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Wachsender Autoritarismus und Machtkrise in Zentralasien

In den vergangenen Jahren waren die zentralasiatischen Staaten wiederholt von politischen und wirtschaftlichen Erschütterungen betroffen. Unter den Bewohner:innen der Region wachsen Ungleichheit und Armut, da sich ihre Regierungen nicht um eine gerechtere Verteilung ökonomischer Vorteile kümmern. Als Reaktion darauf kommt es zu großen Protesten, welche die Machthabenden gewaltsam unterdrücken und als Lösung des Problems lediglich oberflächliche Maßnahmen anbieten. All dies führt zu einer Legitimitätskrise der politischen Regime und verstärkt den Autoritarismus. Expert:innen gehen davon aus, dass es in der Region zu weiteren sozialen Konflikten kommen wird.

Der Autoritarismus in Zentralasien nimmt zu, Photo: akorda.kz

In den vergangenen Jahren waren die zentralasiatischen Staaten wiederholt von politischen und wirtschaftlichen Erschütterungen betroffen. Unter den Bewohner:innen der Region wachsen Ungleichheit und Armut, da sich ihre Regierungen nicht um eine gerechtere Verteilung ökonomischer Vorteile kümmern. Als Reaktion darauf kommt es zu großen Protesten, welche die Machthabenden gewaltsam unterdrücken und als Lösung des Problems lediglich oberflächliche Maßnahmen anbieten. All dies führt zu einer Legitimitätskrise der politischen Regime und verstärkt den Autoritarismus. Expert:innen gehen davon aus, dass es in der Region zu weiteren sozialen Konflikten kommen wird.

Der folgende Artikel von Almas Kaysar und Dimitri Mazurenko erschien erstmals am 23. Juni 2023 auf Vlast.kz. Wir übersetzen ihn mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.

Häufig werden die Pandemie und der Krieg in der Ukraine als Hauptgründe für die Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation in Zentralasien genannt. Franco Galdini, Post-Doc an der Universität Manchester, forscht zur politökonomischen Transformation der Region seit 1991. Er sagt, dass die Vulnerabilität der Bewohner:innen durch den Aufbau der Wirtschaft dieser Länder bedingt wird.

Demnach stützt sich die Wirtschaft auf den Erhalt ausländischer Devisen durch den Export von Rohstoffen, was erlaubt, Staat und Gesellschaft am Laufen zu halten. Dieses System verwehrt den Ländern der Region aber auch die Möglichkeit, industrielle Produktionsketten aufzubauen, um breite Teile der Bevölkerung mit einem ausreichenden Einkommen sowie Arbeitsplätzen zu versorgen.

Die industrielle Produktion stützt sich vor allem auf die Einnahmen aus dem Rohstoffverkauf, welche steigen, wenn die Rohstoffpreise hoch sind, aber auch genauso sinken, wenn diese Preise fallen. Die Einnahmen aus dem Rohstoffverkauf werden durch die staatliche Bürokratie ausgeschüttet, oft auf Einzelfallbasis, was zu einem hohen Korruptionsniveau führt“, erläutert Galdini.

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Elmira Satybaldieva, Senior Research Fellow am Forschungszentrum für Konfliktanalyse der Universität Kent, konstatiert, dass die zentralasiatischen Staaten über 30 Jahre hinweg ihre wirtschaftliche Abhängigkeit von Rohstoffen nicht überwinden konnten. Diesem Ziel nahe kam nur Kirgistan, dies jedoch auch vor allem bedingt durch die Erschöpfung der der Goldreserven am größten Vorkommen der Region, in Kumtör.

Den Ländern der Region fällt es sehr schwer, ausländische Investitionen in den Produktionssektor anzuziehen, mit Ausnahme von Kasachstan und Usbekistan, die hierfür ihre eigenen Ressourcen haben“, stellt Satybaldieva klar.

Ungeachtet der schwierigen wirtschaftlichen Situation bleiben die Bevölkerungen der zentralasiatischen Staaten weitgehend entpolitisiert. Der Grund hierfür liegt in der neoliberalen Politik westlicher Länder, welche den Blick auf die Staaten der Region verengt und diese lediglich als Quellen von Bodenschätzen und Einnahmen aus deren Verkauf erscheinen lässt.

