Das Bischkeker Musikduo Wtoroj Ka hat vor kurzem sein drittes Album veröffentlicht: karnevalesker Postpunk mit einer Bilderwelt, in der nichts so ernst ist, wie es scheint. Unsere Rezension.
„Diese postsowjetischen Städte haben schon viel Quatsch gesehen/ Aber beim nahen Anblick dieser kirgisischen Truppe gibt’s irgendwie plötzlich einen Lockdown!“, heißt es im Refrain der im Februar 2023 veröffentlichten Single „Heißt die Sсheißkerle willkommen“. Das retroästhetische Video dazu zeigt eine ausgelassene Hochzeitsgesellschaft, die die kirgisische Hauptstadt Bischkek aufmischt. Der Zuhörer ist gewarnt: Die „Scheißkerle“ kommen, um mächtig Unruhe zu stiften.
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Als vereinsgetragene, unabhängige Plattform lebt Novastan vom Enthusiasmus seiner ehrenamtlichen Mitarbeiter:innen – und von eurer Unterstützung!Scheißkerle – auf Russisch Gownjuki – nennen sich Sultan und Ilija als Duo Wtoroj Ka, derzeit eine der aufregendsten Musikgruppen Zentralasiens. Den Begriff haben sie von einem Videoblogger übernommen, der sie damit verspottete, und ihn ins Positive gewendet. Wie Sultan in einem langen Interview mit dem Online-Magazin SRSLY sagt: „[Wir sind] zwei Scheißkerle. Wir sind Forscher. Solche, die keine Angst haben, etwas auszuprobieren, und die ständig auf der künstlerischen Suche sind.“
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Anfang Mai hat Wtoroj Ka nun sein drittes Album vorgelegt: Swinaja Poputka, ein geheimnisvoller Titel, den man wörtlich mit „Schweinische Mitfahrgelegenheit“ übersetzten könnte – eine nicht ganz unzutreffende Beschreibung des Hörerlebnisses. Eröffnet wird es mit der einladenden Basslinie von „Teni ot pal’m“ (Palmenschatten): „Komm bring mich schnell dorthin, wo die Palmenschatten sind…“
Ein fröhliches Joy Division
Der Song, der bereits im Juni 2022 zusammen mit einem in Bischkek und am Yssykköl-See gedrehten Musikvideo veröffentlicht wurde, ist der bisher erfolgreichste Hit der beiden. Insgesamt sechs der elf Stücke des Albums waren zuvor bereits als Singles erschienen, alle mit witzigen und farbenfrohen Videos. Eingefleischte Fans der Gruppe werden also so manches wiedererkennen, aber in jedem Fall bietet Swinaja Poputka eine musikalisch reizvolle halbe Stunde.
Seit ihrem Debütalbum „Den‘ Zawisimosti“ (2020), das noch eindeutig ein Rap-Album war, scheinen sich Wtoroj Ka immer weiter in die musikalische Vergangenheit zurückzubewegen. Das zweite Album, Serial (2022), zeigt Ausflüge in den alternativen Teenie-Rock der 2000er Jahre und die jüngsten Stücke sind voller Anspielungen auf den Post-Punk der 1970er und 1980er Jahre.
Der charakteristische Sound aus Bass, Drumcomputer und Synthesizer, der laut einem Kritiker teilweise sogar an die spätsowjetische Kultband Kino um Wiktor Zoi erinnert, untermalt hier jedoch nicht wie so oft eine düstere Klanglandschaft. „Wtoroj Ka spielen Postpunk, aber ihre Musik hat nicht den genretypischen depressiven Vibe“, betont das Hip-Hop-Magazin The Flow. Im Gegenteil: Swinaja Poputka ist voller bunter Ironie – eine Art fröhliches Joy Division, wie die mit englischsprachiger Musik Aufgewachsenen sagen könnten (zumal Sultans Bassstimme der von Ian Curtis gar nicht so unähnlich ist).
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Überhaupt finden sich musikalische Referenzen und Zitate in Hülle und Fülle, sei es im Text selbst („Eine alte Kassette, Vernissage in den Lautsprechern“) oder in den musikalischen Elementen. Die Reels, mit denen Sultan und Ilija in den sozialen Medien für ihre Musik werben, wirken wie Bauanleitungen. Zum Beispiel für Dura (Dummchen), ihre neueste Single: „Oh, versuch hier mal, wie Schanna Agusarowa zu singen“, eine exzentrische russischsprachige Sängerin, die vor allem in den späten 80er Jahren erfolgreich war.
Sex, Drogen und Gangsterromantik
Während Swinaja Poputka die Hörer:innen musikalisch in die 80er Jahre entführt, bezieht es sich inhaltlich vor allem auf das erste Jahrzehnt der Unabhängigkeiten nach dem Ende der Sowjetunion. In den Worten eines anderen Rezensenten: „Die Hauptfiguren in diesen Liedern sind Banditen und Scheißkerle aus den Zeiten der wilden 90er, solche Landstraßenromantiker“.
Symbol dafür ist der „getönte Kaban“, der auf dem Albumcover vor dem Hintergrund der Hochhäuser von Bischkek und einem „Kosch Kelingizder“-Schild (kirg. für „Herzlich Willkommen“) thront. Bei genauerem Hinsehen erkennt man auf dem Schild auch eine „Schweineente“, die Signatur des Graffiti-Künstlers Cherv1, die so manche Wand in Bischkek ziert. Kaban – russisch für Wildschwein – bezeichnet im Volksmund den Mercedes W-140, ein besonders unter Neureichen und Mafiosi der postsowjetischen 1990er Jahre beliebtes Statussymbol. Auf der Motorhaube prangt allerdings statt des üblichen Sterns ein Schweinerüssel.
