Die ethnische Identität der Pamiris, Völker im Pamir-Gebirge, wird seit langem sowohl innerhalb ihrer Gemeinschaften, insbesondere in Tadschikistan, als auch außerhalb dieser Gemeinschaften diskutiert. In dem kürzlich veröffentlichten Buch „Identität, Geschichte und Transnationalität in Zentralasien. Berggemeinschaften des Pamirs“ („Identity, History and Trans-Nationality in Central Asia. The Mountain Communities of Pamir“), herausgegeben von Dagihudo Dagiev und Carol Foucher, wird die Geschichte und Identität der Pamiris beleuchtet. Das folgende Interview erschien im russischsprachigen Original auf CAA-Network. Wir übernehmen es mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.
Dr. Dagikhudo Dagiev ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut von Ismaili Studien in London. Seine wissenschaftlichen Interessen gelten modernen Gesellschaften im postkommunistischen Zentralasien, ihre Geschichte und Religion, die Wiedergeburt des Islam als Glaube sowie die Entstehung islamistischer Ideologien und Nationalismus. Bereits 2013 erschien sein erstes Buch „‚Regime Transition in Central Asia: Stateness, Nationalism and Political Change in Tajikistan and Uzbekistan„.
CAA-N: Erzählen Sie uns von Ihrem Buch, von den ethnischen Gruppen, der Kultur und den Sprachen des Pamir und der Region Badachschan.
Dagiev: Das Buch präsentiert verschiedene Argumente, die die Identifizierungs- und Identitätsprozesse von Pamiris erörtern und beschreibt die Geographie der Region, ihre jüngere Geschichte, sowie das reiche philosophische, religiöse und kulturelle Erbe des Pamirs und Fragen der aktuellen Verbreitung von Traditionen, der Friedenskonsolidierung. Experten liefern aktuelle Informationen über die ismailitischen Gemeinden in der Region und ergänzen somit das historische und ethnographische Erbe der Sowjetzeit.
Im populären Diskurs bilden Pamiris oder Badachschans eine kleine Gruppe iranischer Völker, die die Bergregionen Pamir und Hindukusch, die historische Region von Badachschan im heutigen Afghanistan, bewohnen. Den Begriffen „Pamir“ und „Badachschan“ kommt eine getrennte Bedeutung zu. Während der Pamir eine geografische Landschaftsbezeichnung ist, gehört Badachschan zu einem Gebiet mit historisch gewachsenen Grenzen unter staatlicher Kontrolle.
Pamirgemeinschaften befinden sich gegenwärtig auf dem Gebiet von vier Nationalstaaten: Tadschikistan, Afghanistan, China und Pakistan. Diese Gemeinden sprechen verschiedene Dialekte der ostiranischen Sprachen. Während des 19. Jahrhunderts war die Region das Konfrontationsfeld der damaligen Weltmächte: des Britischen und des Russischen Reiches. Infolgedessen förderten die beiden Kolonialmächte künstlich die Rivalität zwischen den lokalen Machthabern, den Emiren und den Khans, indem sie die sogenannte „Divide et impera“ -Politik („Teile und herrsche“) umsetzten. Am Ende des 19. Jahrhunderts verwandelte sich der Fluss Panj in eine natürliche Grenze zwischen den Kolonialmächten. Im 20. Jahrhundert wurde die Region schließlich zwischen den vier Ländern aufgeteilt.
CAA-N: Die ethnische Identität der Pamiris wurde im letzten Jahrhundert in Tadschikistan politisiert und stellt ein sensibles Thema dar, insbesondere nach der Unabhängigkeit des Landes. Wie hat sich dieser Prozess entwickelt?
Dagiev: Nach den Chroniken russischer Forscher hielten sich selbst die Bewohner des Pamir-Gebirges für Tadschiken, nicht für Pamiris. Im zweiten Teil des Buches haben wir Faktoren analysiert, die zu einer Veränderung der Identität einiger Pamiris beigetragen haben.
Erst Wissenschaftler, die den Pamir untersuchten, führten die Begriffe „Pamir“ und „Pamiris“ in die Wissenschaft ein, welche später zum Identitätsmarker für das tadschikische Volk der Autonomen Provinz Berg-Badachschan in Tadschikistan wurde. Pamirisch zu sein ist laut dieser Forschung ein sich stetig weiterentwickelndes Konstrukt. Solange es sich entwickelt, ohne separatistische Tendenzen anzunehmen, wird es auch weiterhin im Rahmen der nationalen Debatte für die Pamir-Tadschiken und den tadschikischen Staat bleiben.
