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Aıgerim Temirbaeva über die Bedeutung des Sufismus in Kasachstan

Die Stadt Turkestan in Kasachstan wurde durch den Philosophen, Prediger und Sufi-Dichter Hodscha Jasawi zu einem Anziehungspunkt für Muslime. Über dem Grab dieses Heiligen wurde auf Befehl von Amir Temur ein Mausoleum errichtet. Hierher kommen bis heute Muslime nicht nur aus Kasachstan, sondern aus der ganzen Welt, um zu beten.

Mausoleum von Khoja Ahmed Yasawi, Photo: Wikimedia Commons.

Die Stadt Turkestan in Kasachstan wurde durch den Philosophen, Prediger und Sufi-Dichter Hodscha Jasawi zu einem Anziehungspunkt für Muslime. Über dem Grab dieses Heiligen wurde auf Befehl von Amir Temur ein Mausoleum errichtet. Hierher kommen bis heute Muslime nicht nur aus Kasachstan, sondern aus der ganzen Welt, um zu beten.

Aıgerim Temirbaeva, Religionswissenschaftlerin und Forscherin zum Sufismus in Kasachstan, erklärte gegenüber CABAR.asia, welche Rolle der Sufismus für moderne Muslime in Kasachstan spielt. Ihre Doktorarbeit und wissenschaftlichen Veröffentlichungen über den Sufismus beruhen auf Feldforschungen bei Sufi-Gruppen in Kasachstan und der Türkei.

Lassen Sie uns mit einer Definition beginnen – was ist Sufismus? Was ist der Hauptunterschied zu anderen Zweigen des Islam?

In der Wissenschaft gibt es viele Ansichten darüber, was Sufismus ist. Allgemein besteht der Kern des Sufismus aus den folgenden Elementen: Beharrlichkeit in der Anbetung, Hingabe an Allah, Loslösung von weltlichen Versuchungen und Ablehnung von allem, dem die meisten Menschen nachjagen – Macht, Reichtum und Vergnügen. Westliche Forschende haben den Sufismus als eine mystisch-asketische Bewegung im Islam bezeichnet. Der Hauptunterschied zwischen dem Sufismus und anderen Zweigen des Islam ist der Aufruf zur spirituellen Vervollkommnung und zur Läuterung durch verschiedene spirituelle Praktiken.

In der heutigen Zeit erscheint der Sufismus als eine Reihe von verständlichen und für die Anhängenden wertvollen Lebens-, Geistes- und psychologischen Richtlinien, Einstellungen und Praktiken, die das Verhalten und den Lebensweg im Allgemeinen bestimmen.

Wie ist der Sufismus in das Gebiet des heutigen Kasachstan eingedrungen und warum konnte er sich so lange halten?

Im 11. und 12. Jahrhundert verbreitete sich der Sufismus in Transoxanien und den südlichen Regionen des heutigen Kasachstan durch den Einfluss der arabisch-persischen Kultur und der orientalischen Poesie. Infolgedessen brachte die Region Turkestan, die zu Transoxanien gehörte, Früchte des Weltkulturerbes hervor. Einen besonderen Platz nehmen hier die Sufi-Lehren von Hodscha Ahmet Jasawi ein, der durch sein Werk „Diwan-i Hikmet“ (ein Gedichtzyklus mit religiösem und philosophischem Inhalt – Anm. d. Red.) zusammen mit seinen Anhängern eine gewaltfreie Islamisierung der Bevölkerung durchführte.

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Der Sufismus hat in Kasachstan dank seiner Anpassungsfähigkeit, den Anhängenden und der religiösen Gebäude wie Moscheen und Mausoleen überlebt. Gleichzeitig stellen kasachstanische Forschende fest, dass das Tariqat (die Sufi-Gemeinschaft) von Jasawi eigentlich verloren gegangen ist.

Wie entwickelt sich der Sufismus aktuell in Kasachstan und welche Rolle spielt er?

In den ersten Jahren der Unabhängigkeit entstanden Sufi-Gruppen unter der Leitung von Predigern – ethnischen Kasachen aus anderen Ländern. Das spirituelle Vakuum und die wachsende Nachfrage nach einer Wiederbelebung der spirituellen Traditionen trugen zum Wachstum der Sufi-Gemeinschaften im ganzen Land bei. In den letzten Jahren ist ein Anstieg der Zahl der Sufi-Gruppen im Land zu verzeichnen. Die meisten von ihnen legitimieren ihre Aktivitäten durch ausländische Scheichs oder Sufis aus ihrer eigenen Linie.

