Michaël Levystone hat eine scharfsinnige Analyse der Beziehungen zwischen Russland und Zentralasien vorgelegt. Zwischen historisch bedingter Nähe und dem Streben nach Autonomie versuchen die zentralasiatischen Staaten ihre Beziehung zu ihrem „großen Bruder“ neu zu bestimmen.Michaël Levystone ist Spezialist für das russisch-zentralasiatische Verhältnis. Der ehemalige Mitarbeiter der französischen Botschaft in Kasachstan forscht derzeit am Französischen Institut für internationale Beziehungen (Ifri). Bereits als Student hat er in seiner Abschlussarbeit die bilateralen Beziehungen zwischen Russland und Kasachstan untersucht. Jetzt fragt er in seinem im Mai 2021 in Frankreich erschienen Buch „Russie et Asie centrale à la croisée des chemins“ (dt.: „Russland und Zentralasien am Scheideweg“) nach dem Platz und den Herausforderungen der zentralasiatischen Staaten im Angesicht der beiden Weltmächte Russland und China.
Russlands schwindender Einfluss
Das Buch gewährt einen detaillierten Einblick in die politisch-ökonomischen Beziehungen, die zwischen Russland und den fünf zentralasiatischen Staaten bestehen. Das besondere Verdienst des Buchs liegt darin, dass es neben der Stellung dieser Länder zu Russland auch ihr Verhältnis zu China analysiert. Auf Anfrage von Novastan hat Levystone unterstrichen, dass es ihm vor allem um die wirtschaftliche wie sicherheitspolitische Bedeutung Russlands für Zentralasien geht, dass es aber in einer solchen Untersuchung gleichwohl „nicht möglich ist, China außen vor zu lassen, da es in jeder Hinsicht ein wichtiger Akteur ist. Peking stellt eine enorme Herausforderung dar“.
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Levystone zeigt, wie Russland seit dem Ende der UdSSR 1991 versucht, seine Kontrolle über Zentralasien zu sichern und seinen Einfluss auszuweiten, indem es als wichtigster Partner der Region in Militär- und Energiefragen auftritt. Zugleich arbeitet Levystone den immer deutlicher zu vernehmenden Wunsch der zentralasiatischen Länder heraus, vom Einfluss Russlands loszukommen. Schritt für Schritt versuchen sie sich vom sowjetischen Modell zu lösen. Das wird insbesondere auf kultureller Ebene sichtbar, wenn die Position der lokalen Sprachen gegenüber dem Russischen gestärkt oder Schulen aus der Zeit der Sowjetunion geschlossen werden. Diese Unabhängigkeitsbestrebungen drücken sich in jedem der zentralasiatischen Länder auf unterschiedliche Weise aus. Doch Russland ist hartnäckig und gibt sich nicht so leicht geschlagen. Das zeigt zum Beispiel die gemeinsame Erklärung „über die strategische Ausrichtung der Zusammenarbeit“ zwischen Russland und den zentralasiatischen Staaten vom 15. Oktober 2020.
Historische Treue auf dem Prüfstand
Die Bruchlinien zwischen den Ländern Zentralasiens und ihrem historischen Verbündeten durchziehen jedoch nicht nur den kulturellen Bereich. Immer mehr orientiert sich Zentralasien ökonomisch in Richtung China, wodurch die Grundlage für potentielle zukünftige Spannungen zwischen China und Russland gegeben ist. Gleichzeitig scheint sich aber eine Art „stillschweigendes Einvernehmen“ zwischen den beiden Mächten herauszubilden: Während Moskau, insbesondere im Rahmen der Neuen Seidenstraße, China die wirtschaftliche Führung in den zentralasiatischen Volkswirtschaften zu überlassen scheint, hält es auf der anderen Seite an seiner militärischen Führungsrolle in der Region fest. Das zeigt sich an seinen Militärbasen in Kirgistan und Tadschikistan, an den vergünstigten Waffenlieferungen im Rahmen der Organisation des Vertrags über die kollektive Sicherheit (OVKS) und nicht zuletzt am Einsatz russischer Truppen in Kasachstan im Januar dieses Jahres.
Kein Vorbeikommen an China
Aber auch diese Rollenverteilung ist nicht mehr so eindeutig: „Heutzutage ist ein allmählicher und unbestreitbarer Übergang der zentralasiatischen Region in die chinesische Einflusssphäre zu beobachten. Die Chinesen sind mittlerweile auf militärischem Gebiet mit einer inoffiziellen Militärbasis in Tadschikistan präsent. Außerdem gibt es sehr starke Synergien im Sicherheits- und Militärbereich“, beschreibt Michaël Levystone die neue Situation. Darüber hinaus ist Peking der wichtigste Wirtschaftspartner für die Region. Chinas wachsender Einfluss in Zentralasien steht für das Schwinden sowohl des militärischen wie auch des wirtschaftlichen Einflusses Russlands. Lest auch auf Novastan: Russland und Zentralasien bauen gemeinsame Luftverteidigung aus Besonders spannend wird es in dem Buch von Levystone, wenn er die verschiedenen Organisationen bespricht, die innerhalb der Region wirksam sind: Die OVKS, die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) sowie die Eurasische Wirtschaftsunion (EEU). Hier zeigt der Autor, wie Russland seine Dominanz über die ehemaligen Sowjetrepubliken mithilfe dieser Institutionen zu bewahren trachtet. Sein Buch macht deutlich, dass Moskau bestrebt ist, ein starkes ökonomisches, kulturelles und militärisches Band zwischen sich und den fünf zentralasiatischen Ländern aufrechtzuerhalten.
Europa und Amerika: Die großen Unsichtbaren
Überraschend ist das auffallende Desinteresse, das die USA sowie ein Großteil der europäischen Staaten Zentralasien entgegenbringen. In den letzten Jahren haben sie zwar versucht, ihre Präsenz in der Region zu verstärken, doch blieben diese Versuche recht zaghaft. Zentralasien ist der Schnittpunkt zwischen zwei Kontinenten mit starken Ambitionen. Das ermöglicht es der Region, zur Drehscheibe für neue Wirtschaftsrouten zu werden. Gleichzeitig könnte es sie zu einem Bollwerk gegen Nachbarländer mit extremistischen oder sogar terroristischen Bestrebungen machen. Zentralasien, der Kreuzungspunkt von Europa und Asien, stellt heute eine wachsende Herausforderung auf allen Ebenen dar.
Alles in allem bietet Michaël Levystones Buch einen tiefen Einblick in die Beziehungen zwischen Russland und den zentralasiatischen Staaten. Dabei hebt der Autor einerseits die wachsende Distanzierung dieser Länder von ihrem großen Nachbarn hervor, der nicht selten erheblich in ihre inneren Angelegenheiten und in ihre Souveränität eingreift. Andererseits zeigt er die Hoffnungen auf, die für die Länder in der Zusammenarbeit mit China liegen. Neben den Hoffnungen steht die Angst, die Unabhängigkeit nur wieder an einen anderen „großen Bruder“ zu verlieren. Michaël Levystones Buch „Russie et Asie Centrale à la croisée des chemins“ (noch nicht ins Englische oder Deutsche übersetzt) wurde von L’Harmattan (Paris 2021, 176 Seiten, €18,50) veröffentlicht.
Emma Parisien, Redakteurin für Novastan
Aus dem Französischen von Lucas Kühne
Der Beitrag wurde auch ins Englische übersetzt.
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