Könnten alle turksprachigen Staaten Zentralasiens zusammen mit der Türkei bald dasselbe Alphabet benutzen? Geht es nach dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan schon. Die Überlegungen dazu werden immer konkreter, allerdings stellt die Umstellung auf lateinische Buchstaben einige zentralasiatische Staaten vor große Herausforderungen.
Als Anfang November 2024 der elfte Gipfel der Organisation der Turkstaaten (OTS) tagte, unterstrich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan, er wolle in eine „gemeinsame Zukunft blicken“. Für diese sei es dringend nötig, den Wechsel zu einem gemeinsamen Alphabet auf Basis der lateinischen Schrift zu wagen. Zusammen mit Aserbaidschan sei die Türkei dafür schon bereit. Der türkische Präsident animiert zudem die Länder Usbekistan, Kasachstan, Kirgistan und Turkmenistan, die Initiative zu unterstützen. Doch welchen Herausforderungen begegnen die ehemaligen Sowjetrepubliken bei dieser globalen Sprachreform und was wären ihre Folgen?
Die Idee eines gemeinsamen Alphabets aller turksprachigen Staaten kam 1991 auf, anlässlich des Zusammenbruchs der Sowjetunion. Die Initiative dazu kam vonseiten der Türkei – und das noch weit vor der Gründung der OTS im Jahr 2009. In den 90ern hatte die Türkei in der Region eine bedeutende Rolle inne, sowohl auf politischer, wirtschaftlicher als auch kultureller Ebene: In Usbekistan eröffneten gemeinsame Bildungseinrichtungen, in denen die türkische Sprache intensiv gelehrt wurde. In Taschkent fassten bis dahin unbekannte türkische Supermarktketten Fuß und Fernsehserien, die am Bosporus spielten, erlangten große Popularität.
Kommission der OTS stimmt in Baku über gemeinsames Alphabet ab
Vor einigen Jahren flammte schließlich der Wille, ein gemeinsames Alphabet zu kreieren, erneut auf. Eine Sonderkommission mit je zwei Vertretern der Mitgliedsländer der OTS nahm sich dieser Frage an. Im September dieses Jahres fand in Baku die dritte Sitzung der Kommission statt, auf der die Experten verkündeten, dass alle interessierten Parteien dem Projekt zugestimmt haben.
„Es wurde sich auf ein gemeinsames türkisches Alphabet geeinigt, das 34 Buchstaben enthalten soll, wobei jeder einzelne für ein eigenes, in den Turksprachen vorkommendes Phonem steht“, heißt es in der offiziellen Pressemitteilung. Spezialisten fügten hinzu, dass die Buchstaben das sprachliche Erbe der verschiedenen Sprachen wahren und widerspiegeln sollen. Die altbekannten Buchstaben sollen ebenso um eine Reihe diakritischer Zeichen erweitert werden, so zum Beispiel bei den Buchstaben „Ň“ und „Ŭ“.
Türkei dazu bereit, eigenes Alphabet anzupassen
Bisher besteht das türkische Alphabet aus 29 Buchstaben, bei einer Angleichung würden also fünf dazu kommen. Dafür würde auch die Türkei „Opfer“ in Kauf nehmen. So müsste auch Ankara Lehrpläne, administrative Dokumente oder Beschilderungen anpassen. Eine ähnlich tiefgreifende Anpassung stünde im Falle der Reform dem aserbaidschanischen Alphabet bevor, das aktuell 32 Buchstaben vorweist. Den Wechsel von kyrillischen zu lateinischen Lettern vollzog Baku im Jahr 1991. Die OTS-Staaten Kasachstan, Kirgistan und Usbekistan, in denen bislang noch das kyrillische Alphabet Standard ist, stehen allerdings vor noch größeren Herausforderungen.