In der Sowjetzeit wurden Straßen gebaut, Verwaltungseinrichtungen, Krankenhäusern oder Schulen errichtet. Zudem stieg die Alphabetisierungsrate erheblich an, was zu einem Bevölkerungsanstieg von 21.000 auf 200.000 Menschen führte. Ausbildung spielte in der Autonomen Provinz Berg-Badachschan eine Schlüsselrolle, insbesondere im Jahre 1989, als das Forschungsinstitut für Pamir als Teil der Wissenschaftsakademie von Tadschikistan gegründet wurde.
CAA-N: Obwohl die Öffentlichkeit Pamiris von Tadschiken unterscheidet, behaupten Sie, dass Pamiris Tadschiken seien. Worauf beruht Ihr Argument? Führt eine solche Meinung nicht zu anderen Fragen, z.B. kann man auch Bevölkerungsgruppen, die in Afghanistan (Badachschan) und Pakistan (Hunza) die gleichen Pamir-Sprachen sprechen, wie etwa Vakhans und Ishkashimen, den Tadschiken zurechnen? Identifizieren sie sich selbst als Tadschiken? Was ist mit den persischsprachigen Völkern Afghanistans wie den Khazaren? Wer ist eigentlich Tadschike im Allgemeinen und wie definieren wir ethnische Zugehörigkeit – auf der Grundlage von Sprache, Kultur oder geographischem Vertreitungsgebiet?
Zugleich äußern einige Historiker die Meinung, dass die Bolschewiki aufgrund von politischen Überzeugungen den Namen des Volkes und der Sprache der persischsprachigen Iraner ihres Territoriums änderten, um die Verbindung zwischen sowjetischen und nicht-sowjetischen Persern (Tadschiken) zu trennen. So hieß „Tadschike“ einfach nur so viel wie „nicht turksprachig“.
Dagiev: Wie bereits erwähnt, bezieht sich der Begriff „Pamiris“ im Allgemeinen auf eine Gruppe iranischer Einwohner von Berg-Badachschan in Tadschikistan und der Provinz Badachschan in Afghanistan. In China werden diese Menschen offiziell als Tadschiken betrachtet. Vor nicht allzu langer Zeit passierte dasselbe in Afghanistan, wo sie als Tadschiken bezeichnet wurden, bevor die afghanische Regierung sie vor kurzem als Pamiris klassifizierte.
Deswegen gehören die „Pamiris“ derzeit zu einer bestimmten Bevölkerungsgruppe, die verschiedene Sprachen der Ureinwohner der Autonomen Provinz Berg-Badachschan und der gesamten Pamir-Region sprechen. Sie haben enge sprachliche, kulturelle und religiöse Beziehungen zu den Menschen in der Provinz Badachschan in Afghanistan, zu den Selekuer in China und zu den Wakhi (auch: Khik) in der tadschikischen autonomen Region Tashkurgan, in der Provinz Xinjiang in China.
Den Begriff „Tadschike“ kann man zwei verschiedenen Kategorien zuordnen: Eine enge Definition zählt nur persisch oder tadschikischsprachige Bewohner des heutigen Zentralasiens und Afghanistans zu den Tadschiken. Die zweite Definition bezieht sich auf das iranische Volk in Zentralasien, Afghanistan und in anderen Orten, wo Menschen verschiedene alte Sprachen der iranischen Sprachfamilie sprechen, sich historisch jedoch als Tadschiken identifizieren.
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Aus dieser Sicht hat der Begriff eine historische und aktuelle Definition, die man in ihrem zeitlichen und räumlichen historischen Kontext einordnen muss. Natürlich war die Definition des Begriffs „Tadschike“ als ethnische Identität im Bewusstsein und in den Wahrnehmungen der Menschen vor der Gründung von Tadschikistan als „Nationalstaat“ im Jahr 1929 anders. Ob der Begriff „Tadschike“ die kulturelle, soziale und politische Landschaft der Region jener Zeit widerspiegelt, ist umstritten.
In der Tat war es eine bewusste Politik der bolschewistischen Regierung, die Menschen nach ethnischen Merkmalen einteilte, indem sie ihre Sprache тоҷикӣ nannte, während diese Sprache vor der Sowjetzeit nicht so genannt wurde. Seit Jahrhunderten war diese Sprache als Persisch bekannt. Anschließend hat sich die persische Sprache in allen Gebieten des Großirans (Sassanidenreich und Achämenidenreich) verbreitet. Eines der besten Beispiele für dieses Argument ist die Tatsache, dass die sogenannten Pamiris die persischsprachigen Bewohner von Darvaz und Karategin Farsivan („diejenigen, die Farsi sprechen“) nannten.
