Ausgelöst durch einen nichtigen Grund, forderte Anfang Februar ein interethnischer Konflikt zwischen KasachInnen und DunganInnen 11 Menschenleben. Mit der speziellen Form des kasachischen Nationalismus und dessen Sinnlosigkeit setzt sich Jeńis Baıhoja in einem Meinungsbeitrag auf Central Asia Monitor auseinander. Wir übernehmen den Artikel in gekürzter Fassung mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.
Der kasachische Nationalismus hat sich endgültig diskreditiert, indem er sein wahres Gesicht zeigte. Die Rede ist nicht einmal von den Ereignissen im Bezirk Qordaı sondern von den Reaktionen darauf. Die Welle der Fremdenfeindlichkeit hat schreckliche Ausmaße erreicht, und sie hat nicht nur notorische „Meinungsmacher“ erfasst, die die treibende Kraft des offenen Nationalpopulismus sind, sondern auch anscheinend intelligente, vernünftige Leute.
Ein Übergang von Quantität zu „Qualität“
Man kann den radikalen Nationalismus der UigurInnen (in China), der BaskInnen (in Spanien), der KurdInnen (in der Türkei) wenn auch nicht gutheißen, so doch zumindest erklären. Diese Völker stellen in ihren Ländern eine ethnische Minderheit dar. Sie führen einen viele Jahre währenden Kampf um ihre Unabhängigkeit und sehen sich einem harten Wiederstand seitens der Zentralmacht gegenüber. Aber in unserem Fall handelt es sich um die Titularnation, die 70 Prozent der Bevölkerung des Landes ausmacht, einen staatsbildenden Status innehat, nahezu alle Schlüsselpositionen und den Löwenanteil aller Positionen in Verwaltung und Sicherheitsbehörden bekleidet – das heißt, sie bestimmt das Schicksal des Landes und aller, die darin leben. Der Umstand, dass ein nicht unwesentlicher Teil dieser Ethnie noch heute, fast drei Jahrzehnte nach dem Erlangen eines eigenen unabhängigen Staates, immer noch einen nationalen Befreiungskampf lebt, wirkt recht seltsam.
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Übrigens hat man die ganze Zeit versucht uns zu überzeugen, dass der kasachische Nationalismus einen konstruktiven und gemäßigten Charakter habe, andere im Land lebende Ethnien nicht bedrohe und deren Minderheitenrechte nicht beschneide. Aber während seine „Ideologen“ beruhigende Behauptungen machten, während die Staatsmacht mit ihnen flirtete und sie für ihre eigenen Interessen benutzte, ist der radikale Nationalismus unterschwellig gereift. Das ist ganz natürlich, denn je mehr eine Ideologie AnhängerInnen hat, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit von Radikalen unter ihnen. Eine Art Übergang von Quantität zu „Qualität“.
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Der ehemalige Groll und der daraus resultierende Durst nach historischer Rache nährten den Nationalismus. Diese Stimmungen wurden während der ganzen letzten Jahre kultiviert, unter anderem von vielen SchriftstellerInnen und WissenschaftlerInnen sowie von einem nicht unwesentlichen Teil der politischen Elite. Sie, die sich in der Sowjetzeit gut eingerichtet haben, präsentieren diese jetzt als die düsterste Periode in der Geschichte der KasachInnen, welche unterdrückt und entrechtet wurden und Menschen zweiter Klasse waren. Und auch die heutige Realität liefert viele Gründe, um sich erniedrigt und beleidigt zu fühlen. Die Staatsmacht, die Ansprüche geltend machen könnte, ist fern und taub. Und in der Nähe leben verschiedene Diasporen, die sich besser an den „Kapitalismus mit dem kasachischen Gesicht“ angepasst haben, die unternehmungslustiger waren und mehr Glück hatten. Ungerecht…
Kann man Respekt erzwingen?
