„Cendrillon au pays des soviets“ (zu Deutsch: „Aschenbrödel im Land der Sowjets“), im März in Frankreich erschienen, ist das Ergebnis von 12 Jahren Feldforschung in Samarkand. Fernab der blauen Kuppeln aus 1001 Nacht legt die Anthropologin Anne Ducloux mit dem Buch eine kluge Analyse der Situation der usbekischen Frauen und ihrer Beziehungen untereinander vor.
Als „Stadt ohne Männer“ wird Samarkand im Untertitel des Buchs von Anne Ducloux bezeichnet. Die promovierte Historikerin und Juristin wandte sich um die Jahrtausendwende der Anthropologie zu, nachdem sie sich in ihren Arbeiten zunächst mit der Spätantike, der Kabylei sowie dem französischen Übersee-Département La Réunion beschäftigt hat. Es waren die Arbeiten der französischen Anthropologin Roberte Hamayon über den sibirischen und mongolischen Schamanismus, die sie schließlich nach Usbekistan und vor allem nach Samarkand führten.
Ihr Aufenthalt in Samarkand führte jedoch schon bald dazu, dass sie ihren Forschungsgegenstand wechselte, da sie sich „sehr viel stärker angezogen fühlte von der Einzigartigkeit der Beziehungen zwischen den Frauen als von den pittoresken Folbins [Wahrsagerinnen] und anderen Bakschis [Barden, Heiler]“.
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Die Autorin möchte ihre Felderfahrung und ihre Untersuchungsergebnisse mit dem Buch auch „Leser:innen zugänglich machen, die weder mit Zentralasien noch mit der Anthropologie vertraut sind“. Ducloux stützt sich auf verschiedene und reichhaltige Quellen, erläutert ihre Auswahl und Analysen und lässt die Leser:innen in die Komplexität einer Gesellschaft mit einem vielfältigen Erbe eintauchen. Das Bild, das sie von der Lage der Frau in einer patriarchalen Gesellschaft ohne Männer entwirft, ist lebendig und tragisch zugleich.
Usbekistan im 21. Jahrhundert: Ein vielschichtiges Kompositum
Die Gesellschaft, die Ducloux in ihrem Buch beschreibt, ist, wie so oft in Zentralasien, das Resultat diverser Einflüsse und zusammengesetzter Identitäten. Das ist wichtig für das Verständnis der Beziehungen, für die sich die Autorin interessiert. Die tadschikischen Traditionen von Samarkand durchdringen sich hier wechselseitig mit den Gepflogenheiten der Sowjetunion und islamischen Gebräuchen. Die Sowjetzeit, welche die meisten der Gesprächspartnerinnen der Autorin selbst erlebt haben, ist dabei von besonderer Bedeutung.
Den heterogenen Einflüssen kommt eine doppelte Bedeutung zu: Auf der einen Seite sind sie eine Realität der usbekischen Gesellschaft, auf der anderen Seite ermöglichen sie es, diese Gesellschaft zu entschlüsseln, die alltäglichen Realitäten, wie sie vom anthropologischen Terrain aus beschrieben werden, besser zu erfassen. Hinzu kommt das Auftreten neuer religiöser Formen und der Kampf der Machthabenden gegen sie. Die Angst der usbekischen Behörden vor dem radikalen Islamismus wird sichtbar, während die Justiz Fälle von sexueller Gewalt kaum ahndet.
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Die Massenauswanderung nach Kasachstan, Russland oder in die USA ist ebenso Folge der Sowjetzeit, wie der weit verbreitete Alkoholismus. Sie machen Samarkand zu einer „Stadt ohne Männer“. Genauer gesagt: Ohne Männer, die alt genug sind, die Position der Autorität einzunehmen, denn Autorität ist hier nicht nur an das Geschlecht, sondern auch an das Prinzip der Seniorität gebunden.
Traditionelle Familienlogiken
„In Usbekistan ist das Individuum nur ein Glied in der Kette der Familie“, unterstreicht Ducloux. Verwandtschaftsverhältnisse sind innerhalb einer solchen Gesellschaftsstruktur das wichtigste Kriterium, um Beziehungen zu analysieren und darzustellen.
