Startseite      „Wer Angst hat, macht mit Angst weiter“ – Wie Bischkeks Techno-Szene staatliche Repressionen überlebt

„Wer Angst hat, macht mit Angst weiter“ – Wie Bischkeks Techno-Szene staatliche Repressionen überlebt

Im April letzten Jahres führten Spezialeinheiten Razzien in zwei der beliebtesten Elektro-Bars Bischkeks durch. Doch statt auf einen Drogenumschlagplatz oder ein Zentrum illegaler Aktivitäten stießen die Beamten auf eine junge, vielfältige Szene, die sich einen der wenigen verbliebenen sicheren Orte für Selbstverwirklichung in Bischkek geschaffen hatte. Nach einem Jahr, das von zunehmender Repression und schwindenden Bürgerrechten in Zentralasiens „Insel der Demokratie“ geprägt war, sprach Novastan mit zwei Vertretern der betroffenen Lokale darüber, wie ihre Gemeinschaften in Kirgistans zunehmend autoritärem Klima überleben.

Die Redaktion 

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Die Ailan Bar vor ihrer Schließung , Photo: Aku/Ailan Bar

Im April letzten Jahres führten Spezialeinheiten Razzien in zwei der beliebtesten Elektro-Bars Bischkeks durch. Doch statt auf einen Drogenumschlagplatz oder ein Zentrum illegaler Aktivitäten stießen die Beamten auf eine junge, vielfältige Szene, die sich einen der wenigen verbliebenen sicheren Orte für Selbstverwirklichung in Bischkek geschaffen hatte. Nach einem Jahr, das von zunehmender Repression und schwindenden Bürgerrechten in Zentralasiens „Insel der Demokratie“ geprägt war, sprach Novastan mit zwei Vertretern der betroffenen Lokale darüber, wie ihre Gemeinschaften in Kirgistans zunehmend autoritärem Klima überleben.

Kirgistan galt außerhalb Zentralasiens lange Zeit als eine der wenigen Bastionen demokratischer Werte in einer Region, die vom postsowjetischen Autoritarismus geprägt ist. Als der amtierende Präsident Sadyr Dschaparow nach der kirgisischen Revolution von 2020 überraschend an die Macht kam, schwor er dem Volk vom ersten Tag an, die so hoch geschätzte Freiheit zu schützen. Vier Jahre später hat sich der Präsident selbst zur größten Bedrohung für die ohnehin schon fragile Demokratie Kirgistans entwickelt.

Dschaparows Regierungsstil führte bereits in den ersten beiden Jahren seiner Herrschaft dazu, dass Kirgistan im Freedom House Index 2022 als „gefestigtes autoritäres Regime“ geführt wurde. 2024 landete Kirgistan auf der Beobachtungsliste des CIVICUS Monitors für Länder mit einem rapiden Rückgang der bürgerlichen Freiheiten. Kernstück von Dschaparows Machtkonsolidierung ist die systematische Aushöhlung der ohnehin schon schwachen Meinungsfreiheit in Kirgistan. Dschaparow nutzte seine Macht über staatliche Institutionen wiederholt, um abweichende Meinungen im politischen und zivilgesellschaftlichen Bereich zu unterdrücken. Ein unerwartetes Opfer dieser Repressionen war die aufstrebende Techno-Szene in der Hauptstadt Bischkek.

Dschaparows Techno-Razzien

In der Nacht des 14. April 2024 führten kirgisische Spezialeinheiten in Zusammenarbeit mit der örtlichen Polizei eine Razzia in der Ailan Bar durch, um den Konsum illegaler Substanzen bei Veranstaltungen elektronischer Musik aufzudecken. Neben umfangreichen Waffenkontrollen und Drogentests war auch ein professionelles Kamerateam vor Ort, um die Razzia für die sozialen Medien zu dokumentieren. In der darauffolgenden Nacht wurde eine ähnliche Razzia im PLUR, einer weiteren Institution der Bischkeker Techno-Szene, durchgeführt. Beide Bars sind zentraler Bestandteil der elektronischen Musikszene Bischkeks und in der ganzen Stadt dafür bekannt, allen Partygästen – unabhängig von ihrem Background – einen sicheren Ort zu bieten.

In beiden Fällen zogen die Beamten ihre Waffen und zwangen die Anwesenden, sich mit auf dem Rücken gefesselten Händen auf den Boden zu legen, während sie die Lokale durchsuchten. Laut RFE/RL griff die Polizei in der Ailan Bar mehrere Personen an und verletzte eine Person am Bein und eine andere am Bauch.

