Die Wissenschaftlerin und Übersetzerin Mahabat Sadyrbek hat kürzlich das erste deutschsprachige Nachschlagewerk zur kirgisischen Grammatik veröffentlicht. Novastan hat mit ihr gesprochen.
Ende Mai dieses Jahres erschien im Dr. Reichert Verlag die „Kirgisische Grammatik“ von Dr. Mahabat Sadyrbek, assoziierte Wissenschaftlerin am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung in Halle an der Saale und stellvertretende Vorstandsvorsitzende des deutsch-kirgisischen Kulturvereins. Sie ist darüber hinaus als Übersetzerin, u.a. aus dem Kirgisischen ins Deutsche, tätig.
Das Buch umfasst über 300 Seiten und ist laut Verlag eine „Mischung aus normativer, wissenschaftlicher und vergleichender Grammatik des Kirgisischen, die in einer westeuropäischen Sprache in dieser Form bisher nicht existierte.“ Rosa Otunbajewa, die ehemalige Präsidentin der Kirgisischen Republik, würdigte dieses Werk mit einem persönlichen Vorwort.
Novastan hat sich mit der Autorin über die Entstehungsgeschichte des Buches, die Eigenheiten der kirgisischen Sprache und ihr nächstes großes Projekt unterhalten.
Novastan.org: Liebe Mahabat, herzlichen Glückwunsch zur Veröffentlichung des Buches. Wie ist die Idee zu diesem Buch entstanden und wie lange hat es von der ersten Idee bis zur endgültigen Umsetzung gedauert?
Mahabat Sadyrbek: Die Inspiration für dieses Buch entsprang vor vielen Jahren, als ich nach Berlin zog, um hier zu promovieren. Zu dieser Zeit erhielt ich vom Auswärtigen Amt den spannenden Auftrag, einem Diplomaten Kirgisisch beizubringen, der ein halbes Jahr später zur deutschen Botschaft in Bischkek versetzt werden sollte. Es wurde schnell deutlich, dass die vorhandenen Lehrmaterialien seinen Anforderungen nicht gerecht wurden, da er bereits mehrere äußerst unterschiedliche Fremdsprachen beherrschte.
Ich entschied mich also dafür, ein umfassendes Lehrbuch zu verfassen, welches alle Aspekte der kirgisischen Sprache umfänglich behandelt. Im Jahr 2011 entstanden die ersten Skizzen und Entwürfe für dieses Buch, die schließlich ihre Form in einem Werk fanden, das die Essenz und Vielfalt der kirgisischen Sprache in ihrer ganzen Pracht einfängt und hoffentlich vielen Lernenden und Sprachbegeisterten von Nutzen sein wird.
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Nachdem meine Mission mit Sprachvermittlung im Auswärtigen Amt endete, nutzte ich meine Freizeit neben meiner Dissertation und späteren wissenschaftlichen Tätigkeit für die Weiterentwicklung des Lehrbuches. Es war ein langer und manchmal mühsamer Prozess, der diesem endgültigen Manuskript mündete, das stolze 350 Seiten umfasst. Die Bearbeitung im Verlag nahm ein ganzes Jahr in Anspruch.
Das klingt nach einer Menge Arbeit und vielen schlaflosen Nächten. An wen richtet sich das Buch denn?
Es richtet sich hauptsächlich an Wissenschaftler und andere Fachleute, die sich für die kirgisische Sprache interessieren. Es ist keine leichte Lektüre und dürfte für Kinder und Jugendliche eher eine Herausforderung darstellen. Aber auch allgemein Interessierte, die eine gründliche und fundierte Kenntnis der Sprache anstreben, können von der Lektüre profitieren.
Mein vorrangiges Ziel war es, eine solide Grundlage zu schaffen, auf der weitere Lehrmaterialien und Forschungen aufbauen können. Insofern kann man sagen, dass es in Deutschland eine Leerstelle füllt und einen Beitrag zur Vertiefung des Verständnisses der kirgisischen Sprache und Kultur leistet. Das Buch ist allerdings auch für die Kirgisen selbst interessant, die in Deutschland leben und versuchen, die kirgisische Sprache als kulturelles Erbe an ihre Kinder weiterzugeben.
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Bei der Arbeit am Buch konnte ich übrigens feststellen, dass es neben den vielfältigen Unterschieden zwischen der kirgisischen und der deutschen Sprache auch interessante Gemeinsamkeiten gibt. Am Ende gibt es auch einen praktischen Übungsteil mit Audioaufnahmen, der den Lernprozess bereichert und lebendig gestaltet. Das Buch ist nicht nur ein Lehrwerk, sondern fungiert auch als Nachschlagewerk, das es den Lesenden ermöglicht, gezielt spezifische Inhalte zu nutzen, ohne es von vorne bis hinten durcharbeiten zu müssen. Es gibt kein vergleichbares Buch zur kirgisischen Grammatik in irgendeiner anderen europäischen Sprache, mit Ausnahme des Russischen.