Kirgistan: bedeutende Rolle der russischen Sprache erschwert Reform
Die schwierigste Ausgangssituation hat dabei Kirgistan. Das kirgisische Alphabet besteht aus 36 Buchstaben – die 33 Buchstaben des russischen kyrillischen Alphabets sind dabei um drei weitere Laute ergänzt. Ein Wechsel des Alphabets bringt dreierlei Hürden mit sich: Erstens ist die Idee dort gänzlich neu und der gesellschaftliche wie politische Diskurs noch in den Kinderschuhen. Zweitens ist da die kirgisische Verfassung: Diese definiert das Kirgisische zwar als Staatssprache, das Russische hat daneben als offizielle Sprache jedoch eine bedeutende Rolle inne. Staatliche Dokumente weisen darum größtenteils ein russisches Duplikat auf. Hierin äußert sich der Einfluss Russlands, den der Kreml wohl kaum aufgeben möchte. Drittens kannte die kirgisische Staatskasse schon bessere Zeiten. Nach der Modifizierung der Nationalflagge im Dezember 2023 würde eine Reform des Alphabets das nächste teure Projekt in kurzer Zeit bedeuten.
Lest auch auf Novastan: Kirgistan: Diskussion um Latinisierung des Alphabets
Kasachstan: Umstellung auf lateinische Schrift läuft in Etappen
Das kasachische Alphabet besteht seit 1940 aus 42 kyrillischen Buchstaben. Den Übergang zum lateinischen Alphabet hatte Nürsültan Nazarbaev, der erste Präsident des Landes nach der Unabhängigkeit, allerdings bereits in den Nullerjahren auf den politischen Plan geholt. Ziel war und ist, sich vom russischen Nachbarn unabhängiger zu machen. 2017 präsentierte das Staatsoberhaupt sogar eine neue Version des Alphabets, das von nun an 31 Buchstaben enthalten sollte. Doch schon kurz darauf zerschlug er die Hoffnung auf einen baldigen Wechsel – dieser ist zeitintensiv und darum etappenweise bis 2025 geplant. Nazarbaevs Nachfolger Qasym-Jomart Toqaev verschob die Frist um weitere sechs Jahre auf das Jahr 2031: Er appellierte daran, das Projekt nicht zu überstürzen, um gravierende Fehltritte zu vermeiden. Ob sich Kasachstan von dem türkischen Tatendrang anstecken lässt? Wohl kaum.
Lest auch auf Novastan: Kasachstans langsamer, aber bestimmter Weg zum lateinischen Alphabet
Usbekistan: kyrillisches und lateinisches Alphabet werden parallel benutzt
In der besten Ausgangslage für Erdogans Vorhaben befindet sich wahrscheinlich Usbekistan. Die usbekische Sprache wird dort wahlweise mit kyrillischen oder lateinischen Buchstaben verschriftlicht. Letztere kamen 1993 auf Befehl des ersten Präsidenten Islom Karimovs dazu. Allerdings herrschte von Anfang an Uneinigkeit darüber, wie genau die usbekische Sprache mit lateinischen Buchstaben verschriftlicht werden soll.
Anfangs orientierte man sich am Türkischen. Mit der Zeit verschlechterten sich allerdings die Beziehungen zur Türkei. Grund dafür waren die Beschwerden türkischer Unternehmen, die die teils überfallartigen, staatlich geförderten Praktiken usbekischer Firmen und Behörden bemängelten und dadurch das eigene Geschäft in Gefahr sahen. Diese Abkühlung der Beziehungen hatte zur Folge, dass sich das usbekische Alphabet mehr am Englischen orientierte. Zum Beispiel wurden die kyrillischen Buchstaben „Ч“ [tsch] und „Ш“ [sch] ähnlich wie in der englischen Umschrift als „ch“ und „sh“ wiedergegeben.
Vor kurzem hat zudem der aktuelle Präsident Usbekistans Shavkat Mirziyoyev beschlossen, das Alphabet doch wieder dem türkischen Alphabet anzugleichen. So sollen die Buchstaben „Ч“ und „Ш“ wie „ç“ und „ş“ im Türkischen geschrieben werden. Diese Sprachexperimente sind der Grund, weshalb sich die lateinische Schrift in Usbekistan nicht vollumfänglich durchgesetzt hat – trotz staatlicher Unterstützung.
