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„Goliath“ – eine Parabel der Macht

Mit seinem neuen Film „Goliath“ führt Regisseur Ádilhan Erjanov sein Publikum erneut in die Weiten der kasachstanischen Steppe. Der Rachewestern feierte am 29. April im Rahmen 23. goEast-Festival des mittel- und osteuropäischen Films Deutschland-Premiere.

Die Macht der Waffen: Poshaev und seine Bande herrschen über Qaratas (Foto bereitgestellt vom goEast-Filmfestival)

Mit seinem neuen Film „Goliath“ führt Regisseur Ádilhan Erjanov sein Publikum erneut in die Weiten der kasachstanischen Steppe. Der Rachewestern feierte am 29. April im Rahmen 23. goEast-Festival des mittel- und osteuropäischen Films Deutschland-Premiere.

Der Film beginnt mit einem Tribunal. Gangster Poshaev (gespielt von Daniıar Álshinov) und seine Bande haben soeben die örtliche Polizeistation überfallen, nun stehen die drei Polizisten und Dorfbewohnerin Karina an der Wand. Karina bekommt eine letzte Zigarette angeboten, einer aus der Bande verliest die Aussage, die sie eben noch gegen Poshaev zu Protokoll gegeben hat. Poshaev drückt ab.

In der nächsten Szene wird Karina zu Grabe getragen. Poshaev hockt sich neben ihren Witwer Arzu (verkörpert von Berik Aıtjanov), der neben dem Grabhügel am Boden sitzt. Er habe nicht anders handeln können, erklärt ihm Poshaev. Ob er deswegen ein Problem mit ihm habe, wolle er wissen. Arzu verneint, worauf ihm Poshaev Geld zusteckt und Arbeit anbietet. Dieses Wechselspiel aus Zuckerbrot und Peitsche ist es, das Poshaevs Herrschaft über Qaratas begründet.

Kasachstanischer Western

Qaratas, ein fiktives Dorf in der kasachstanischen Steppe, war auch schon Schauplatz in den vergangenen Filmen von Ádilhan Erjanov. Ähnlich wie in A Dark, Dark Man erzählt Erjanov eine Geschichte von Ungerechtigkeit und Machtlosigkeit, für die die Rauheit und zuweilen auch Trostlosigkeit der Steppe eine passende Kulisse bilden.

Wahrscheinlich war es auch die Weite der atemberaubenden Landschaft, die den Regisseur inspirierten, einen Western zu drehen. Denn genau das ist „Goliath“, dessen Held Arzu Rache schwört und es alleine mit einer schießwütigen Verbrecherbande aufnimmt. Szenen in der das Dorf bestimmenden Mine sowie Schießereien an einer Eisenbahnstrecke in der Steppe bilden weitere Reminiszenzen an das Genre.

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Der hinkende und stotternde Arzu ist dabei ein absoluter Antiheld. Da er in Verdacht steht, an Poshaev Rache für den Tod seiner Frau üben zu wollen, verprügeln ihn die Dorfbewohner und jagen ihn mit seiner kleinen Tochter, um die er sich nunmehr alleine kümmert, aus Qaratas. Poshaev ist es zu verdanken, dass fast alle Einwohner:innen Arbeit in der örtlichen Mine haben. Allein schon das Gerücht, man könne gegen ihn sein, ist daher gefährlich.

Es ist der Dorfpolizist, der Arzu zurückholt. Nicht nur der Mord an Karina, der in Gegenwart der gesamten Polizeiwache begangen wurde, verdeutlicht, dass sich die örtliche Polizei vollkommen in Poshaevs Hand befindet. Seine eigene Machtlosigkeit versucht der Abschnittsbevollmächtigte dadurch zu überspielen, dass er ständig seine Untergebenen schikaniert. Darüber hinaus hat er einen Hass auf Poshaev entwickelt. Nicht nur, weil er ihm nicht beikommen kann, sondern vor allem da dieser ihm bei seinen eigenen krummen Geschäften in die Quere kommt. Folglich versucht er Arzu zu instrumentalisieren, damit dieser Rache nimmt und den Gangster-Boss erschießt. Doch Arzu lehnt ab.

