Im Mai 2022 kam es in der Autonomen Provinz Berg-Badachschan zu Protesten gegen die Regierung. Wenige Tage später kündigten die tadschikischen Behörden eine „Anti-Terror-Operation“ an, die laut einem UN-Bericht bis zu 40 Menschen das Leben kostete. Menschenrechtsaktivist:innen fordern, dass die Verantwortlichen vor Gericht gestellt werden.
Am 14. Mai 2022 veranstalteten Einwohner:innen von Chorogh, der Hauptstadt der Autonomen Provinz Berg-Badachschan, eine nicht genehmigte Kundgebung. Die Protestierenden forderten ein Ende der Verfolgung regierungskritischer Pamiris sowie eine Untersuchung von Todesfällen im November 2021, an denen tadschikische Polizisten beteiligt waren. Weitere Forderungen waren der Rücktritt des Bürgermeisters von Chorugh und des Verwaltungschefs von Berg-Badachschan und die Entfernung von Militärposten auf dem Territorium der Autonomen Provinz.
Die Strafverfolgungsbehörden warnten, dass die Aktionen „als Terrorismus angesehen“ würden und dass „erhebliche Maßnahmen zur Auflösung der Demonstration“ ergriffen würden. Die Demonstrierenden gaben aber nicht nach, was zu einer Reaktion des Staates führt, die Dutzende Opfer fordert. Ein Jahr später blickt Novastan auf die Ereignisse zurück und erstellt eine Chronologie der Ereignisse.
Steigende Spannungen und erste Opfer
Wie Media Zona berichtet, beginnt die Polizei am 16. Mai die Demonstration aufzulösen. Dabei kommt ein Zivilist ums Leben und drei Polizisten werden verletzt. Die tadschikischen Behörden beschuldigen Samir Nasarschojew, einen Einwohner von Chorugh. Nach Angaben der Polizei warf er „eine Granate auf die Sicherheitskräfte, woraufhin drei von ihnen verletzt wurden und der Angreifer durch die Reaktion auf seinen eigenen Angriff getötet wurde“, schreibt Radio Ozodi, der tadschikische Dienst von Radio Liberty.
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Am Abend des 16. Mai wird in Khorog jegliche Kommunikation unterbrochen und staatliche Institutionen geschlossen, während die Armee den Zugang zum Hauptplatz der Stadt blockiert. Am folgenden Tag breitet sich die Protestwelle auf den Bezirk Ruschon aus, der 65 Kilometer nördlich von Chorugh liegt. Vom 17. bis 18. Mai blockiert eine Gruppe von Einwohnern einem aus Duschanbe kommenden Militärkonvoi die Straße. Wie Eurasianet berichtet, regiert die Polizei mit Warnschüssen und verletzt einen Anwohner.
Der Beginn der „Anti-Terror-Operation“
Am 18. Mai beschuldigen die Behörden die Demonstrierenden des Versuchs, die verfassungsmäßige Ordnung Tadschikistans zu stürzen, wofür sie ausländische Agenten angeheuert und Waffen und Geld von „internationalen Terrororganisationen“ erhalten hätten. Am selben Tag verschlechterte sich die Situation. Gegen sieben Uhr morgens kommt es in der Ruschons Bezirkshauptstadt Wamar zu einer Schießerei. Tadschikische Streitkräfte kündigen den Beginn einer „Anti-Terror-Operation“ an, berichtet Fergana News.
Nach Angaben der tadschikischen Regierung wird die Operation als Reaktion auf den Angriff auf den Militärkonvoi und die Blockade eines Teils der internationalen Fernstraße nach China gestartet. Anwohner:innen erklären hingegen gegenüber Radio Ozodi, dass die Demonstrierenden den Konvoi auf dem Weg nach Chorugh blockierten, um ein weiteres Blutbad zu verhindern.
