Die russische Mobilmachung für den Krieg in der Ukraine bleibt auch in Zentralasien nicht ohne Folgen. Kasachstan ist zu einem beliebten Fluchtdomizil von Russen geworden, die der Einberufung entgehen wollen. Kirgistan und Usbekistan sorgen sich hingegen um ihre Arbeitsmigranten in Russland.
Russland macht mobil: Am Morgen des 21. September kündigte Präsident Wladimir Putin eine Teilmobilmachung in die Reihen der Streitkräfte seines Landes an. Dies bleibt auch für die Staaten Zentralasiens nicht folgenlos. Wie das kasachstanische Nachrichtenportal Masa Media berichtete, begannen schon in der Nacht vom 21. auf den 22. September in den sozialen Netzwerken Videos von Staus zu kursieren, die angeblich an der russisch-kasachstanischen Grenze aufgenommen wurden.
Kasachstan als Fluchtdomizil
Tatsächlich versuchen in Folge der Mobilmachung etliche Russen im wehrfähigen Alter das Land zu verlassen und so ihrer Einberufung zu entgehen. Da Flugtickets schnell ausverkauft waren, versuchen viele über die Landgrenze nach Kasachstan auszureisen, das als Mitgliedstaat der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU) russischen Staatsangehörigen eine verhältnismäßig unkomplizierte Einreise ermöglicht.
Allein in dem im Norden Kasachstans gelegenen Gebiet Qostanaı verzeichnete die Grenzpolizei am 22. September eine Verdoppelung der Einreisen russischer Staatsangehöriger. „In den letzten 24 Stunden sind mehr als 1.000 russische Staatsbürger im Gebiet Qostanaı angekommen. Der Migrationsstrom ist um das Zweifache gewachsen“, erklärte die lokale Polizeibehörde nach Angaben der Nachrichtenagentur Kazinform.
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Korrespondent:innen von Radio Azattyq, dem kasachstanischen Dienst von Radio Free Europe, begaben sich an die Grenze, um sich selbst ein Bild von der Situation vor Ort zu machen. Grenzbeamte am Übergang „Syrym“ im Gebiet Westkasachstan bestätigten, dass sich bis zu 100 Fahrzeuge auf russischer Seite stauen.
„Sie sagen nicht, dass sie fliehen. Sie sagen, dass sie zu Besuch gekommen seien. Innerhalb von drei Tagen müssen sie sich beim Migrationsdienst anmelden, um 30 Tage ohne Visum durch Kasachstan reisen zu können. Wenn sie hier bleiben wollen, können sie ein Arbeitsvisum bekommen und bis zu 90 Tage in Kasachstan bleiben“, erklärte ein Mitarbeiter des ksachstanischen Grenzschutzes.
Einer von denen, die es auf diesem Weg nach Kasachstan geschafft haben, ist der 32-jährige Igor aus Samara. „Ich möchte die möglichen Folgen vermeiden, die mir in meiner Heimatstadt passieren können. Bei meinen Bekannten kam eine Vorladung, bei mir noch nicht. Ehrlich gesagt habe ich Angst zu kämpfen. Ich will nicht töten, ich will nicht getötet werden. Ich stand fast 12 Stunden in der Schlange. Da waren viele Leute, viele Autos“, erklärte er den Journalist:innen von Radio Azattyq.
Die gestiegene Zahl an Einreisen veranlasste auch das kasachstanische Innenministerium Stellung zu beziehen. „Kasachstan verfügt über ein wirksames System der Migrationskontrolle […]. Die Gesetzgebung regelt klar das Verfahren für den Aufenthalt von Ausländern in Kasachstan. Kein einziger ausländischer Staatsbürger hat das Recht, sich auf unbestimmte Zeit auf dem Territorium unseres Staates aufzuhalten und die Anforderungen der Einwanderungsgesetzgebung zu ignorieren“, erklärte der Vorsitzende des Migrationskomitees beim Innenministerium, Aslan Atalykov. Er betonte, dass die Situation an der Grenze unter Kontrolle sei.
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Máýlen Áshimbaev, Sprecher des kasachstanischen Senats, erklärte, dass Kasachstan die Einreise von russischen Staatsangehörigen aufgrund der EAWU-Mitgliedschaft des Landes nicht einschränken könne. Wenn es aber um die Erteilung einer dauerhaften Aufenthaltsgenehmigung gehe, müsse das Herkunftsland des ausländischen Staatsangehörigen dem zustimmen. „Dies ist in unseren Gesetzen eindeutig festgelegt. Wenn der Staat einem Bürger keine Ausreisegenehmigung erteilt, er aber irgendwie abgereist ist, kann Kasachstan ihm keine Aufenthaltserlaubnis erteilen“, sagte Áshimbaev laut der kasachstanischen Nachrichtenagentur Tengrinews.