Du hast gerade Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen der deutschen und der kirgisischen Sprache erwähnt. Könntest du uns ein paar nennen, die du für besonders wichtig hältst?
Kirgisisch und Deutsch unterscheiden sich vor allem durch das Agglutinationsprinzip, das auch in anderen Turksprachen verbreitet ist. Im Kirgisischen werden Endungen für Singular und Plural, verschiedene Fälle usw. an ein Wort angefügt, wobei sich diese Endungen je nach Vokalharmonie ändern. Im Vergleich zu anderen Turksprachen gibt es im Kirgisischen jedoch zwölf Pluralendungen, was es zwar anspruchsvoller macht, aber auch seine melodische Schönheit betont. Interessanterweise gibt es auch Gemeinsamkeiten mit dem Deutschen in Bezug auf Reziprozität und Reflexivpronomen.
Du bist vor über 20 Jahren mit einem DAAD-Stipendium zum Studium nach Deutschland gekommen und lebst seitdem mit kleinen Unterbrechungen in Deutschland. Haben die Distanz zur Heimat, die Alltäglichkeit der deutschen Sprache und auch die Erfahrungen mit anderen Kulturen und Sprachen deinen Blick auf die kirgisische Sprache beeinflusst?
Auf jeden Fall. Die kirgisische Sprache hatte damals einen sehr niedrigen Status, und ich war schon vor meiner Zeit in Deutschland stark daran interessiert, Fremdsprachen zu lernen. Ich hatte das Gefühl, dass die kirgisische Sprache in gewisser Weise defizitär ist und dass es damit schwer sein könnte, eine höhere Bildung und Fachwissen zu erlangen. Aber je mehr ich mich mit anderen Sprachen und Kulturen beschäftigte, desto mehr wuchs meine Wertschätzung für das Kirgisische. Ich erkannte die Schönheit und Komplexität der kirgisischen Sprache und änderte nach und nach meine Einstellung zu meiner Muttersprache.
Die Erfahrung mit anderen Sprachen und Kulturen haben dazu beigetragen, das Verständnis und die Perspektive auf die Muttersprache zu erweitern und zu vertiefen. Durch die intensive Auseinandersetzung mit der Sprache habe ich gelernt, komplexe Themen, Begriffe und Sachverhalte auch auf Kirgisisch zu erklären und sie verständlich zu machen. Aus diesem Grund bin ich inzwischen auch als Übersetzerin tätig.
Was waren die größten Schwierigkeiten beim Verfassen einer derartigen Enzyklopädie?
Der Inhalt des Buches ist in einer systematischen Reihenfolge der grammatischen Kategorien wie Substantive, Pronomen, Verben, Adjektive, Adverbien, Postpositionen, Partikel, Modi und Konjunktionen aufgebaut. Die größte Herausforderung bestand darin, die grammatischen Regeln zu entwickeln und sie verständlich sowie nachvollziehbar zu erklären. Es erforderte aufwendige Recherchearbeit und Diskussionen mit Sprachwissenschaftlern.
Manchmal verbrachte ich mehrere Tage, Wochen oder sogar Monate mit der Bearbeitung eines einzelnen Absatzes. Darüber hinaus gibt es wenig Materialien oder vergleichende Grammatikbücher. Für die allgemeine Struktur haben mir die Werke zum Türkischen geholfen, aber die detaillierten Darstellungen musste ich selbst ausarbeiten, da es auch unter den Turksprachen keine vergleichbaren Werke zu meinem Buch gibt.
Gibt es Personen oder Institutionen, die dich beim Erstellen des Buches unterstützt haben, oder warst du weitestgehend auf dich allein gestellt?
In diesem langen Zeitraum musste ich aufgrund gesundheitlicher oder zeitlicher Einschränkungen gelegentlich Hilfskräfte engagieren, um das Projekt voranzubringen. Die Erstellung zahlreicher Tabellen und ständige Schriftwechsel machten das Formatieren ebenfalls zu einer anspruchsvollen Aufgabe. Zudem war es von großer Bedeutung, dass das Buch mehrfach von verschiedenen Personen gegenlesen, geprüft und getestet wurde, wofür sie eine angemessene Aufwandsentschädigung erhielten. Allerdings hatte ich auch das Glück, viele liebenswerte Freunde und Kollegen in meinem Umfeld zu haben, die mich uneigennützig und tatkräftig unterstützten.