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Bei beiden Razzien zeigten sich die Beamten sichtlich überrascht über die geringe Menge an illegalen Substanzen, die sie aufspüren konnten. In der Ailan Bar eröffneten die Beamten die Razzia mit einem Vortrag über „unverantwortlichen Drogenkonsum“, der jedoch wirkungslos verpuffte, da nur drei der Dutzenden Anwesenden positiv auf Cannabis getestet wurden. Im Polizeibericht zu dieser Nacht heißt es, man habe lediglich eine „fertige Zigarette mit Betäubungsmitteln“ und eine Packung eines legalen Antiepileptikums gefunden.

Das Fehlen nennenswerter Mengen an Drogen überraschte Tschyngys, einen der Teilhaber der Ailan Bar, nicht. „Unsere Szene ist in dieser Hinsicht recht gesund“, betonte er. Tschyngys erklärte, dass wie er selbst die große Mehrheit der Techno-Fans in Bischkek auf ihren Partys keine illegalen Substanzen konsumiert. „Ich denke, wer elektronische Musik wirklich liebt, braucht keine Drogen.“

Wie sich später herausgestellte, waren – im Gegensatz zu den meisten Besucher:innen der Bischkeker Techno-Clubs – einige der an der Razzia beteiligten Polizisten selbst in illegale Aktivitäten verwickelt. „Im Herbst las ich in den Nachrichten, dass einer der Ermittler, der bei der Razzia anwesend war, wegen Korruption angeklagt wurde“, erklärt Tschyngys.

Eine neue Welle des kirgisischen Populismus

Für Gäste und Personal gleichermaßen waren die Razzien ein beispielloser Schock. Bis dahin hatten beide Bars mit der örtlichen Polizei kooperiert und waren nie zuvor in Schwierigkeiten geraten. Sowohl das harte Vorgehen der Polizei als auch die anschließende Kommunikation deuten darauf hin, dass die Operationen von höchster Regierungsebene angeordnet worden waren.

Die Razzien passten perfekt zu Dschaparows aufkommender populistischer Agenda, traditionelle kirgisische Werte durchzusetzen. „In den Augen der Regierung müssen junge Menschen studieren und eine Familie gründen. Für Alkohol und Tanzen ist da kein Platz“, erklärt Tschyngys.

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Neben der Sensationsberichterstattung über Drogenmissbrauch in der elektronischen Musikszene stilisieren die Behörden die Techno-Szene Bischkeks zunehmend als Kanal für LGBTQ+-Einflüsse und stellen sie aufgrund der inklusiven Politik der Bars als Gefahr für die kirgisische Jugend dar. LGBTQ+-Jugendliche in Kirgistan sind bereits schwerer staatlicher und sozialer Repression ausgesetzt, und für viele sind die Partys mit elektronischer Musik in Bischkek der einzige Ort, an dem sie sich vollkommen frei entfalten können. Für die Betreiber der Techno-Institutionen in Bischkek ist dies eine rote Linie, von der sie nicht abrücken werden. „Unsere Hauptverantwortung liegt darin, für ein sicheres Umfeld für alle zu sorgen“, betont Tschyngys entschieden.

Die Repression macht Anpassung notwendig

Nach der Razzia passte die Bar PLUR ihre Strategien an die neue Welle staatlicher Repression an. Aufgrund begrenzter Ressourcen und unter staatlicher Beobachtung weigerten sich die Betreiber der Bar nachzugeben. „Wir hatten noch nicht viel erreicht. Wir hatten noch nicht allen gezeigt, was wir wirklich schaffen wollen“, sagt Innokentii, der Kreativdirektor von PLUR. „Bisher hat uns noch niemand einen Strich durch die Rechnung gemacht.“

Auch die Ailan Bar hielt in den Monaten nach der Razzia an ihrer Vision fest, ihrer Community Sicherheit und einen geschützten Raum zu bieten. Ihr offenes Engagement für die LGBTQ+-Community musste jedoch im neuen repressiven Klima in verdeckte Aktionen übergehen, um fortbestehen zu können. Vor den Razzien veranstaltete Tschyngys regelmäßig „Queere Abende“ in der Ailan Bar. Er möchte diese Veranstaltungen unbedingt fortführen, weiß aber, dass die öffentliche Werbung der Ailan Bar nun strategischer erfolgen muss. „Es geht darum, diskret zu sein. Queere Menschen müssen wissen, dass sie hier willkommen sind, aber gleichzeitig dürfen die falschen Leute nicht wissen, dass queere Menschen willkommen sind.“

Seit der Razzia hat die Ailan Bar ihren festen Standort geschlossen und ist zu einem Modell übergegangen, bei dem die Organisation für einmalige Veranstaltungen in ganz Kirgistan auftritt. Die Organisatoren der Bar geben an, sich in den abgelegeneren Regionen Kirgistans, fernab der staatlichen Überwachung, sicherer zu fühlen.

