezeichnet einerseits eine Pflicht, als auch einen Eid und eine Verpflichtung den älteren Generationen gegenüber.

Wie stand es um die Suche nach Gleichgesinnten?

Unser Netzwerk von Freiwilligen ist zahlenmäßig überschaubar, aber es ist zuverlässig. Einige kannte ich bis zur Gründung als Kunden oder Kollegen, unter uns sind also auch einige Genealogen. Anfangs warben wir vor allem Leute für die Archivarbeit an, mittlerweile haben wir da ein gutes Dutzend. Sie kommen aus Kasachstan, aber auch aus Tatarstan und anderen Teilen Russlands. Alle arbeiten in ihrer Freizeit, oft nachts oder am Wochenende. Wir möchten lokal verankert sein, deshalb freuen wir uns, nun in fast jeder Region unseres Landes Vertreter zu haben.

Eine Anekdote am Rande: Wir bitten oft bei Beamten oder Großunternehmern um finanzielle Unterstützung. Da habe ich etwas Spannendes beobachtet: Haben ihre Vorfahren im Krieg gekämpft, lässt die Förderung nicht lange auf sich warten. Taten sie das nicht, geht das Interesse gen Null.

Wie ist Ihre Arbeit organisiert?

Auf unseren Accounts in den sozialen Netzwerken steht ein Formular zum Download. Ist man auf der Suche nach einem vermissten Verwandten, füllt man es aus, schickt es uns, woraufhin wir es prüfen und unsere Forscher auf dieser Basis mit der Suche beginnen. Nach heutigem Stand sind etwa 9000 Anträge bei uns eingegangen. Der Großteil der Antragsteller stammt aus Kasachstan, aber auch aus Tatarstan, dem Altai, dem Kaukasus, Usbekistan und Kirgistan. Doch die Herkunftsländer sind zweitrangig, damals war es ein Staat, und außerdem sind unsere Großväter nicht schuld daran, dass ihr Land in den Krieg zog.

Nachdem wir uns mit dieser Tätigkeit einen Namen gemacht hatten, wartete schon die nächste Aufgabe auf uns: Botschaften, Regierungsstellen und unabhängige ehrenamtlich organisierte Suchteams aus Russland, der Ukraine, Belarus, Bulgarien und Deutschland klopften bei uns an. Wir erhielten Listen mit Namen vermisster Soldaten, die in Massengräbern oder Konzentrationslagern begraben lagen oder die man anhand eines Abzeichens identifiziert hatte.

Lest auch auf Novastan: Wie Usbekistan zu Zeiten des Zweiten Weltkriegs für Juden aus der UdSSR zum gelobten Land wurde

Wir suchen dann ihre direkten oder indirekten Nachkommen und informieren sie über den Bestattungsort ihres Vorfahren. Sind die sterblichen Überreste schon überführt, organisieren wir die Beerdigung im Heimatland. Kurz, wir nehmen nicht nur individuelle Suchanträge an, sondern sind auch Mittler für solche, die noch keinen gestellt haben, über dessen Vorfahren jedoch schon etwas vorliegt.

Die übergenaue Aktenführung der Deutschen ist unseren Landsleuten dabei eine enorme Hilfe. Ob Dokumente, Briefe oder Fotos von Kriegsgefangenen – alles ist bis ins Detail nachzuverfolgen.

Wer unterstützt Sie bei dieser harten Arbeit?

Wir stehen in engem Kontakt mit russischen und belarusischen Suchdiensten. Es wird Sie nicht wundern, dass unsere ukrainischen Partner derzeit nicht in der Lage sind, die anderen Freiwilligen zu unterstützen, die aus Polen, Deutschland, Belgien und Norwegen aktiv mit uns zusammenarbeiten. Außerdem stützen wir uns auf persönliche Kontakte. In Zentralasien sind wir allerdings die einzige Stiftung solcher Art.

Unterstützung erfahren wir nicht zuletzt auch auf diplomatischer Ebene. 2019 trafen wir die Botschafter einiger Länder, die am Zweiten Weltkrieg beteiligt waren. Ein besonders fruchtbarer Dialog kam mit den bulgarischen, finnischen und norwegischen Vertretern zustande. Für ihre rege Unterstützung sind wir sehr dankbar. Das gleiche gilt für die Kooperation mit dem kasachischen Außenministerium.

Arbeiten andere staatliche Stellen bereitwillig mit dem Fonds zusammen?

Es war unglaublich mühsam und ermüdend, bei den staatlichen Stellen Überzeugungsarbeit zu leisten. Seit wir diese anfängliche Hürde hinter uns gelassen haben, kennt und unterstütz man uns auf staatlicher wie regionaler Ebene. Doch das ist kein Vergleich zu den Bedingungen in Russland, wo das Verteidigungsministerium eine eigene Abteilung für die Suche nach Vermissten aufweist. Ähnliche Versuche auf kasachischer Seite führten bislang ins Leere. Was nicht heißen soll, dass unser Verhältnis zum Verteidigungsministerium schlecht wäre, im Gegenteil – sie helfen beispielsweise beim Transport der Überreste der Soldaten, wodurch wir in den letzten fünf Jahren schon 19 von ihnen in ihrer Heimat begraben konnten. Nichtsdestotrotz ist noch viel Luft nach oben. Aktuell wünschen wir uns beispielsweise einen Zuschuss für eine zweite Website, auf der wir die Daten erfolgreicher Suchaktionen veröffentlichen.

