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Architektonisches Versuchslabor Taschkent: Über den Denkmalwert sowjetischer Plattenbauten

Wer an den sowjetischen Massenwohnungsbau des vergangenen Jahrhunderts denkt, hat oft eintönige Plattenbauten vor Augen. In Usbekistan findet man jedoch zahlreiche Gebäude mit künstlerisch gestalteten Fassaden und bunten Mosaiken. Die Brüder Pjotr, Nikolaj und Alexander Jarsky verkleideten über 200 Gebäude in Usbekistan. Einige davon sind bis heute erhalten. Wie lange noch, ist unklar, denn sie stehen nicht unter Denkmalschutz. Vor kurzem ist ein Buch über die Brüder der Taschkenter Moderne erschienen. Eine Rezension.

Quelle: © Familienarchiv Jarsky

Wer an den sowjetischen Massenwohnungsbau des vergangenen Jahrhunderts denkt, hat oft eintönige Plattenbauten vor Augen. In Usbekistan findet man jedoch zahlreiche Gebäude mit künstlerisch gestalteten Fassaden und bunten Mosaiken. Die Brüder Pjotr, Nikolaj und Alexander Jarsky verkleideten über 200 Gebäude in Usbekistan. Einige davon sind bis heute erhalten. Wie lange noch, ist unklar, denn sie stehen nicht unter Denkmalschutz. Vor kurzem ist ein Buch über die Brüder der Taschkenter Moderne erschienen. Eine Rezension.

Bunte Tierfiguren, Schnörkel und Formen aus der islamischen Geometrie, florale Ornamente und Mosaike, usbekische Sagenfiguren, Abbildungen des Sowjetmenschen, Astronauten und Kosmosdarstellungen. Das Buch von Philipp Meuser, „Fassadenkunst im Plattenbau. Das Werk der Brüder Jarsky im sowjetischen Taschkent“, widmet sich dem künstlerischen Gesamtwerk der Brüder Jarsky. Dokumentiert sind 540 Abbildungen von Fassadenverkleidungen, Bauplänen und Zeichnungen. Der Bildband enthält nicht nur fabelhafte Fotografien von damals und heute. Es wird auch ein Einblick in das Familienarchiv der Brüder Jarsky mit Standorten in Taschkent und Ischewsk gewährt. So kann man einerseits die vielen Zeichnungen sehen, andererseits aber auch die Familiengeschichte nachlesen.

Das baukünstlerische Erbe von Pjotr, Nikolaj und Alexander Jarsky ist einzigartig. Die Architektenbrüder haben es geschafft, einen eigenen Stil zu entwickeln, der sich von der typologisierten und auf Massenproduktion ausgerichteten sowjetischen Baupolitik absetzt. Der Autor des Buchs unterstreicht das Kulturerbe der Brüder Jarsky und ruft dazu auf, die von ihnen gestalteten Gebäude in Taschkent international wahrzunehmen und Maßnahmen für deren Schutz zu ergreifen.

Jarsky-Gebäude an der Adresse: 08 Mirobod ko’chasi, dom © Philipp Meuser

Über die Brüder Jarsky

Der älteste des Trios, Pjotr Jarsky (1929-1993), kam als Sohn russischstämmiger Eltern in Estland zur Welt. Seine Eltern emigrierten mit ihm nach Frankreich, um dort Arbeit zu finden. Der Vater Wassili Jarsky träumte eigentlich von der französischen Kunstszene. Stattdessen musste er vor dem Hintergrund der gerade ausgebrochenen Wirtschaftskrise eine Arbeit finden, um die junge Familie zu ernähren. Wassili arbeitete als Handwerker und Bauarbeiter; später gelang es ihm, Aufträge als Fotograf zu erhalten.

Die beiden jüngeren Söhne Nikolaj (1931-2014) und Alexander (1936-2015) waren bereits in Frankreich geboren. Nach und nach gelang es dem Vater, sich in der französischen Kunstszene zu etablieren. 1940 schloss sich Wassili Jarsky der französischen Armee gegen Deutschland an und landete schließlich in einem Internierungslager für Russen. Nachdem er dem Lager entkommen konnte, trat er der Kommunistischen Partei Frankreichs bei. Im Jahr 1945 beteiligte er sich an der Gründung der Vereinigung der Sowjetbürger und wurde künstlerischer Vorsitzender des Regionalbüros der Kommunistischen Partei. Die beiden Söhne Pjotr und Nikolaj Jarsky studierten zunächst an der École des beaux-arts in Toulouse. 1946 erhielt Vater Wassili die sowjetische Staatsbürgerschaft und die Familie siedelte kurz darauf in die Sowjetunion über.

