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Usbekistan – Die unterschätzte Landflucht

Ein paar Kilometer von Taschkent, in den usbekischen Dörfern, liegt der Durchschnittstageslohn bei etwa $5. Gerade genug, um sich in den großen Einkaufszentren der goldenen Jugend einen Kaffee (≈ $3) zu leisten.

Einkaufszentrum Taschkent
Einkaufszentrum Taschkent

Ein paar Kilometer von Taschkent, in den usbekischen Dörfern, liegt der Durchschnittstageslohn bei etwa $5. Gerade genug, um sich in den großen Einkaufszentren der goldenen Jugend einen Kaffee (≈ $3) zu leisten.

Trotz des starken demographischen Wachstums Usbekistans bleibt die Wirtschaft auf der Strecke. Besser gesagt, sie folgt einem anderen Weg. Während das erste Phänomen vor allem die ländlichen Gebiete betrifft, in denen 60% der Bevölkerung leben, konzentriert sich das Wirtschaftswachstum fast ausschließlich auf Taschkent, wo nur 2.5 M der knapp 30 Millionen Usbeken wohnen.

Urbanisierung ist jedoch keine angepeilte Lösung: im Gegenteil beschränkt eine strikte Kontrolle der internen Migrationen den Zugang zu der Hauptstadt. Die zahlenmäßig größte Bevölkerung Zentralasiens sieht ihre Zukunft im Ausland. Taschkent, ihrerseits, wird immer mehr zu einer geschlossenen Blase in einem verarmenden Land. Eine Entwicklung die weitere soziale und territoriale Spannungen im Land entstehen lässt.

Territoriale Ungleichheiten und verlassene Dörfer

Das post-sowjetische Usbekistan leidet an einer extrem ungleichmäßigen Entwicklung seines Territoriums. Die Regionen werden auf selektive und gezielte Weise unterstützt. Die städtischen Zentren Samarkand und Buchara konnten beispielsweise zwar die hohen staatlichen Investitionen für die Renovierung der Stadtzentren genießen, jedoch nur rund um den blühenden Tourismus. Der Staat richtet seine Aufmerksamkeit auch auf potentiell instabile Gebiete. So zum Beispiel das Fergana Tal, wo Städte wie Namangan oder  Andijon komplett umgebaut wurden. Währenddessen werden andere Gebiete dem Zerfall überlassen, wie die Republik Karakalpakistan und die Mehrzahl der kleinen oder mittleren Dörfer auf dem Land.

Diese Ungleichheiten zeichnen sich nicht nur in diesen verschiedenen Regionen und bei ihren Einwohnern ab. Die öffentlichen Dienste leiden an einem gravierenden Mittelmangel. Es ist dort oft sehr schwer einen Arzt, eine Apotheke oder eine gute Schule zu finden. Diese Gebiete werden mehr und mehr ihrem Schicksal überlassen, und leiden ganzjährig an Strom- Gas- oder Wasserausfällen. Wegziehen bleibt die einzige Lösung. Nicht nur, um eine Arbeitsstelle zu finden, sondern um Zugang zu grundlegenden öffentlichen Diensten zu erhalten.

Taschkent, eine fremde Stadt in Usbekistan

Diesem Zustrom, der das demographische Gleichgewicht innerhalb Usbekistans zu gefährden drohte, setzte die Regierung eine verstärkte Kontrolle der internen Migration entgegen. So wurden insbesondere das alte sowjetische Melderecht wieder auf die Tagesordnung gebracht. Die Hauptstadt wurde für die Einwohner der Regionen immer unerreichbarer. Seit der Anwendung des Gesetzes von 2012 ist es für die Usbeken sogar einfacher eine neue ausländische Staatsbürgerschaft zu erhalten, als nach Taschkent zu ziehen.

Ouzbekistan

Taschkent, das Herz der usbekischen Wirtschaft, ist heute für die eigenen Bürger fremder, als die Städte Russlands oder Kasachstans.

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Mit ihren regionalen Kulturen und Dialekten fühlen sich die Bürger der ländlichen Regionen wie Fremde in ihrer eigenen Hauptstadt. Es wird attraktiver nach Russland zu emigrieren. Rustam bietet seine Dienste auf dem Markt der Tagelöhner in der Nähe des Schorsu-Basars, im historischen Zentrum von Taschkent, an. Er bemerkt: „In Russland fühle ich mich sicherer als hier. Dort werde ich nicht so oft von der Polizei kontrolliert. Außerdem ist es mir einfacher, in Russland eine Arbeitserlaubnis zu erhalten, als mich in Taschkent zu etablieren. Sie fragen sich bestimmt, warum ich trotzdem hier stehe: es ist eben, um ein wenig Geld für die Reise nach Russland zu verdienen.“

Auch reiche Leute aus den Dörfern gelten so lange als „Dörfler“ bis sie eine Anmeldung in der Hauptstadt erhalten. Schukhrat ist vor 12 Jahren, damals noch als Student, in Taschkent angekommen. Seitdem hat er seinen Bachelor und seinen Master abgeschlossen, und hat als Professor an der Pädagogischen Universität von Taschkent gearbeitet. Vor kurzem hat er eine Wohnung in der Stadt gekauft, doch er ist dort noch immer nicht gemeldet. Er beantragt eine Vorläufige Anmeldung nach der anderen, erhält jedoch nie ein permanentes Wohnrecht. So musste er seinen Posten an der Universität aufgeben und seine Wohnung auf den Namen eines ansässigen Freundes melden.