Jedweder Nationalismus ist gefährlich, wenn er radikal wird. Wenn er aber von VertreterInnen der zahlenmäßig stärksten (und dabei übrigens mit einer „konstitutionellen Mehrheit“ ausgestatteten) Ethnie ausgeht, dann steigt die Gefährlichkeit um ein vielfaches. Allein das 20. Jahrhundert wimmelt von Beispielen dieser Art: Anti-jüdische Pogrome und Strafmaßnahmen gegen KasachInnen im zaristischen Russland, die Vertreibung der ArmenierInnen aus der Türkei, das Massengemetzel in Ruanda… Hinzu kommen der Holocaust, die Exzesse der RassistInnen aus dem Ku-Klux-Klan gegenüber dunkelhäutigen BürgerInnen der USA… Ich möchte keinesfalls die interethnischen Konflikte im modernen Kasachstan damit gleichsetzen. Bei uns haben sie noch einen lokalen Charakter. Aber wenn man weiterhin die BürgerInnen des Landes in „Hausherren“ und „Zugezogene“ unterteilt und dem Prinzip „Alle Ethnien sind gleich, aber eine ist gleicher“ folgt, dann können die Folgen schrecklich sein.
Nationalismus, der von VertreterInnen der Titularnation ausgeht, basiert auf folgendem Versprechen: Wir und nur wir sind die Herren dieses Landes, und deswegen sind alle anderen verpflichtet, uns zu respektieren, unsere Interessen zu berücksichtigen und in gewissem Maße auch sich uns unterzuordnen. Es ist kein Zufall, dass es heutzutage populär geworden ist, an ethnische Minderheiten den Aufruf zu richten: „Shańyraqqa qara!“ – Vergiss nicht, in wessen Land zu lebst. Ein weiterer häufig bei NationalistInnen gehörter Satz ist „Alle Diasporen müssen eine Lektion lernen, aus dem, was passiert ist.“ (kein Wort über die Lektion für die KasachInnen). Er kann auch so interpretiert werden: „Was auch immer passiert, wir haben Recht, weil wir auf unserem Land leben, und alle anderen müssen nachdenken.“
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Eine der wichtigsten Kritik gegenüber den DunganInnen war, dass diese nicht die kasachische Sprache lernen und diese demnach nicht respektieren. Dieser Vorwurf kam aus dem Mund eines Journalisten eines staatlichen Fernsehkanals während des ersten Treffens von Mitgliedern der Regierungskommission mit BewohnerInnen des Dorfes Masanchi ( selbst der Vorsitzende der Kommission Berdibek Saparbaev, der in einem kasachischen Aul [Dorfsiedlung der Turkvölker, Anm. d. Red.] aufwuchs, verzog angesichts der Worte des Fernsehmannes das Gesicht). Eine Reihe von Abgeordneten übernahmen diesen Vorwurf, von den nationalistischen besorgten NutzerInnen der sozialen Medien ganz zu schweigen. Aber können diese Menschen die einfache Wahrheit nicht verstehen, dass jede Sprache nicht aus Respekt für sie, sondern aus eigenem Bedürfnis gelernt wird? UsbekInnen und TadschikInnen streben nicht danach das Russische zu beherrschen, weil sie die russische Kultur verehren, sondern weil sie die Sprache zum Überleben brauchen, wenn sie zur Arbeit nach Russland fahren und vielleicht sogar dort bleiben. Natürlich wäre es hervorragend, wenn in unserem Land alle die Staatssprache könnten, aber dafür muss sie wirklich benötigt werden. Damit sollten sich die KasachInnen beschäftigen und ihre intellektuellen Kräfte und zumindest etwas Begeisterung darauf verwenden.
Überhaupt ließ sich in letzter Zeit oft hören, dass die VertreterInnen der Diasporen die kasachische Sprache und das kasachische Volk achten sollen. Aber, meine Lieben, Respekt verlangt man nicht und man zwingt nicht zu ihm – man strebt danach ihn zu verdienen. Und nach derartigen Pogromen und einer Welle der Fremdenfeindlichkeit werden wir KasachInnen nicht den Respekt der ethnischen Minderheiten erlangen. Es ist etwas anderes, die Einhaltung der Gesetze zu verlangen, die in diesem Land gelten. Aber das betrifft alle, unabhängig von der Nationalität.