75 Jahre Sowjetunion konnten diesen traditionellen Familienstrukturen – Patriarchat und Seniorität – nichts anhaben. Aufgrund der Abwesenheit der Oq Saqol (usbekisch für Weißbärte; womit die Männer gemeint sind, die alt genug sind, um die traditionelle Autorität auszuüben) haben sie sich jedoch neu zusammengesetzt, neu ausgerichtet und zwar zum Vorteil der Schwiegermütter, der Mütter der Söhne, und zum Nachteil ihrer Kelin, der Schwiegertöchter.
Trotz dieser Abwesenheit bleibt die Macht der Frauen auf die häusliche Sphäre beschränkt. Hier haben die Schwiegermütter jedoch einen enormen Einfluss in der Gesellschaft von Samarkand. Ihre Kontrolle erstreckt sich bis hin zur Auswahl der Ehemänner und Ehefrauen für die Kinder und geht sogar so weit, dass sie in deren eheliche Schlafzimmer eindringen.
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Das Leben der usbekischen Frau ist in mehrere Etappen geteilt: Tochter, Kelin, Mutter, Schwiegermutter. Innerhalb dieser Phasen wird der Status durch die patriarchale Struktur und die Seniorität differenziert. Wie auch immer dieser aussieht, „eine Frau beginnt erst zu leben, wenn sie Söhne geboren hat“. Als Tochter ist sie „Gast im Haus ihres Vaters“. Verheiratet, wird sie zur Bediensteten ihrer Schwiegermutter und der Frauen aus der Familie ihres Ehemanns.
Frauen gegen Frauen
Der Status der Kelin als Dienerinnen im Haushalt der Familie des Ehemanns erklärt den Titel von Duclouxs Buch: „Aschenbrödel im Land der Sowjets“. Sobald die Frauen einen Sohn geboren haben und dieser verheiratet ist, sobald sie also den begehrten Status der Schwiegermutter erhalten haben, reproduzieren sie die Machtbeziehung, unter der sie zuvor selbst gelitten haben. Sie begegnen dann wiederum ihren eigenen Schwiegertöchtern mit der gleichen Härte, die sich nicht nur in verbaler und psychischer, sondern auch in physischer Gewalt ausdrücken kann.
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Da Autorität und Herausforderungen traditionell auf die Männer konzentriert bleiben, spricht Ducloux von „dem schmerzlichen Eindruck, dass die Frauen in Usbekistan sich selbst bekämpfen“. Bezeichnend dafür ist die Stellung der Kinder, die ihren Müttern von den Schwiegermüttern „weggenommen“ werden.
Eine Frau kann die Linie ihres Vaters nur dann verlassen und in diejenige ihres Ehemanns eintreten, wenn sie männliche Nachkommen gebiert. Ohne einen Sohn ist sie dazu verdammt, die Dienerin ihrer Schwiegermutter zu bleiben. Selbst der Tod der letzteren kann sie von diesem Schicksal nicht befreien, denn dann wird sie zur Kelin für alle (insbesondere für die Witwen ohne Kelin).
Eine anthropologische Analyse von Samarkand
Wenn das Schicksal der Kelin auch das Märchen von Aschenbrödel evozieren mag, so besteht Ducloux doch darauf, dass der Alltag in Samarkand „weit entfernt ist von der Welt aus Tausendundeine Nacht“, die von den Tourist:innen hier gesucht wird. Die Frauen sind der Gewalt der patriarchalen Gesellschaft schutzlos ausgeliefert. Mehrere ergreifende Passagen über das Schicksal junger Mädchen, mit denen die Anthropologin gesprochen hat, veranschaulichen das Leben fernab jeglichen Märchenglanzes.
Jenseits der häuslichen Sphäre begegnen uns auf jeder Seite des Buchs Unterentwicklung, Armut und Entbehrung. Die Korruption, ein weiteres Erbe der Sowjetzeit, ist weit verbreitet. Die öffentlichen Dienstleistungen werden vernachlässigt und das Gesundheitssystem ist, Ducloux zufolge, desaströs. „Aschenbrödel im Land der Sowjets“ macht plausibel, dass das Schicksal der Frauen von Samarkand von dem sozialen Gefüge in Usbekistan nicht zu trennen ist.
Jean Monéger, Redakteur für Novastan
Aus dem Französischen von Lucas Kühne
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