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Die Brüder Pjotr, Nikolaj und Alexander widmeten sich auch in der Sowjetunion der Kunst und Architektur und arbeiteten zeitweise gemeinsam unter anderem an der Ausschmückung von Gebäuden in Taschkent. Das künstlerische Schaffen der Jarskys beschränkte sich nicht nur auf Usbekistan, sondern erstreckte sich von Chişinău bis Tiflis und von Njagan bis Duschanbe. Ihre Werke sind vereinzelt auf Gebäuden im gesamten Territorium der ehemaligen Sowjetunion zu finden.

Taschkenter Moderne

Wochenlange Erdbeben zerstörten im Frühjahr 1966 große Teile der orientalischen Altstadt von Taschkent. Dies war einer der Gründe, warum die sowjetische Regierung ein umfangreiches architektonisches Wiederaufbauprojekt initiierte. Die usbekische Hauptstadt wurde zu einer riesigen Baustelle, die zahlreiche Architekturschaffende anzog. Einerseits wurde Geld für die Errichtung von Großbauten bewilligt, andererseits ermöglichte wohl gerade die geographische Distanz zum sowjetischen Zentrum Moskau gewisse gestalterische Freiheiten. Philipp Meuser beschreibt in seinem Buch, welche gestalterische Lücke sich die Jarskys zu erschließen wussten, weshalb ihre Fassadendekorationen bis heute einzigartig sind.

Quelle: Nikolai Jarsky, Skizze und Ausführungszeichnung für sein Sonnenschutzelement, 1982. © DOM publishers
Quelle: Nikolai Jarsky, Skizze und Ausführungszeichnung für sein Sonnenschutzelement, 1982. © DOM publishers

Zwischen politischen Ansprüchen und künstlerischer Freiheit

Nikita Chruschtschow, der 1953 an die Spitze des sowjetischen Staates gelangte, stellte die damaligen Architekt:innen und Bauingenieur:innen vor eine Herausforderung: Die Baukosten sollten niedrig gehalten werden, die Gebäude qualitativ hochwertig und widerstandsfähig sein. Der sowjetische Plattenbau musste Massenwohnraum bieten und in sämtlichen Klimazonen realisierbar sein. Die Produktion standardisierter Bauelemente ermöglichte die Herstellung von Bauteilen in hoher Stückzahl, wobei jedes Element identisch zum anderen war. Die Herstellung war auf Effizienz und Schnelligkeit ausgerichtet.

Für künstlerische Gestaltungsfreiheit blieb wenig Raum. Einigen Architekt:innen gelang es jedoch, eine Verbindung zwischen Funktionalität und Ästhetik herzustellen. Durch ihre Ideen zur Dekoration und farblichen Gestaltung konnte der serielle Charakter der fertigen Bauteile aufgelockert und verschönert werden. Ihr Gestaltungsspielraum lag in der äußeren Verkleidung von Bauteilen. So wurden Fassaden, Sonnenschutzelemente, Balkone, Loggien sowie Treppenhäuser und Eingänge mit Menschenfiguren oder Ornamenten und geschwungenen Linien verziert.

Die Brüder nutzten die Gelegenheit, um die Außenfassaden der Häuser sowie die Treppenhäuser mit Mosaiken, die Häuserwände mit ornamentalen Formen wie runden Fensterumrahmungen oder geschwungenen Balkonen zu schmücken. Die Jarsky-Gebäude hatten einen deutlich höheren ästhetischen Wert als die typischen Wohnblocke der Chruschtschow-Ära. Dies ist vermutlich auch ein Grund, weshalb die Fassadengestaltungen toleriert und teilweise selbst von politischen Eliten in der Sowjetunion geschätzt wurden.

Architektonisches Labor Zentralasien

Die Brüder Jarsky haben eine eigene künstlerische Methode entwickelt, die Meuser in seinem Werk beispielhaft darstellt. Sie schmückten Fassaden mit lokalen Motiven und orientierten sich dabei an den Formgebungen, die sie in Zentralasien auf alten Stadtbauten wie Medressen und Moscheen aus der vorsowjetischen Zeit fanden. Besonders inspirierte sie die alte Kunst von Afrasiab, Warachscha und Pandschakent. Es mag erstaunen, dass ausgerechnet islamische Wand- und Fassadenornamente für sowjetische Hochhäuser übernommen wurden. Tatsächlich entsprachen die Ornamente der islamischen Geometrie dem künstlerischen Anspruch: Sie passten sich in den lokalen Kontext ein und erfüllten die Anforderungen der sowjetischen Baupolitik nach Reproduzierbarkeit. Die geometrischen, sich unendlich wiederholenden Elemente konnten im Großstil auf Fassaden reproduziert werden.

Meuser spricht bei dieser Art von Gebäudeschmuck von der Frühphase der Gestaltungsweise der Brüder. Ab Mitte der Siebzigerjahre traten zunehmend auch politische Motive auf. Es wurden staatliche und gesellschaftliche Themen aufgegriffen, wie beispielsweise Darstellungen aus dem Bereich der Weltraumforschung und der Naturwissenschaften sowie Idealisierungen des Sowjetmenschen. In der dritten Phase, den Achtzigerjahren, griff das Trio zunehmend auf ein abstrakteres Formenvokabular zurück.