Dem „getönten Kaban“ ist auch die gleichnamige Single gewidmet, in der sich Sultan und Ilija als Musikdealer inszenieren: Die Rolle des Obermafioso im Musikvideo spielt Bakaj Koltschajew, Direktor des Bischkeker Musiklabels Infinity Music, das auch die Musik von Wtoroj Ka unter die Leute bringt.
Doch ganz im Gegensatz zur russischen Kultserie Brigada, die den „Kaban“ endgültig mit den kriminellen 90er Jahren in Verbindung brachte, geht es bei Swinaja Poputka nicht so ernst zu. „Wir wollen nicht ernst genommen werden – so wie ein Skriptonit. Wir wollen einfacher sein, mit Ironie. Mal ernst, aber mit ein bisschen Spaß“, fasst Ilija den Ansatz der Gruppe zusammen.
Durch Musik, die bunte Bildsprache und Sprachwitz werden die eigentlich ernsten Bezüge ins Karnevaleske verfremdet. Bezeichnend dafür ist das Musikvideo von Dura, dessen skurrile Figuren wie aus Alices Wunderland zu stammen scheinen. Zugleich ist das Stück gespickt mit Anspielungen auf die Welt der erotischen Webcams, ein ebenso lukratives wie auch zwielichtiges Geschäft in Kirgistan, und ein wiederkehrendes Motiv in Wtoroj Kas Werk.
So spricht der Text von Dura von „ihren“ Verehrern (Uchaschjory), die „ihr von ganzem Herzen und so ernst Geld schenken“, während sie immer wieder „auf Sendung“ geht. Ähnliches gilt auch für das äußerst tanzbare Ona sowsem odna (Sie ist ganz allein): „Ihr Körper ist ein Hochglanzcomic für Erwachsene“, und weiter: „Alle Verehrer sind wild, mit regen Bewegungen, unbewaffnet/ Im Chat tummeln sich Onkel über 40“.
Romantisch wirkt die Unterwelt von Wtoroj Ka mit ihren doch sehr sympathischen Charakteren, immer auf der Suche nach dem nächsten „Dwisch“, dem nächsten Coup. In Boomerang versteckt sich ein Paar in trauter Zweisamkeit in Erwartung des nächsten Dwischs vor vagen Gefahren: „Hier sind wir ein leichtes Ziel/ Lass uns diese Dächer verlassen“, ob metaphorisch oder wörtlich gemeint. „Wir müssen noch nicht sterben“, heißt es da, wie auch in Teni ot Pal’m, das von einem Mädchen erzählt, das zu einer „großartigen Schützin“ geworden ist, wohl nicht ohne Anspielung auf Luc Bessons Leon – Der Profi.
Klar, denn wer stirbt, kann keinen Spaß mehr haben. Der Rausch, die künstlichen Paradiese ziehen sich wie ein weiteres Leitmotiv durch das Album. Der Sehnsuchtsort, wo die Palmen stehen, ist einer, „wo ein Kilo Stoff für die Nase ‘nen Tausender kostet“. Oder Pomjat (Zerknittert), ein wildes Stück über den Zustand, „wenn nichts da ist, um sich aufzuladen“. Bong sticht mit seinem Rock’n-Roll-Rhythmus besonders hervor und ist, wenig überraschend, der Wasserpfeife gewidmet, die laut Text übrigens unbedingt in Wtoroj Kas Stage Riders (oder dem ihrer Kunstfiguren?) vorkommen sollte.
Lupenreines Handwerk
Swinaja Poputka besticht nicht zuletzt durch die ebenso detailreiche wie lupenreine Produktion, alles Handarbeit von Sultan und Ilija, die nach eigenem Bekunden gerne „alles von Anfang bis Ende“ kontrollieren, wenn es um ihre Songs geht. Ohne ihre Songs zu überfrachten, schaffen sie es, dass man sich auch beim hundertsten Hören noch von einem Geräusch im Hintergrund, einem einfallsreichen Reim oder einer besonders gelungenen Überleitung überraschen lassen kann.
Die Stücke sind kurzweilig, alle etwa zweieinhalb Minuten lang, mit flotten Intros – und passen damit perfekt ins Streamingzeitalter. Hört man das ganze Album in einem Rutsch durch, kann man allerdings das Gefühl bekommen, langsam genug zu haben vom Zusammenspiel von Bass und Drumcomputer.
Aber auch darauf haben Wtoroj Ka, die sich bei ihrer Arbeit wohl ganz ähnlich gefühlt haben, eine Antwort: „Wir möchten sagen, dass wir mit diesem Album unsere Post-Punk-Geschichte abschließen. Von nun an wird es andere Songs geben, andere Videos, vielleicht ein anderes Wir.“ Wir können also gespannt bleiben – und schnell in ihrer Videothek stöbern –, um noch behaupten zu können, dieses Juwel entdeckt zu haben, bevor es Mainstream wurde.
Florian Coppenrath
Für Novastan.org
Swinaja Poputka kann auf allen Streaming-Diensten gehört werden.
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