Der Sufismus spielt in der spirituellen und sozialen Landschaft Kasachstans eine wichtige Rolle, was bereits zweimal auf dem Nationalen Kurultai 2023 und 2024 erwähnt wurde. Die DUMK, die Geistliche Verwaltung der Muslime Kasachstans, gibt auch Bücher über den Sufismus heraus, organisiert Konferenzen und veröffentlicht Artikel über den Sufismus. Darüber hinaus zieht das Jasawi-Mausoleum in Turkestan weiterhin Pilger:innen nicht nur aus Kasachstan, sondern auch aus dem nahen und fernen Ausland an.

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Einige Sufi-Gruppen engagieren sich in der Wohltätigkeitsarbeit und unterstützen sozial schwache Teile der kasachstanischen Bevölkerung. Der Dienst an der Gesellschaft kommt auch in Initiativen wie der Unterstützung talentierter Jugendlicher und angehender Unternehmen zum Ausdruck. Dieser Vektor verdeutlicht den Wunsch, die Kluft zwischen weltlichen Belangen und spirituellen Idealen zu überbrücken.

Vor welchen Problemen und Herausforderungen steht der Sufismus in Kasachstan heute?

In den verschiedenen Regionen des Landes ist die Haltung der staatlichen Stellen und der Bevölkerung dem Sufismus gegenüber nicht einheitlich. Meistens werden die Aktivitäten der Sufi-Gemeinschaften systematisch überwacht. In den Jahren der Unabhängigkeit gab es Fälle, in denen Vertreter des Sufismus wegen Verstößen gegen das Gesetz strafrechtlich verfolgt wurden, was in der Gesellschaft auf Resonanz stieß und zu weiterer Zurückhaltung führte. Nichtsdestotrotz ist der Sufismus für einen Teil der Gläubigen weiterhin relevant.

Aus der Sicht der Anhängenden der Lehre selbst haben die meisten Sufi-Gruppen keine besonderen Probleme: Sie versammeln sich regelmäßig und führen ihre Rituale durch. Die größte Herausforderung ist wahrscheinlich die Gefahr der Politisierung und der Nutzung der Sufi-Anhänger:innen für negative Zwecke.

Werden die Sufi-Praktiken an die modernen Realitäten angepasst und wie tragen die Anhänger des Sufismus zum interreligiösen Dialog bei?

Historisch gesehen hat der Sufismus bewiesen, dass er anpassungsfähig und flexibel ist. Jetzt passen die Sufi-Führer die Sufi-Prinzipien an die modernen Anhänger an, einschließlich der Synthese mit anderen Praktiken.

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Sufis nutzen auch moderne Technologien. Ein breites Spektrum an sozialen Medien, Live-Übertragungen, Video- und Audio-Podcasts sowie Online-Kursen sind zu einem festen Bestandteil des täglichen Lebens moderner Sufis geworden und helfen ihnen, Ideen auszutauschen und ein globales Sufi-Netzwerk aufzubauen.

Der Sufismus ist heterogen und wird in Kasachstan von Gruppen vertreten, die unterschiedlichen Traditionen folgen; es sind sowohl geschlossene als auch offene Gemeinschaften aktiv. Zudem fördern Vertretungen einiger ausländischer Sufi-Gruppen den interreligiösen Dialog aktiver als inländische.

Auf globaler Ebene hat der moderne Sufismus integrativere Tendenzen und lässt sich von verschiedenen mystischen Traditionen, Philosophien, spirituellen, energetischen und meditativen Praktiken inspirieren, die über den Islam hinausgehen können (etwa Hinduismus, Buddhismus und Christentum). Dadurch entstehen ein interreligiöser Dialog und interreligiöse Sufi-Gemeinschaften, in denen die Anhängenden auf der Suche nach gemeinsamen spirituellen Idealen zusammenkommen und sich für Frieden, gegenseitiges Verständnis und Toleranz aussprechen.

Aıan Oryntaı für CABAR.asia

Aus dem Russischen von Michèle Häfliger

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