Der deutsch-kirgisische Kulturverein, bei dem ich selbst seit 14 Jahren engagiert bin, leistete finanzielle Unterstützung für die Audio-Aufnahmen. Das Buch hat für mich einen besonderen Stellenwert in meinem akademischen und ehrenamtlichen Leben, da es meinen Beitrag zur Entwicklung und Verbreitung meiner Muttersprache darstellt. Deshalb war es für mich selbstverständlich, eine gewisse finanzielle Eigenleistung zu erbringen.
Du arbeitest derzeit auch an einem weiteren Buch, das sich an diejenigen wendet, deren Muttersprache Kirgisisch ist und die die deutsche Sprache lernen wollen. Könntest du uns etwas über das Projekt erzählen?
Während meiner Arbeit an der „Kirgisischen Grammatik“ haben mir viele Freunde und Bekannte gesagt, dass ein Buch mit dem Titel „Deutsch für Kirgisischsprechende“ tatsächlich sinnvoller sein könnte, da es eine größere Anzahl von Kirgisen gibt, die Deutsch lernen möchten, als umgekehrt. Das Interesse ist aufgrund der aktuellen geopolitischen Lage und der Zuwanderung von Fachkräften enorm gestiegen. Obwohl es mittlerweile gute Lehrbücher für Kirgisischsprechende gibt, die Englisch lernen möchten, besteht immer noch ein Mangel an entsprechenden Materialien für Deutschlernende.
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Auch an den germanistischen Fakultäten wird immer noch, wie zu meiner Studienzeit, mit russischen Lehrbüchern gearbeitet. Aus diesem Grund halte ich ein umfangreiches Lehr- und Lernbuch wie „Deutsch für Kirgisischsprechende“ für absolut notwendig und werde mich in den kommenden Jahren nebenbei damit beschäftigen.
Wie du in der Einführung deines Buches erwähnst, ist Russisch in Kirgistan, im Unterschied zu den allermeisten anderen ehemaligen Sowjetrepubliken, immer noch Amtssprache. So besteht in Kasachstan zunehmend der Wunsch, sich vom Russischen loszulösen, die Schriftsprache zu latinisieren und die eigene Nationalsprache stärker zu fördern. Stellst du ähnliche Entwicklungen auch in Kirgistan fest?
Der Wunsch nach einer Latinisierung der kirgisischen Sprache besteht durchaus in einigen Teilen der Gesellschaft und ist mit der Frage der Emanzipation von Russland verbunden. Eine solche Umstellung könnte auch dazu führen, dass junge Kirgisen einen leichteren Zugang zur englischen oder deutschen Sprache hätten, da sie das Alphabet nicht zusätzlich erlernen müssten. Dennoch fehlt es in Kirgistan sowohl am politischen Willen als auch an den finanziellen Ressourcen für eine umfassende Latinisierung. Die Mehrheit der kirgisischen Gesellschaft steht dem Russischen eher neutral oder sogar positiv gegenüber, da Russischkenntnisse den Zugang zu einer breiten Informationslandschaft ermöglichen.
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Meiner Meinung nach liegt das Hauptproblem bei der Weiterentwicklung der kirgisischen Sprache nicht daran, dass Russisch die Amtssprache ist, sondern eher an einem Mangel an Ressourcen, um Kirgisisch in Schulen, Universitäten, Verwaltung, Justiz, IT-Unternehmen usw. zu etablieren. Es ist entscheidend, dass wir die notwendigen finanziellen und infrastrukturellen Unterstützungen bereitstellen, um die Verwendung und Förderung der kirgisischen Sprache in verschiedenen Bereichen zu ermöglichen. Auf diese Weise können wir das Bewusstsein für die Sprache stärken und ihre Entwicklung vorantreiben.
Möchtest du den Leserinnen und Lesern von Novastan zum Abschluss noch etwas mitgeben?
Es würde mich außerordentlich freuen, wenn viele Zentralasieninteressierte und Novastan-Leser mein Buch erwerben würden. Sollte sich dieses Lehrbuch als geeignet erweisen, das Lernen der kirgisischen Sprache innerhalb Deutschlands und möglicherweise darüber hinaus zu fördern, würde ich solche Projekte weiterverfolgen. Deshalb bin ich offen für kritische Anmerkungen und Vorschläge zur Verbesserung der grammatischen Regeln und freue mich über jede Unterstützung. Darüber hinaus würden sie mit dem Kauf dieses Buches einen entscheidenden Beitrag zu meinem nächsten Werk „Deutsche Sprache“ (Немис тилинин грамматикасы – so auch der Arbeitstitel) leisten.
Mit Mahabat Sadyrbek sprach Markus Niedobitek
Redakteur für Novastan.org
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