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Da verlässliche Informationen völlig fehlen, dauert es einige Wochen, bis die Fakten überprüft werden. Der Telegram-Kanal Pamir Daily News berichtet, dass Scharfschützen auf Anwohner geschossen hätten. Derselbe Kanal behauptet, dass an den Militäraktionen gegen die Zivilbevölkerung ein Hubschrauber beteiligt gewesen sei, was Zeugen gegenüber Novastan bestätigten.
Am Abend desselben Tages veröffentlichte die russische Nachrichtenagentur TASS, dass die Anti-Terror-Operation beendet sei.
„Massensäuberung“
Pamir Daily News berichtet jedoch, dass nach Aussage eines Anwohners „die Massensäuberung“ in Ruschon und den umliegenden Gebieten weitergehen: „Bewaffnete Menschen dringen in Häuser ein und nehmen alle Männer ohne Unterschied mit. Sie nehmen ihre Telefone: Offenbar wollen sie nicht, dass die Verbrechen des Militärs veröffentlicht werden. Es gibt Fälle von Plünderungen, nach dem Durchzug der Soldaten sind Geld und Gold aus den Häusern verschwunden. Aus Sicherheitsgründen können wir die Namen der Opfer noch nicht veröffentlichen. Die Situation in Wamar ist katastrophal“.
Einige Tage später, am 22. Mai, wird die lokale Autorität Mamadbokir Mamadbokirow getötet, dem die Behörden vorwarfen, die Demonstrationen organisiert zu haben. RIA Novosti berichtet mit Verweis auf den Pressedienst des tadschikischen Innenministeriums, dass er „bei einer kriminellen Abrechnung“ ums Leben gekommen sei. Anderen Informationen zufolge wurde Mamadbokirow jedoch von einem Scharfschützen der Sicherheitskräfte getötet.
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Die Verhaftungen dauern einen Monat lang an, vom 18. Mai bis zum 17. Juni. Das Internet bleibt während dieser Zeit abgeschaltet. Nach Angaben der Behörden kommen im Rahmen der Einsätze in Ruschon und Chorugh 29 Menschen ums Leben, darunter ein Angehöriger der Sicherheitskräfte. Ein UN-Bericht zählt etwa vierzig Opfer.
… und Verhaftungen
Am 18. Mai verhaften die Sicherheitskräfte Ulfathonim Mamadschojewa, eine freie Journalistin und Menschenrechtlerin aus Berg-Badachschan, und beschuldigten sie, die Demonstrationen organisiert zu haben. Gegenüber Fergana News behauptet sie, keine Verbindung zu den Protesten zu haben. Am 9. Dezember verurteilt ein Gericht sie zu 21 Jahren Gefängnis.
Am selben Tag wird Holbasch Holbaschow, General des Nationalen Sicherheitskomitees Tadschikistans, festgenommen. Ihm wird Mitgliedschaft in einer bewaffneten „kriminellen Gruppe“ von 200 Personen vorgeworfen, die am 17. und 18. Mai die Straße von Duschanbe nach Chorugh blockiert habe. Holbaschow wird zu lebenslanger Haft verurteilt.
Am 23. und 24. Mai veröffentlicht das Innenministerium die Liste von 46 Personen, denen vorgeworfen wird, an den Demonstrationen zwischen dem 15. und 18. Mai teilgenommen zu haben. Die Regierung nennt die Festgenommenen „Extremisten“ und wirft ihnen die Organisation „illegaler Demonstrationen, Diebstahl und Gewalt“ vor. Nach Angaben der Behörden handelt es sich bei vielen von ihnen um Mitglieder der „kriminellen Gruppe“ Holbaschows.
Internationale Reaktionen
Die internationale Gemeinschaft reagierte mit Besorgnis auf diese Gewalt. UN-Generalsekretär Antonio Guterres äußerte seine tiefe Besorgnis über die Lage in Berg-Badachschan und forderte alle Parteien auf, „maximale Zurückhaltung zu üben“ und „die Situation friedlich zu lösen“.
Im September 2022 erinnert die ehemalige UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, an die Krise in Berg-Badachschan und äußert sich besorgt über die Strafverfolgung lokaler Menschenrechtler:innen und Journalist:innen.