Wie Masa.media berichtet, sieht der Jurist Erjan Esimhanov das Land dennoch vor einer neuen Migrationswelle stehen, die zu ernsthaften gesellschaftlichen Problemen führen könne, etwa zu einer erhöhten Fremdenfeindlichkeit. Daher sei eine koordinierte Politik für die Arbeit mit Migrant:innen erforderlich.
Steigende Preise
Dabei stellen diejenigen, die sich an der russisch-kasachstanischen Grenze stauen, nur die Spitze des Eisberges dar. Denn wer über die Landgrenze ausreist, konnte in der Regel kein Flugticket mehr ergattern. Bereits am 21. September stiegen die Ticketpreise für alle visafreien Ziele sprunghaft an. Ein Ticket von Moskau nach Astana kostete laut Masa.media beispielsweise circa 8 Millionen Tenge (mehr als 17.000 Euro). Wenige Stunden nach Putins Appell waren die Tickets für die nächsten Tage ausverkauft.
Von dem Preisanstieg war auch Kirgistan betroffen, dass bereits im März eines der beliebtesten Ausreiseziele für Russ:innen war. Wie die kirgisische Nachrichtenagentur 24.kg berichtete, kostete am 24. September ein Ticket von Moskau nach Bischkek 170.000 Som (circa 2150 Euro). In derselben Meldung heißt es, dass die kasachstanische Fluggesellschaft Qazaq Air bereits bis zum 1. Oktober auf allen Verbindungen aus Russland ausgebucht sei.
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Doch auch der Wohnungsmarkt in Kasachstan, insbesondere in der Hauptstadt Astana und der Wirtschaftsmetropole Almaty, verzeichnet wachsende Preise. „Vorgestern waren Einzimmmer-Wohnungen für 120.000 Tenge zu haben [255 Euro], und heute kosten sie 150-170. Es gibt auch eine Regelung, dass Kinder nicht erlaubt sind. Zweizimmer-Wohnungen kosten schon 220.000 [468 Euro]“, erklärte eine Einwohnerin der Hauptstadt gegenüber Kazakh24.info.
Auch der Politikwissenschaftler Nikita Shatalov fürchtet, dass der Mietmarkt für Kasachstaner:innen unzugänglich werden könnte, da er sich nun an den eingereisten Russen orientiert. „Jetzt kommen Menschen ohne viel Geld […], tatsächlich sind sie Flüchtlinge. Sie müssen irgendwo leben, von ihnen kann man mehr nehmen als von den Einheimischen, aber es ist unmöglich zu planen: Vielleicht ziehen sie morgen oder vielleicht in einem Jahr weg“, erläutert er die Hintergründe.
In der kirgistanischen Hauptstadt Bischkek berichtet das lokale online Medium Kaktus indes von Vermieter:innen, die ihre aktuellen Mieter:innen aus ihren Wohnungen schicken, in Erwartung an eine Steigerung der Mietpreise durch die neue Einwanderungswelle aus Russland. Studierende aus den Regionen seien besonders gefährdet. Dabei haben nicht alle der Geflüchteten das Glück und die Mittel, gleich eine Bleibe zu finden. Auch in Oral im Nordwesten Kasachstans stiegen die Wohnungspreise deutlich, sodass ein Kino sogar jene einlud, die keine Unterkunft finden konnten, in den Kinosälen zu übernachten.
Sorge um Arbeitsmigranten
Während in Kasachstan vor allem die Frage der Zuwanderung im Vordergrund steht, sorgen sich Kirgistan und Usbekistan in erster Linie um ihre Arbeitsmigranten in Russland. Zwar sind von der Mobilmachung nur russische Staatsangehörige betroffen, doch könnten vor allem jene eingezogen werden, die erst kürzlich die russische Staatsbürgerschaft erhalten haben.
Genau dies ist der Vorschlag von Kirill Kabanow, einem Mitglied des Rates für die Entwicklung der Menschenrechte. Wehrpflichtige, die weniger als 10 Jahre Staatsbürger der Russischen Föderation sind, sollen demnach den Wehrdienst innerhalb eines Jahres absolvieren. Im Falle einer Weigerung schlägt Kabanow vor, nicht nur Wehrpflichtigen, sondern auch ihren Familienangehörigen die russische Staatsbürgerschaft zu entziehen. Masa.media hebt hervor, dass diese Initiative nur Menschen aus Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan und Usbekistan betrifft.