Man muss verstehen, dass die Weltgemeinschaft von Beginn an kein Bestreben hatte, die Demokratie in der Region zu fördern. Allein der Zugang zu billigen Rohstoffen erschien wichtig. In dieser Hinsicht sind neoliberale Politik und Demokratie nicht besonders kompatibel und widersprechen sich sogar“, fügt Satybaldieva hinzu.

Bei demokratischen Herrschaftsverhältnissen würde es den zentralasiatischen Staaten nicht gelingen, die für eine Mehrheit der Bevölkerung so schmerzhafte Privatisierung, Deregulierung der Finanzmärkte und Kürzung der Sozialausgaben durchzusetzen. Nach Meinung der Forscherin führt die Durchführung von neoliberalen Reformen nach einigen Jahren nur zu einem Ergebnis: zur Ergreifung der Macht im Land durch einen Teil der Elite und der Konzentration des Kapitals in den Händen einiger weniger. Darauf folgt eine gigantische soziale Spaltung, die die Legitimität der herrschenden Schicht untergräbt.

Von Protesten und ihrer Unterdrückung

Trotz der weit verbreiteten Entpolitisierung der zentralasiatischen Gesellschaften, stießen die wirtschaftliche Benachteiligung und die Legitimitätskrise der Machthabenden die Menschen dennoch zu Massenprotesten an. Im Jahr 2022 breiteten diese sich über fast die ganz Region aus.

Die Proteste in Kasachstan begannen nach einem drastischen Preisanstieg auf Flüssiggas. Die Proteste in Usbekistan wurden angestachelt durch den Versuch, die in der Verfassung verankerte Souveränität Karakalpakstans anzutasten. Bewohner:innen und Aktivist:innen Kirgistans versammelten sich zu Protestaktionen, um gegen die Übergabe des Kempir-Abad-Staussees an Usbekistan und gegen politische Repressionen zu demonstrieren. Und Bewohner:innen der Region Berg-Badachschan in Tadschikistan  gingen auf die Straßen, da die Behörden des Landes nach einer Reihe von Morden und Verhaftungen von Zivilst:innen nichts unternahmen.

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In diesen Ländern gewannen die Proteste schnell einen sozialen Charakter. Die Menschen brachten ihre Unzufriedenheit über die Ungleichheit und die politische Willkür der Elite zum Ausdruck. In Kasachstan, Usbekistan und Tadschikistan führte dies zu gewaltsamen Zusammenstößen mit der Polizei und einer Welle von Morden an einfachen Bürger:innen. In keinem dieser Länder kam es darauf zu einer internationalen und transparenten Untersuchung der Ereignisse.

Im Anschluss an die Proteste brach in allen Staaten der Region eine neue Welle an Repression los. In Kasachstan wuchs der Druck auf politische Aktivist:innen und Journalist:innen. In Karakalpakstan wurde die Zivilgesellschaft unterdrückt. Die tadschikischen Behörden versuchten, die Selbstorganisation der Menschen einzudämmen, indem sie Ansammlungen zum Gebet in Privathäusern in Berg-Badachschan verboten und nur noch in offiziellen islamischen Zentren erlauben – von diesen gibt es jedoch lediglich zwei im ganzen Land. In Kirgistan wurde die Redefreiheit eingeschränkt sowie Journalist:innen und Aktivist:innen verfolgt. Dabei wird eine große Gruppe von Journalist:innen und Aktivist:innen von den Machthabenden verhaftet und beschuldigt, einen Staatsstreich vorbereitet zu haben.

Steigende Preise, Krieg und Armut

Das Hauptproblem der letzten Jahre war für die zentralasiatischen Länder die Inflation, welche in den meisten Staaten bis heute anhält. Der sprunghafte Anstieg ist auf Unterbrechungen der Lieferketten, höhere Kraftstoffpreise und steigende Lebensmittelkosten zurückzuführen. Darüber hinaus wirkt sich eine Krise der Energieinfrastruktur negativ auf die Volkswirtschaften der Region aus, welche mit abendlichen Stromausfällen einhergeht.

Die Aufwertung des Rubels ließ die Löhne von Arbeitsmigrant:innen aus Tadschikistan, Kirgistan und Usbekistan ansteigen, wobei das BIP dieser Länder erheblich von diesen Geldtransfers aus Russland abhängt. Dieser Faktor, zusammen mit dem Re-Export von Waren nach Russland und dem Geldzufluss von Russ:innen, die vor der Mobilisierung in die zentralasiatischen Staaten fliehen, haben die wirtschaftliche Lage in diesen Ländern wieder beruhigt. Auf die Volkswirtschaften Turkmenistans und Kasachstans wirkten sich die steigenden Energiepreise positiv aus.