„Ich hatte es satt, mich immer wieder für sechs Monate anzumelden. Das ist eine administrative Strapaze,“ erklärt er. „Ich muss jemanden in Taschkent finden, der angibt, dass wir verwandt sind. Ich muss ihn für seine Bewilligung bezahlen, und bei jeder Erneuerung bei der lokalen Polizei etwas Schmiergeld zahlen. Bei meinem 205$-Lohn kann ich mir das nicht mehr leisten.“

Sein Plan B? Die Registrierung in einer Vorstadt von Taschkent. „Das gilt als die Region von Taschkent, aber nicht als die Stadt. Doch wegen der unzähligen Anfragen werde ich $500 an die Polizei und $200 an den Mieter zahlen müssen. Ohne Angehörige in der Stadt oder in der Region bleibt mir keine andere Wahl.“

Das attraktivere Russland

Die neue Melderegelung hat viele dazu gebracht, Usbekistan ganz zu verlassen und sich in Russland oder im benachbarten Kasachstan auf Jobsuche zu begeben. Daher die stark steigende Zahl von usbekischen Einwanderern in diesen Ländern. Mit mehr als 2.3 Millionen Einwanderern Ende 2012, bilden Usbeken nun die größte ausländische Gemeinschaft in Russland.

Vor allem Männer und Menschen mit Hochschulausbildung verlassen das Land. Manche Berufe, wie Schullehrer und Dorfarzt, haben viel an Ansehen verloren. Bei solchen Tätigkeiten verdient man etwa $200 im Monat, wobei es mindestens $20.000 kostet, ein Haus zu bauen.

Die Rückzahlungen der Migranten sind zu einem wesentlichen Teil der usbekischen Wirtschaft geworden, und machen ungefähr 15-17% des BIPs aus. Seit 2008 ist Usbekistan das Land, das am meisten Geldtransfers aus Russland erhält. Und diese Statistiken beinhalten nicht all das Geld, das über Freunde oder Taxifahrer in bar über die Grenze geschafft wird.

Doch dieses Geld wird selten in die Wirtschaft investiert. Es dient meistens zu einem übertriebenen Respekt der Traditionen: Organisation von Hochzeiten, teure Autos und Häuser, also Vermögen, das den sozialen Status ausmacht. Der Migrant wird so zu einem nachzuahmenden Erfolgsmodel.

Währenddessen gleichen die Dörfer immer mehr saisonalen Schlafstädten, die während der russischen Bausaison im Frühling und Sommer all ihre Einwohner verlieren.

Migrationen: die Kraft, die Spannung schafft

Die internen territorialen Ungleichheiten wachsen entgegen des von Taschkent georderten und geförderten Aufbaus der usbekischen Nation. Dazu kommt, dass die Migration die Probleme der ländlichen Gegenden verstärkt, indem sie ihnen den dynamischsten Teil der Jugend nimmt.

Der Verfall der usbekischen Regionen führt auch zum Verfall ihrer Sitten und Traditionen. Die Migranten leiden unter den vielen Missbräuchen der russischen Polizei. Zwischen Sklaverei und Rassismus finden manche in Russland den Weg des religiösen Extremismus, wie es ein Bericht von IWPR bemerkt. Andere beanspruchen eine verstärkte regionale Identität (Karakalpakistan, Korezm, Fergana, usw.), wie die gestiegene Zahl der gewalttätigen Ausschreitungen zwischen Migranten verschiedener Regionen Usbekistans in Russland und in Kasachstan zeigt.

Diese anhaltende Suche nach Identität spiegelt sich in Usbekistan auch auf der nationalen Ebene wieder. Doch die reaktionären, und gegen fremden Einfluss gerichteten Maßnahmen Taschkents haben ein schwaches Echo.

Die schlecht koordinierte Begrenzung des Zugangs zur Hauptstadt und die ungleiche Entwicklung innerhalb Usbekistans beinhalten eine soziale Sprengkraft in dem bisher relativ friedlichen, multi-ethnischen und multi-religiösen Staat. Usbekistan erliegt so denselben Spannungen wie seine Nachbarstaaten Kirgistan und Afghanistan.

Akhmed Rahmanov, Anatole Douaud und Pauline Castier

Aus dem französischen Übersetzt von
Martin Stein

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