Die Botschafter mehrerer EU-Staaten fordern die tadschikische Regierung auf, „alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um das Leben und die Sicherheit ihrer Bürger zu schützen“ und „die Einhaltung des Rechts auf friedliche Versammlung zu gewährleisten“. Und auch Human Rights Watch fordert die Regierung Tadschikistans auf, „ihre Verpflichtungen zur Achtung und zum Schutz des Menschenrechts auf Leben, Versammlungsfreiheit und Informationsfreiheit […] strikt einzuhalten.“
„Keine andere Lösung“
Am 18. Juni 2022 spricht Tadschikistans Präsident Emomali Rahmon über die Ereignisse in Berg-Badachschan und unterstützt die Maßnahmen der Strafverfolgungsbehörden in der Region. Wie Radio Ozodi berichtet, sagt Rahmon bei einem Treffen mit regionalen und nationalen Eliten in Danghara, dass er den Befehl gegeben habe, „bewaffnete Personen zu neutralisieren“, weil es seiner Meinung nach „keine andere Lösung“ gegeben habe.
„Sie haben immer wieder erklärt, dass sie im Namen der Bevölkerung von Badachschan handeln würden. Sie tun es nicht und haben es auch nie getan. Wir müssen genau verstehen, was passiert, und eine andere Herangehensweise an das Problem haben“, erklärt der Präsident.
Die Behörden bestreiten dabei, dass sie die Menschenrechte nicht respektieren. „Die Behörden Tadschikistans bestreiten diese Anschuldigungen und behaupten, die Rechte aller Bürger des Landes ausnahmslos zu respektieren. Präsident Emomali Rahmon sagte bei seinem Besuch in Danghara, als er auf die Probleme in Berg-Badachschan einging, dass die Bewohner der Region nicht schuld seien“, erklärt der Tadschikistan-Experte Sandschar Hamidow gegenüber Radio Ozodi.
Ein eher sozialer als politischer Kampf
Berg-Badachschan ist die größte Region Tadschikistans, aber auch die ärmste und sozial am stärksten gefährdete Region, führt das Central Asian Bureau for Analytical Reporting (CABAR) aus. Laut Eurasianet ignoriert die Zentralregierung in Duschanbe die Region, wenn es um die Lösung sozialer Probleme geht.
Die Pamiris, die die Mehrheit der Bevölkerung von Berg-Badachschan ausmachen, unterscheiden sich kulturell und sprachlich von anderen Tadschik:innen. Sie sprechen verschiedene ostiranische Sprachen und sind überwiegend Anhänger des Ismailismus, einem schiitischen Zweig des Islam. Dies führt zu einigen Streitigkeiten und Missverständnissen mit der mehrheitlich tadschikisch-sunnitischen Bevölkerung. Dies ist jedoch nicht der Hauptgrund für den Konflikt zwischen der tadschikischen Regierung und den lokalen Pamiri-Eliten.
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Die Bevölkerung von Berg-Badachschan betrachtet das Verhalten der Zentralregierung als unfair. Radio Azattyq, der kasachstanische Dienst von Radio Liberty, veröffentlichte die Meinung eines tadschikischen Experten, der argumentiert, dass „alle Einnahmen aus natürlichen Ressourcen in der Provinz von der Regierung kontrolliert werden und die Region im Gegenzug nur minimale Subventionen erhält.“ Ihm zufolge liegt die Ursache der regierungsfeindlichen Haltung in der Region in der „überstürzten Politik“ der Regierung und nicht in einem angeblichen Wunsch nach mehr Autonomie und Souveränität.
Die offiziellen Forderungen der Demonstrierenden haben sozialen Charakter und richten sich teilweise gegen die Grausamkeit der Polizei. Der Experte fügt hinzu, dass die Anführer der Proteste im Pamir es vorziehen, sich nicht in die Politik einzumischen.
Sherzod Babakoulov für Novastan
Aus dem Französischen von Robin Roth
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