Welche Früchte hat die Arbeit der Stiftung bislang hervorgebracht?

Wir haben etwa 9000 Anträge erhalten, auf Basis derer wir über 3000 Soldaten und Offiziere aus den damaligen zentralasiatischen Sowjetrepubliken finden konnten. Eine Hürde stellen dabei oft Namen, die in einer der Turksprachen angegeben waren, denn sie wurden in dieser Zeit meist entstellt. Die sowjetischen Behörden hatten hier ein großes Chaos angerichtet. So kommt es, dass Eigennamen oft unverständlich sind: Bezeichnet „Turkestan“ eine Stadt, eine kasachstanische Region oder nun doch Turkmenistan?

Erzählen Sie uns von einer beispielhaft erfolgreichen Suche nach vermissten Soldaten aus einer der zentralasiatischen Nachbarrepubliken Kasachstans.

In Usbekistan waren unsere Bemühungen schon einige Male erfolgreich. So konnten wir beispielsweise die sterblichen Überreste eines aus Buchara stammenden Soldaten finden. Da ich dort sehr verankert bin, waren ein paar enge Bekannte in die Suche miteinbezogen. Später stellte sich heraus, dass die Nachkommen des Gefallenen vor langer Zeit nach Russland ausgewandert waren, wobei der Kontakt zu ihren ehemaligen Nachbarn nach wie vor besteht. Deren Hilfe war für uns unverzichtbar.

Lest auch auf Novastan: Ohne Vergangenheit – In Kasachstan werden weiter alte Gräber zerstört

In Kasachstan können wir von Glück sprechen, dass unser Verteidigungsministerium eine konkrete Zahl von 271.503 Vermissten nennt. Anderswo fehlt diese quantitative Basis. Erschwerend kommt hinzu, dass es zu Sowjetzeiten die unausgesprochene Anweisung gab, die Vermissten als Verräter zu betrachten. Statt sich also als Angehöriger des Feindes zu erkennen zu geben, verwischte man die Spuren lieber.

Mit welchen anderen Schwierigkeiten sehen Sie sich konfrontiert?

Einen Antrag bei uns zu stellen, birgt keine Erfolgsgarantie. Wenn unsere Spur ins Leere führt oder wir, umgekehrt, die Antragsteller über den Tod im Konzentrationslager oder durch Todesstrafe in Kenntnis setzen müssen, beginnt für uns eine Art psychologische Betreuung.

Sicher ist jede Geschichte auf ihre Weise einzigartig. Könnten sie dennoch ein, zwei außergewöhnliche Fälle schildern?

Es gibt so viele, wir könnten ganze Filme darüber drehen. Einmal suchte ein Mann nach seinem Großvater. Als der Suchtrupp herausfand, dass dieser in Kolpino, einer Stadt im Geniet Leningrad, vermisst wurde, stießen sie auf vier große Massengräber zu je drei- bis viertausend Menschen. Da erinnerte sich plötzlich eine unserer Freiwilligen an eine Anmerkung des Antragstellers im Formular, dort war vermerkt: „Mein Opa ist mir letztens im Traum begegnet. Er sagt, wenn wir ihn nicht gleich finden, sollten wir nach Zubov suchen.“ Und tatsächlich – in einem der Gräber lag der Gesuchte mit ebendiesem Nachnamen. Das war beinah mystisch.

In Kolpino stießen wir auch auf zwei ehemalige Soldaten aus Kasachstan. Ihre Kinder hatten in den Nachkriegsjahren geheiratet und gemeinsam den Suchantrag gestellt. Dabei stießen wir unverhofft auf Dokumente, die nicht nur von dem gemeinsamen Kampf der Großväter an der Front zeugten, sondern auch von einer tiefen Freundschaft.

Wo stoßen Sie mit Ihrer Tätigkeit auf negative Resonanz?

Wir waren einmal einer ganzen Welle von Hasskommentaren in den sozialen Netzwerken ausgesetzt. Doch das blieb ein Einzelfall.

Es gibt ein den Turksprachen gemeines Sprichwort, das besagt: „Solange die Seele des Verstorbenen nicht ruht und die Lebenden ihm nicht gedenken, bleibt der Wohlstand ihnen verwehrt“. Dieses Sprichwort ist bei uns Programm: Unsere Suche endet erst, wenn auch der letzte Vermisste gefunden ist.

Weitere Bilder findet ihr im Originalartikel.

Fergana News

Aus dem Russischen von Arthur Siavash Klischat

Noch mehr Zentralasien findet ihr auf unseren Social Media Kanälen: Schaut mal vorbei bei Twitter, Facebook, Telegram, Linkedin oder Instagram. Für Zentralasien direkt in eurer Mailbox könnt ihr euch auch zu unserem wöchentlichen Newsletter anmelden.

Kommentare

Your comment will be revised by the site if needed.