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PLUR firmiert nun unter dem neuen Namen QQ Bar und ist in kleinere Räumlichkeiten näher am Stadtzentrum umgezogen. Innokentii sieht den Umzug als Chance, aus Fehlern der Vergangenheit zu lernen. „Ich möchte das Ganze so stabil gestalten, dass es auch ohne mich weitergeführt werden kann, falls ich das Land verlasse. Ich bin nicht von hier – ich will hier nicht sterben“, sagt er. Wie viele andere aus Bischkeks Techno-Szene kam Innokentii aus Russland nach Kirgistan, um der Einberufung zum Kriegsdienst zu entgehen. Die Mitwirkung an der Schaffung von Räumen für elektronische Musik in Bischkek gibt ihm das Gefühl, der Subkultur in seiner Heimat nahe zu sein – einer Subkultur, die ihn weiterhin maßgeblich inspiriert.

Um das Überleben ihrer Subkultur zu sichern, hat Tschyngys innerhalb des Ailan Collective eine DJ-Schule gegründet, um die nächste Generation der rebellischen elektronischen Musikszene von Bischkek auszubilden und zu unterrichten.

Die Zukunft des Bischkeker Techno

Obwohl die gezielte Vorgehensweise der Behörden gegen Jugendkulturen in Kirgistan nichts Neues ist, bemerken Mitglieder der Bischkeker Techno-Szene, dass sich die aktuelle Repressionswelle anders anfühlt als die vorherigen. „Unter der vorherigen Regierung kann man das, was wir hatten, nicht als ‚Freiheit‘ bezeichnen. Wir wurden vernachlässigt. Wir konnten nur frei existieren, weil sich die Regierung nicht um uns scherte“, erklärt Tschyngys. „Jetzt drücken die Machthaber nicht mehr die Augen zu – sie haben einen Plan und setzen ihn um. Sie sind Populisten, und Populisten müssen Ergebnisse vorweisen, um das Volk zufriedenzustellen.“

Nach den Razzien gingen die Zahl der Besucher:innen in beiden Bars deutlich zurück. Da die Bars jedoch neue Strategien zur Vermeidung von Auseinandersetzungen mit der Polizei eingeführt haben, konnten sie weitere Angriffe der Regierung weitgehend abwehren. Gut anderthalb Jahren nach den Razzien ist das Publikum größtenteils zurückgekehrt. Die QQ Bar verzeichnet selbst in ihren kleineren Räumlichkeiten bei ihren beliebtesten Veranstaltungen mittlerweile über zweihundert Besucher:innen.

Die Techno-Szene in Bischkek ist ebenso vielfältig wie eng verbunden. Tschyngys merkt an, dass es ihm immer schwerfällt, die Zusammensetzung seiner Szene zu beschreiben, da sie sich über alle Altersgruppen, Berufe und Gesellschaftsschichten erstreckt. Innokentii hingegen betont, dass es ein gemeinsames Merkmal gibt: „Anders als in der Techno-Szene größerer Städte ist in Bischkek jeder, der kommt, ein Unikat.“

Da die Techno-Institutionen Bischkeks überlebt haben, dienen die Veranstaltungsorte heute als kultureller Treffpunkt für andere unterdrückte kreative Gemeinschaften der Stadt. Innokentii merkt an, dass es in der QQ Bar keine Seltenheit ist, Menschen aus der Kunstszene, der Barszene, der Rockszene und der Underground-Rapszene Bischkeks sich ungezwungen miteinander mischen zu sehen.

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Die Avantgarde der elektronischen Musikszene Bischkeks sieht die Kreativität und Widerstandsfähigkeit ihrer Szene mittlerweile als mehr als nur eine lokale Erfolgsgeschichte. Sie haben etwas Einzigartiges geschaffen, das sie mit der Welt teilen möchten. Trotz anhaltender Herausforderungen im Inland scheint kaum jemand in der Techno-Szene Bischkeks bereit zu sein, aufzugeben. „Wer Angst hat, macht mit Angst weiter. Also machen wir mit Angst weiter“, so Tschyngys.

Tschyngys ist überzeugt, dass die Fähigkeit der Techno-Szene, sich immer neuen Herausforderungen anzupassen und unterschiedliche Gemeinschaften zu vereinen, nicht nur ihr Überleben in Bischkek gesichert hat, sondern auch das Wesen dieser Community offenbart. „Techno hat die Kraft, völlig unterschiedliche Menschen mit völlig unterschiedlichem Hintergrund zusammenzubringen – Menschen, die vielleicht nicht einmal dieselbe Sprache sprechen. Aber sie lieben Techno und genießen den Raum, den er bietet. Aus dem Nichts entsteht eine gemeinsame Basis.“

Joseph Fisher für Novastan

Aus dem Englischen von Robin Roth

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