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Nichtsdestotrotz löste dies nicht das strukturelle Problem der „Arbeitsarmut“ in den zentralasiatischen Staaten. In Kasachstan sind rund 2,1 Mio. Menschen selbstständig: 81,4 Prozent von ihnen verdienen dabei im Monat weniger als 443 US-Dollar, dem nationalen Mediangehalt. Zusätzlich arbeiten 1,1 Millionen Menschen inoffiziell. Rund eine Millionen Bürger:innen Kirgistans arbeiten im Ausland. Grund dafür ist der Mangel an sicheren Arbeitsplätzen in der Heimat. Dies entspricht fast der Hälfte der arbeitenden Bevölkerung. Die Anzahl an Arbeitsmigrant:innen aus Tadschikistan beläuft sich auf circa 700 Tausend (ungefähr 30 Prozent der arbeitenden Bevölkerung). Aus Usbekistan reisten mehr als 2,3 Millionen Menschen auf der Suche nach Arbeit aus und fast die Hälfte der Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter ist im informellen Sektor tätig.

Mit Ausnahme der Industriearbeiter:innen und Angestellter einiger Sektoren, wie etwa dem Finanzsektor, stagniert oder sinkt der Lebensstandard für die überwiegende Mehrheit der Menschen“, stellt Galdini fest.

Die Führungen der zentralasiatischen Staaten reagieren unterschiedlich auf die sich verschlechternde wirtschaftliche Lage der Bevölkerung. Als gemeinsame Antwort kann jedoch eine Politik des „Gürtel-enger-Schnallens“ gesehen werden. In einigen Ländern wurden die Gehälter von Angestellten des öffentlichen Sektors erhöht, sowie teils auch die Sozialausgaben. Die Wirkung dieser Maßnahmen wurde jedoch durch steigende Preise für Waren und Dienstleistungen, insbesondere für Lebensmittel, die 40 bis 50 Prozent aller Haushaltsausgaben ausmachen, wieder zunichte gemacht.

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Als Antwort auf die Energiekrise entschlossen sich die Staatsführungen der zentralasiatischen Länder, die Gebühren für kommunale Dienstleistungen und Elektrizität anzuheben, in Usbekistan wurden gar energieintensive Betriebe privatisiert.

Darüber hinaus haben die rohstoffexportierenden Länder Kasachstan und Usbekistan begonnen, den rhetorischen Fokus mehr auf Importsubstitution und den Ausbau eigener Produktionsstätten zu legen. Bedeutende Schritte für eine Umsetzung in diese Richtung wurden jedoch noch nicht unternommen.

Eine sich fortsetzende Legitimitätskrise

Die kürzlichen wirtschaftlichen Erschütterungen verschärfen noch die ohnehin schon greifbare Legitimitätskrise der herrschenden Elite. Die zentralasiatischen Staaten befinden sich dabei in verschiedenen Phasen, diese zu überwinden.

In Kasachstan, Kirgistan und Usbekistan hat die politische Führung bereits gewechselt und es geht um eine Festigung der Ordnung, während in Tadschikistan und Turkmenistan ein Wechsel kurz bevorsteht. Der Austausch herrschender Personen und der mit ihnen verbundenen Elitengruppen führt jedoch zu keinen tatsächlichen Veränderungen.

Die Ereignisse um „Qandy Qantar“ [Anm. d. Red.: „Blutiger Januar“] in Kasachstan zeigten die Fragilität der zentralasiatischen Regime, die den Forderungen nach politischem Wandel keine Beachtung schenken und die wirtschaftliche Unzufriedenheit der Bevölkerung ignorieren. In diesem Fall sind Repressionen die einzige langfristige Lösung, um Stabilität zu gewährleisten“, konstatiert Luca Anceschi, Professor für Eurasische Studien an der Universität Glasgow.

Nach den Ereignissen im Januar 2022 verkündete Qasym-Jomart Toqaev den Aufbau eines „neuen und gerechten Kasachstans“, führte im Land ein Referendum über Verfassungsänderungen und hielt vorgezogene Präsidentschafts- und Parlamentswahlen ab. Vertreter:innen der Zivilgesellschaft wurden dabei in ihrer Beteiligung eingeschränkt und es kam zu massenweiser Falsifikation von Stimmen. Trotz der Verlautbarung des Präsidenten über die „Unzulässigkeit sozialer Ungleichheit“, steigt das Gesamtvermögen der reichsten Menschen Kasachstans und das Regime verhält sich weiterhin feindlich gegenüber zivilen Protesten.