Persisch war die gemeinsame Sprache für alle Völker, die in Zentralasien iranische Sprachen sprachen. Ab 1939 wurde die tadschikische Sprache ausschließlich für eine Gruppe von iranischsprachigen Völkern in Zentralasien anwendbar – für diejenigen, die Tadschikisch sprachen. Infolgedessen betrachtete man andere Gruppen von iranischsprachigen Völkern in Zentralasien, wie die Pamiris-Tadschiken (,die Pamir-Sprachen sprechen,) als „andere“.
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CAA-N: Wahrscheinlich sprechen viele der Nachkommen derer, die zuvor in Samarkand und Bukhara und in anderen persischsprachigen Gebieten des heutigen Usbekistans Farsi gesprochen haben, jetzt Usbekisch und identifizieren sich als Usbeken. Ihre Vorfahren identifizierten sich nach ihrer Herkunftsstadt, zum Beispiel als Samarkander oder Bucharer. Können wir diese jungen Leute immer noch als Tadschiken bezeichnen, obwohl sich ihre Vorfahren nie als Tadschiken identifiziert haben?
Dagiev: Natürlich sprechen die meisten Menschen, die in verschiedenen modernen Staaten leben, beispielsweise in Usbekistan, nicht mehr Farsi (Tadschikisch), aber ethnisch sind sie nach wie vor keine Usbeken oder Pakistani. Nach dem Zerfall des kommunistischen Regimes der Sowjetunion, wie es in Samuel Huntingtons Buch „The Clash of Civilizations“ beschrieben ist, sind die jüngeren Generationen sehr daran interessiert, ihre Geschichte, Identität, Sprache und Kultur kennenzulernen. Natürlich war die Sprache ihrer tausendjährigen Geschichte und Kultur Persisch. Dies ist der Hauptgrund, warum viele dieser iranischen Völker ihre Ursprünge in Zentralasien haben und sich über ihre Sprache und Identität Gedanken zu machen. Dies gilt für die Tadschiken Usbekistans, Afghanistans, Pakistans und Chinas.
CAA-N: Wenn über Badachschan gesprochen wird, reden wir meistens über Pamiris, Tadschiken, Ismailiten usw. Dabei werden oft die dort lebenden Turkvölker vergessen. Beispielsweise umfasst der Bezirk Murghab in Badachschan mehr als 30% des gesamten Territoriums Tadschikistans, ist aber überwiegend von Kirgisen bewohnt.
Dagiev: Es ist wichtig anzumerken, dass auch andere ethnische Gruppen den Pamir bewohnen, darunter Kirgisen, die im östlichen Teil der Autonomen Provinz Berg-Badachschan Tadschikistans leben. Unser Buch konzentriert sich auf Pamir-Gemeinschaften, die mit einem gemeinsamen religiösen Bekenntnis vereint sind – Ismailismus. Dies ist ein Zweig des schiitischen Islam, dessen Präsenz in der Region bis ins 10. und 11. Jahrhundert zurückreicht und mit der Tätigkeit von Nasir Khusraw (1004-1088) verbunden ist. Darüber hinaus sprechen Pamiris heterogene Sprachen, die Teil der ostiranische Gruppe des iranischen Zweigs der indoeuropäischen Sprachfamilie sind.
CAA-N: In Zeiten der Globalisierung, wenn die Wirtschaft an erster Stelle steht, welche Bedeutung hat das Studium und die Förderung solcher Themen?
Dagiev: Ich würde sagen, dass es nie wichtiger war, die eigene Identität zu kennen, als in Zeiten der Globalisierung. Das bedeutet nicht, die Türen des „Andersseins“ zu schließen, sondern das Gegenteil: Nur wenn Sie sicher sind, wer Sie sind und woher Sie kamen, können Sie Toleranz entwickeln. Toleranz ist die Akzeptanz von Vielfalt in allen Bereichen: im kulturellen, politischen, sprachlichen und religiösen. Die Prozesse der Globalisierung oder Internationalisierung sollten nicht zu einer Homogenisierung führen, sondern im Gegenteil die Tür für diejenigen öffnen, die anders sind als wir.
Aus dem Russischen von Esmira Saudkasova
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