Doch auch jene, die noch keine russische Staatsbürgerschaft haben, sollten für den Kriegseinsatz gewonnen werden. Am 20. September, also einen Tag vor der Mobilmachung, verabschiedete die Duma ein Gesetz, nach dem Ausländer, die sich freiwillig für die Armee melden, leichter einen russischen Pass erhalten sollen.
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Die Botschaften von Kirgistan, Usbekistan und Tadschikistan in Russland reagierten prompt und warnten ihre eigenen Bürger vor der Teilnahme an Kampfhandlungen, da in beiden Staaten Söldnertum eine Straftat ist. Die oberste Leitung der Muslime Usbekistans veröffentlichte sogar eine Fatwa, laut derer sich die Bürger des Landes sich nicht am Krieg zwischen Russland und der Ukraine beteiligen sollten. „Diejenigen, die sich daran beteiligen, gehören zu den Kriegern Satans, die sich dem Gesetz Allahs widersetzen“, zitiert das in Lettland ansässige russische Exilmedium Meduza aus dem Schreiben.
Auch Kirgistans Regierung stellt sich deutlich gegen die russischen Anwerbungsversuche. „Die Kirgisen haben nur eine Heimat, die heiligen Berge des Ala-Too, und es sollte keine anderen Heimatländer geben, für die Blut vergossen werden muss“, sagte der stellvertretende Ministerratsvorsitzende Edil Bajsalow gegenüber dem kirgisischen Nachrichtenportal Kloop.
Kirgistans ehemaliger Premierminister Felix Kulow forderte laut Radio Azattyq die Behörden seines Landes in einem Facebook-Post auf, Maßnahmen zu ergreifen, um „500.000 Landsleuten“ zu helfen, die bereits russische Pässe besitzen und daher einer möglichen Mobilisierung ausgesetzt sind. „Die Einberufung solcher Menschen zum Militärdienst wird sich negativ, wenn nicht tragisch, auf das Leben ihrer Verwandten und Freunde auswirken, deren einzige Ernährer sie sind“, schrieb Kulow.
Massenhafte Rückkehr?
Kirgistan diskutiert derweil, ob die Wirtschaft des Landes eine massenhafte Rückkehr von Arbeitsmigrant:innen vertragen könne, oder ob dies zu politischer Instabilität führen würde. Die Regierung gibt diesbezüglich Entwarnung. „Wir freuen uns auf jeden Kirgisen in unserem Heimatland. Egal wie wir leben, wir haben für jeden ein Stück Brot. Lasst sie zurückkommen, wir werden alle in Harmonie zusammenleben. Wir lehnen die Behauptung, dass wir die Rückkehr unserer Migranten nicht wollen, kategorisch ab“, erklärte der bereits zitierte Edil Bajsalow.
Auch Experten schätzen die beschriebene Gefahr als gering ein. „Wir sprechen über Vorschläge zum Abschluss von Verträgen mit dem Verteidigungsministerium im Austausch gegen Versprechen von Präferenzen bis hin zur Erlangung der russischen Staatsbürgerschaft. Andererseits raten die Behörden Kirgistans den Landsleuten dringend, sich dem nicht hinzugeben, was ich für richtig halte“, meint der Zentralasienexperte Arkadij Dubnow im Gespräch mit Kloop.
Auch Temur Umarow, Forscher des Carnegie Endowment for International Peace, geht nicht davon aus, dass es zur massenhaften Rückkehr von Migrant:innen kommt. „Wir können mit Sicherheit sagen, dass nicht alle zurückkehren werden. Es lohnt sich nicht, darauf zu warten, dass Millionen von Migranten nach Kirgistan zurückkehren, und darüber nachzudenken, wie die Wirtschaft damit fertig wird, die Zahlen werden geringer sein“, meint der Experte.
Folgen für die politische Stabilität hält er aber dennoch für möglich. „Die Situation mit der Arbeitslosigkeit war in Kirgistan, Tadschikistan und Usbekistan auch zuvor nicht stabil: Wir haben eine Krise nach der anderen, es gibt keine Jobs mehr. […] Und wenn es viele arbeitslose junge Männer im Land gibt, führt dies oft zu Problemen mit Protestaktivitäten, mit Kriminalität und allgemein mit dem Ausmaß der Gewalt. Ob die zentralasiatischen Regime mit diesem Ausmaß der Destabilisierung fertig werden, ist eine große Frage“, schließt Umarow.
Robin Roth, Chef-Redakteur von Novastan
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