Nach den Demonstrationen in Berg-Badachschan setzten sich die Repressionen in Tadschikistan fort. Dies geschah vor dem Hintergrund des Übergangs der Macht von Emomali Rahmon, der das Land seit 1994 regiert, zu seinem Sohn Rustam Emomali, der bereits Führungspositionen innehat. Im vergangenen Jahr nahmen die Behörden des Landes nicht weniger als acht Journalist:innen fest und schlossen ein unabhängiges Menschenrechtszentrum. Gleichzeitig werden weiterhin tadschikische Aktivist:innen, die nach Russland geflohen sind, entführt und ihre Angehörigen verhaftet.

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Trotz der Annullierung der Verfassungsänderungen, durch die Karakalpakstan seine Autonomie verloren hätte, setzt der usbekische Präsident Shavkat Mirziyoyev durch die Anwendung von Gewalt die autoritären Praktiken seines Vorgängers Islom Karimov fort. Im gleichen Atemzug in dem im Land eine Politik des „Neuen Usbekistans“ mit einem Fokus auf ökonomische Liberalisierung und Amnestien für einen Teil der „politische Gefangenen“ angekündigt werden, führt Mirziyoyev ein Verfassungsreferendum durch, welches ihm die Möglichkeit gibt, für zwei weitere Amtszeiten anzutreten. Dies geschah vor dem Hintergrund von Festnahmen karakalpakstanischer Aktivist:innen und einer totalen Abwesenheit von politischen Konkurrent:innen. Die nächsten, vorgezogenen Wahlen fanden am 9. Juni 2023 statt [Anm. d. Red.: Mirziyoyev ging aus diesen als deutlicher Sieger hervor].

In Kirgisistan arbeitet Präsident Sadyr Dschaparow, der nach einer weiteren „Revolution“ im Oktober 2020 an die Macht gab, nun beständig daran, seine Macht zu konsolidieren, unter anderem durch eine weitere Verfassungsänderung. Die Übernahme der Macht durch Dschaparow kann als Reaktion auf die Forderungen der Menschen nach einem charismatischen Landesführer gesehen werden, einer starken Hand, die in der Lage ist, sich über den bisherigen Eliten zu erheben, um die wirtschaftlichen Probleme einer Mehrheit der Bevölkerung zu lösen. Von diesen Erwartungen profitierend, kehren Dschaparow und sein Umfeld das Land in eine Regierungsform mit starker Position des Präsidenten um und beschlagnahmen gleichzeitig große Vermögenswerte.

In Turkmenistan ist die Situation genauso wie immer. Möglicherweise ein bisschen schlechter“, konstatiert der Forscher und Journalist Bruce Pannier. Er berichtet außerdem davon, wie sich das Land verändert, nachdem Gurbanguly Berdimuhamedow die Präsidentschaft an seinen Sohn Serdar übergeben hat. In den Medien verbreiteten sich demnach aktiv Gerüchte über Unstimmigkeiten zwischen Vater und Sohn, nachdem Serdar begonnen hatte, Verwandte und Personen aus dem Umkreis seines Vaters zu attackieren. „Allerdings wurde in diesem Jahr auch eine Reform eingeführt, die das Oberhaus des Parlaments, die Halk Maslahaty, zum obersten Organ macht. Dessen Vorsitz hat Berdimuhamedow Senior, sodass der Ex-Präsident bei allen wichtigen politischen Entscheidungen nicht umgangen werden kann.

Diese politischen Prozesse entwickeln sich vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine und den sich dadurch verstärkenden Gegensätzen zwischen den größten geopolitischen Einflusskräften.

Die Oberhäupter der zentralasiatischen Staaten stehen dieser Situation ambivalent gegenüber, da sich daraus sowohl Gewinne als auch Gefahren ergeben. Der Profit besteht darin, dass die Marginalisierung Russlands durch den Westen ihnen mehr Möglichkeiten bietet, ihre Forderungen an Russland als größte Volkswirtschaft im postsowjetischen Raum heranzutragen. Andererseits hängt die Legitimität vieler der zentralasiatischen Staatsoberhäupter vom russischen Sicherheitsapparat ab, um die in den Ländern immer wieder aufkommende Massenunzufriedenheit im Schach zu halten (wie bei den Januar-Unruhen in Kasachstan).