Die Alphabet-Reform Mirziyoyevs wird bereits seit Jahren diskutiert und spaltet das Land. Junge Menschen unter 35 Jahren bevorzugen das lateinische Alphabet, während die Menschen der älteren Generation nicht auf das vertraute kyrillische Alphabet verzichten wollen. Alles in allem würde eine Umstellung des Alphabets auf eine einzige türkische Vorlage in Usbekistan aber vergleichsweise schmerzlos verlaufen. Vor allem dann, wenn die doppelte Schreibweise wie bisher beibehalten würde.
Alphabetwechsel ist nicht gleich Alphabetwechsel
Alphabetwechsel sind in Zentralasien historisch betrachtet durchaus keine Seltenheit. Bis zur Revolution 1917 war die arabische Schrift Standard. Per Verordnung gingen die Turksprachen in den 1920er Jahren allesamt zur lateinischen Schrift über. In der Praxis zog sich dieser Prozess bis 1930. Doch keine zehn Jahre später machte die Sowjetregierung diese Entwicklung zunichte, indem sie ein universelles kyrillisches Alphabet einführte, das für alle Sowjetstaaten galt.
Diese Umwälzungen gingen damals mehr oder weniger schmerzlos vonstatten: Die Bevölkerung bestand größtenteils aus Analphabeten, welche die neue Schrift von Grund auf neu erlernen mussten. In den heutigen beinahe komplett alphabetisierten Gesellschaften zieht ein so abrupter Übergang darum mehr Konsequenzen nach sich. Nicht selten finden sich etwa Usbekisch-Muttersprachler in der absurden Situation wieder, auf Usbekisch verfasste Sätze aufgrund der lateinischen Buchstaben nicht entziffern zu können.
Folgen im In- und Ausland
Käme es zur Umsetzung des universellen türkischen Alphabets, würden sich solche Fälle nicht nur häufen, es kämen auch schwer zu stemmende Kosten auf die postsowjetischen Staaten zu: Schulbücher, Bildungspläne, Autobahnschilder und viele weitere administrative Dokumente müssten überarbeitet werden.
Tiefgreifende Folgen hätte ein universelles türkisches Alphabet auch auf das Leben von zentralasiatischen Arbeitsmigranten in Russland. Dort erfüllen sie schon jetzt nur selten die sprachlichen Anforderungen, ganz besonders die jüngeren. Ein Alphabetwechsel würde dieses Problem nur verstärken, immerhin befinden sich mehrere Millionen Migranten aus ganz Zentralasien für die Arbeit in Russland. Auf ein anderes Land auszuweichen, ist undenkbar.
Erstmal nur eine Utopie
2007, als die Debatte bereits aufgeflammt war, bezeichnete der Geschichtsprofessor Goga Hidoyatov den Vorschlag als eine „bescheuerte Idee der Pantürkisten“ und führte aus: „Eine pantürkische Sprache ist völlig undenkbar. Die Aserbaidschaner, die Usbeken, die Kasachen – alle haben sie ihre eigenen Autoren, ihre Traditionen, wie sollen wir die alle miteinander verbinden? Das ist genauso utopisch, als würden wir morgen mit der Idee einer panslawischen Sprache um die Ecke kommen.“
Zwar haben die OTS-Staaten beim letzten Gipfel in Bischkek ein Memorandum unterzeichnet, das von ihrem Vorhaben eines universellen türkischen Alphabets zeugt. Doch von einer Idee bis zu ihrer Umsetzung ist es ein langer Weg, insbesondere, wenn sie etwas so Elementares wie Sprache betrifft. Bis dahin steht Erdogan noch viel Überzeugungsarbeit bevor.
Arthur Siavash Klischat
Übersetzer für Novastan