Der „Ruf nach Blut“ und doppelte Standards
Achten Sie darauf: An allen lauten interethnischen Konflikten in unserem Land ist die Titularnation beteiligt. Haben Sie gehört, dass ein Streit – selbst einer mit tragischem Ausgang – zwischen KoreanerInnen und UsbekInnen oder zwischen RussInnen und UigurInnen zu einem ethnischen Konflikt eskaliert wäre? Wohl kaum. Aber wenn wir KasachInnen mit VertreterInnen einer Minderheit aneinandergeraten und jemand mit dem Messer sticht, führt dies schon fast obligatorisch zu dem Ruf „Die Unsrigen werden geschlagen!“ und es folgen Massendemonstrationen oder Unruhen. Erinnern Sie sich an die Ereignisse in Malovodnoe [ein kasachisch-tschetschenischer Konflikt im Jahr 2007 mit 9 Toten, Anm. d Red.], Qaraģandy [in der Neujahrsnacht 2019, Anm. d. Red.] und so weiter – und jetzt im Bezirk Qordaı. Sogar einem Streit mit tödlichem Ausgang, der sich in der Bar „Chukotka“ in Almaty ereignete, versuchte einer unserer Nationalpatrioten einen ethnischen Anstrich zu verpassen.
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Noch eine Besonderheit. Wenn ein junger Kasache einen Aksakal beleidigt oder gar schlägt, dann werden wir ihn natürlich zurechtweisen, aber niemand, außer vielleicht die Verwandten des Alten, werden eine „Vendetta“ fordern. Aber wenn die Tat von einem Vertreter einer anderen Nationalität begangen wird, braucht man auf die Vorwürfe der Respektlosigkeit gegenüber dem kasachischen Volk und auf Rufe nach Rache nicht lange zu warten. Noch ein Beispiel: Jeder erinnert sich an die Geschichte des kasachischen Jungen aus dem Gebiet Südkasachstan, der von kasachischen Jugendlichen vergewaltigt wurde. Wer von den NationalpatriotInnen forderte die Eltern oder Verwandten dieser Jugendlichen, die das Leben eines Kindes zerstört haben, zur Verantwortung zu ziehen oder gar aus dem Dorf zu treiben? Niemand. Zehn Jahre zuvor ereignete sich ebenfalls im Gebiet Südkasachstan im Dorf Maıatas ein ähnlicher Vorfall. Ein kurdischer Teenager wurde verdächtigt, einen kasachischen Jungen verhöhnt zu haben, was zu Pogromen und zur Flucht fast aller kurdischen Familien aus dem Aul führte. Darüber hinaus haben VertreterInnen dieser Diaspora auch in den benachbarten Gebieten gelitten. Derartige Fälle kann man noch viele anführen.
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Das heißt, bezüglich der „StammesgenossInnen“ zeigen wir eine gewisse Nachsicht, während wir „Fremden“ sogar für Verbrechen von einzelnen eine Kollektivschuld zuschreiben. Das nennt man doppelte Standards. Genau dies ist der Fall, wenn man fordert, dass der junge Dungane, der gegen den Aksakal die Hand gehoben hat, mit voller Härte des Gesetzes bestraft werde, und zur gleichen Zeit jene, die loszogen um unbeteiligte DorfbewohnerInnen zu töten und deren Häuser zu verwüsten, nicht in der Verantwortung sieht. Das Argument „Sie haben zuerst angefangen“ kann man nicht anders als kindisch nennen – so verhalten sich Kleinkinder.
Ein Nationalismus, der nur durch den „Ruf nach Blut“ angetrieben wird, der auf doppelten Standards und rechtlichem Nihilismus basiert, kann a priori nicht aufgeklärt, zivilisiert und konstruktiv sein. Ich hoffe, dass wir KasachInnen, die dies verstehen, viel mehr sind als diejenigen, die sich bewusst oder unbewusst in eine nationalistische Rage getrieben haben.
Jeńis Baıhoja für Central Asia Monitor
Aus dem Russischen von Robin Roth
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