Quelle: © DOM publishers

Bröckelnde Fassaden

Bei einem Besuch in Taschkent wird man bei genauerem Hinsehen viele Gebäude entdecken, die das künstlerische Schaffen der Jarskys bezeugen. Leider sind diese Gebäude bis heute nicht denkmalgeschützt, wodurch Mosaike schwinden, Fassaden bröckeln und Gebäude neuen Großbauprojekten weichen müssen . Meuser weist auf diese Problematik hin und plädiert dafür, die Gebäude der Jarsky-Brüder in das UNESCO-Welterbe aufzunehmen, um ihrem völligen Verfall vorzubeugen und ihnen damit die internationale Bedeutung zu verleihen, die sie zweifellos verdienen.

Quelle: 07 Afrosiyob ko’chasi, dom 10–14 (Farovon mahallasi), Mirobod tumani, Federführender Künstler: Alexander Jarsky Planung und Bauzeit: 1973–1975 © Philipp Meuser

Bauwerke werfen Fragen auf

Meusers Werkmonografie lädt im weitesten Sinne dazu ein, den Denkmalwert vieler Bauten des sowjetischen Modernismus neu zu bewerten. Das Werk der Jarskys ist in seiner Vielfalt und Kreativität einzigartig. An einigen Stellen im Buch hätte man sich mehr Informationen darüber gewünscht, warum der Autor gerade die Jarsky-Bauten ausgewählt hat, welche anderen Bauwerke und weiteren Künstler:innen die Taschkenter Moderne repräsentieren und inwiefern sich diese gegenseitig beeinflusst haben mögen.

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Der Denkmalwert der Jarsky-Bauten ist eindeutig dargelegt. Andere Fragen bleiben offen. Der Autor verweist auf die Schwierigkeiten der akademischen Forschung im usbekischen und russischen Kontext. So bleibt unbeantwortet, welche Dialoge innerhalb der internationalen Forschungslandschaft zur Taschkenter Moderne bestehen, ob es in Usbekistan Institutionen gibt, die sich des Themas annehmen, aber auch welche Kooperationen sich anbieten würden oder verunmöglicht werden.

Die Gründe für den schlechten Zustand der Jarsky-Bauten und die Frage, ob Sanierungsmaßnahmen von der Stadt oder von privater Seite unternommen werden, sind unklar. Auch auf die usbekische Denkmalschutzdebatte im größeren Kontext geht der Autor nicht ein. Dies ist wohl zum einen den begrenzten Möglichkeiten geschuldet, zum anderen ist dies aber auch nicht mehr der Fokus des Buches über die Gebrüder Jarsky.

Aufruf zur internationalen gesellschaftlichen Debatte

Insgesamt handelt es sich beim Buch um ein einzigartiges Gesamtwerk, das das künstlerische Schaffen von Pjotr, Nikolaj und Alexander Jarsky präzise und differenziert erfasst. Die Monografie gewährt außerdem Einblicke in die sowjetische Rezeptionsgeschichte sowie in das persönliche Familienarchiv und kontextualisiert diese für ein europäisches und deutschsprachiges Publikum. Die Arbeit über die Jarsky-Brüder soll auch ins Russische und Englische übersetzt werden. Der elegant gestaltete Bildband eignet sich nicht nur für Kunst- und Architekturliebhaber. Das Buch lädt zum Schmökern und zum Bestaunen der farbenvollen Abbildungen ein.

Neben den Zeichnungen und Fotografien enthält der Band eine Karte mit allen Jarsky-Gebäuden sowie ein Adressverzeichnis. So können Leser:innen die Jarsky-Fassaden in Taschkent leicht wiederfinden. Wer demnächst eine Kulturreise nach Usbekistan plant, sollte Meusers Buch vorher bestellen und lesen, um Taschkent von einer ganz neuen Seite kennenzulernen. Da es sich um ein großformatiges Buch handelt, passt es zwar nicht in jede Reisetasche, eignet sich dafür aber gut als Geschenk.

Das Werk regt darüber hinaus eine relevante akademische und gesellschaftliche Diskussion über den Denkmalwert der sowjetischen Moderne an und mahnt zu Recht, den Bauten genügend Aufmerksamkeit zu schenken, bevor sie allmählich aus dem Stadtbild verschwinden.

Meuser Philipp: Fassadenkunst im Plattenbau. Das Werk der Brüder Jarsky im sowjetischen Taschkent. Mit einem Beitrag von Nina Jarsky. 368 Seiten, DOM publishers, ISBN 978-3-86922-466-4, November 2023.

Berenika Zeller, Redakteurin für Novastan

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