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Auch Poshaev scheint zunehmend Vertrauen in Arzu zu gewinnen. Er gibt dem Dorfpolizisten die Anweisung eine Unterkunft für Arzu zu finden, worauf er in einer Container-Siedlung bei der alleinstehenden Tanja untergebracht wird. Als aber auch Arzus Bruder aufgrund eines Diebstahls von Poshaevs Männern ermordet wird, kann ihn der Polizist zur Rache überreden. Arzu baut dafür eine Waffe, wird aber von Tanja an Poshaevs Männer verraten. Doch diese schmieden selbst Pläne, ihren Chef loszuwerden und so beginnt Arzu ein doppeltes Spiel.

Die Macht des Stärkeren

Mit seinen großartigen Landschaftsaufnahmen, einer Geschichte von Machtlosigkeit gegenüber Kriminalität und Staatsorganen, die sich miteinander verbrüdert haben, und nicht zuletzt aufgrund des alttestamentarischen Bezug im Titels, weist „Goliath“ (ein Name der im Übrigen im Film nicht einmal fällt) einige Parallelen zu Andrej Swjaginzews Meisterwerk Leviathan auf. Also alter Wein in neuen Schläuchen?

Keinesfalls. Denn mit „Goliath“ liefert Erjanov eine gelungene Parabel der Macht. Während Danila Bagrow, Hauptcharakter in Alexej Balabanows epischen Gangster-Film Brat (Bruder) sein Handeln damit rechtfertigt, dass „die Stärke in der Wahrheit“ liege, ist Poshaevs Sicht auf die Dinge frei von solcher Moralität und deutlich weniger philosophisch. Sich seiner eigenen Grobheit bewusst, erklärt er Arzu, was Macht sei: „Das ist Macht“ sagt er, in dem er auf seine Kalaschnikow deutet.

Der Trailer zum Film (russ./kas.)

Mit einer derart platten Antwort gibt sich Erjanov allerdings nicht zufrieden. Geradezu um die Bedeutung der Machtfrage hervorzuheben, blendet er an verschiedenen Stellen des Films passende Zitate Niccolò Machiavellis aus und über Der Fürst ein. Dass auch Poshaev ein „Machiavellist“ ist, ohne vermutlich jemals den Italiener gelesen zu haben, zeigt sich an einem weiteren Zitat aus dem „Fürsten“, dass allerdings nicht kenntlich gemacht ist. In der Schlüsselszene des Filmes, in der Poschaev Arzu das Funktionieren der Macht erklärt, sagt er, man müsse gleichzeitig Löwe und Fuchs sein: Denn der Löwe wittere keine Fallen und der Fuchs erfahre keinen Respekt.

Letztendlich ist es Poshaev selbst, der seiner eigenen Divise nicht ausreichende Beachtung schenkt. Das doppelte Spiel des geächteten Fuchses Arzu bemerkt er erst, als es zu spät ist. „Wer am besten Fuchs zu sein verstanden hat, ist am besten gefahren!“, schließt Machiavelli seinen Vergleich. Auch Poshaev scheint dies einzusehen. Er erweist dem Fuchs den versagten Respekt, indem er seelenruhig sein Ende erwartet.

Ein sehenswerter Film

Mit „Goliath“ hat Ádilhan Erjanov wieder einmal bestes Art-House-Kino produziert, das bei einem europäischen Publikum gut ankommt, in Kasachstan selbst aber kaum Beachtung findet. So berichtete die Filmemacherin Aıda Adilbek während eines Symposiums im Rahmen des goEast-Filmfestivals, dass „Goliath“ lediglich in Almaty gezeigt wurde – und auch dort nur für fünf Tage.

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Dennoch bleibt der Regisseur sich seit Jahren treu und liefert, was seine Fans von ihm erwarten. Eine traurige, sozialkritische Geschichte, eingebettet in einer atemberaubenden Landschaft, die Erjanov durch großartige Kameraeinstellungen und einem genialen Spiel mit Licht und Dunkelheit der Steppe in Szene zu setzen weiß. Darüber hinaus besticht der Film durch Details und Andeutungen, die sich aber leider nicht immer direkt erschließen. Auch wenn „Goliath“ nicht die beste Geschichte ist, die jemals von Erjanov erzählt wurde, ist es eines ganz gewiss: ein sehenswerter Film.

Robin Roth, Chefredakteur von Novastan

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