Gleichzeitig baut die Legitimität der zentralasiatischen Staatsführungen – der neuen, wie der alten – zunehmend auf der Annahme auf, dass allein diese in der Lage seien, ihre Länder in Zeiten wachsender wirtschaftlicher und/oder geopolitischer Probleme zu beschützen. Sie versprechen, Maßnahmen zu ergreifen, um das gesellschaftliche System umzustrukturieren und irgendwie auf die Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit und außenpolitischer Stabilität zu reagieren. Dies bietet ihnen die Möglichkeit, als alleinige politische Vertreter des Volkes aufzutreten und damit gerade diese anderen politischen Institutionen und oppositionelle Kräfte zu verdrängen.

Welche Zukunft erwartet die zentralasiatischen Staaten?

In Zentralasien sind die vom Regime verordneten Fortschrittsideen in einer Illusion des Neuen – „Neues Kasachstan“ oder „Neues Usbekistan“ – verwurzelt, die von Toqaev und Mirziyoyev gefördert wird. Obwohl ich einen Unterschied sehe zwischen der Politik Karimovs und den aktuellen autoritären Modernisierungstendenzen in Usbekistan unter Mirziyoyev (welche darüber hinaus an Geschwindigkeit verlieren), fällt es mir schwer zu verstehen, was es „Neues“ im Kasachstan nach der Nazarbaev-Ära gibt“, sagt Luca Anceschi.

Temur Umarov, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Russland und Eurasien Programm des Carnegie Center in Berlin, sagt, dass keiner der neuen Präsidenten in Kasachstan, Usbekistan und Kirgistan strukturelle Reformen durchführt und dies auch in der Zukunft nicht zu erwarten ist. Die Machthabenden in Tadschikistan und Turkmenistan seien genau wie früher auf den Stabilitätserhalt ausgerichtet.

Aber die Regime werden dennoch anpassungsfähiger – sie hören zu und erkennen einige Probleme, weil sie in einer veränderten, stärker technologisierten Welt mit einer jüngeren und aktiveren Bevölkerung leben. Einige Veränderungen finden dort natürlich statt“, konstatiert Umarov.

Die alte politische Elite sieht die Forderungen nach Populismus und passt sich diesen an, so Elmira Satybaldieva. Aber tatsächliche Veränderungen verspräche die Elite nicht. Ihrer Meinung nach resultiere dies alles in der Gründung dekorativer politischer Einrichtungen sowie einem Anschein von Korruptionsbekämpfung, wobei die Präsidenten bestimmte Mitglieder der Elite ins Visier nehmen und diese zwingen, „freiwillig“ Kapital ins Land zurückzuführen. „Aber niemand beschäftigt sich damit oder versucht zu verstehen, wie die Umverteilung der Ressourcen geschieht und an wen die Ressourcen gehen“, so Satybaldieva.

Als Folge dessen, dass die politische Elite der zentralasiatischen Länder keine Alternativen anbieten, bleiben die Bedingungen für wiederholte soziale Unruhen bestehen. Sie werden auch durch die Struktur ihrer Volkswirtschaften begünstigt. Früher oder später werden ihre Ressourcen erschöpft sein, woran sich eine Haushaltskrise anschließt, resümiert Satybaldieva. Franco Galdini fügt hinzu, dass die Priorisierung des Rohstoffexports vor der lokalen Industrialisierung schon lange zu einer hohen Zahl von arbeitslosen oder unterbeschäftigten Bürger:innen beiträgt. Und ohne zunehmend stärkere Repressionen, wird es nicht möglich sein, sie von Massendemonstrationen abzuhalten.

Umarov unterstreicht, dass neben der Ungleichheit und der sich verschlechternden wirtschaftlichen Situation auch eine Spaltung der Eliten ein nicht unerhebliches Risiko für die zentralasiatischen Regime darstellt. Zu diesen könnte es bei einem der zukünftigen Machtwechsel kommen. „Toqaev, Mirziyoyev und Rahmon sind nicht mehr jung. Früher oder später müssen sie darüber nachdenken, wie sie die Lebensdauer ihres politischen Regimes verlängern können. Das ist ein fragiler Prozess, bei dem vieles schief laufen kann“, so Umarov.

Almas Kaysar und Dimitri Mazurenko für Vlast

Aus dem Russischen von Marie Schliesser

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