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Usbekistan: Wenn Frauen eine Stimme fordern

Im Frühling bewegte ein Gewaltvergehen an einer jungen Frau in Usbekistan die Öffentlichkeit. Es folgte ein einmaliger feministischer Protest in sozialen Medien. Der Fall sei typisch für gesellschaftliche Diskurse, die die Unterdrückung von Frauen fortwähren lassen, meint Nadira Khalikova in ihrem Kommentar.   

Yamyewelina Hashtag
Unter dem Hashtag "YaMyEwelina" erzählen Frauen in Usbekistan von ihren Gewalterfahrungen

Im Frühling bewegte ein Gewaltvergehen an einer jungen Frau in Usbekistan die Öffentlichkeit. Es folgte ein einmaliger feministischer Protest in sozialen Medien. Der Fall sei typisch für gesellschaftliche Diskurse, die die Unterdrückung von Frauen fortwähren lassen, meint Nadira Khalikova in ihrem Kommentar.   

Als eine Frau lesen lernte, trat die Frauenfrage in die Welt.
(Marie von Ebner-Eschenbach)

Es ist der 31. Mai 2020 in Farg‘ona, im Osten Usbekistans. Eine 17-jährige junge Frau und ihre Freundin gehen mit dem Hund in einem Park spazieren. Die junge Frau trägt Shorts und ein Top. Sie wird von einem Mann im Park angesprochen, er pfeift ihr zunächst hinterher. Nachdem sie ihn weiter ignoriert, beschimpft er die Frau mit: „Alle Russinnen sind Schlampen“. Sie reagiert nicht und geht mir ihrer Freundin weiter. Eine Stunde später kommt dieser Mann mit 30-40 anderen zurück. Er spricht die junge Frau erneut an, sie sagt, er solle verschwinden. Der junge Mann – er heißt Nodir K. und ist 21 Jahre alt – zieht der jungen Frau an den Haaren und schlägt sie. Sie heißt Ewelina und wird noch am selben Tag ins Krankenhaus gebracht: Sie hat einen Kieferbruch an zwei Stellen, zwei Wochen wird sie durch einen Schlauch und eine Spritze ernährt. Der Fall ging durch die lokalen Medien, wie zum Beispiel die Onlinezeitung Podrobno.uz.

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Erst am 16. Juni wurde ein Strafverfahren nach dem Paragrafen „vorsätzliche leichte Körperverletzung“ eröffnet. Doch nach ein paar Tagen einigten Ewelina und Nodir sich und das Verfahren wird eingestellt. Der junge Mann hat sich öffentlich entschuldigt, hat die Behandlungskosten übernommen: „Und ich hoffe, dass im Netz keine Posts über mich und diese Frau geschrieben werden. Sowohl für mich als auch für sie ist es unangenehm“, so Nodir laut der russischen Onlinezeitung Fergana News.

Vor allem letztere Aussage löste zahlreiche öffentliche Reaktionen aus. Aus dem Fall resultierte einer der vermeintlich größten feministischen Proteste im Usbekistan der letzten Jahre. Das Hashtag #jamyewelina (#ямыэвелина, also „ich/wir sind Ewelina“) wird in sozialen Netzwerken benutzt, um Solidarität mit Ewelina zu zeigen. In Posts mit diesem Hashtag erzählen viele Frauen durch Bilder, Illustrationen, Videos von ihren eigenen Gewalterfahrungen. #jamyewelina ist zur usbekischen #metoo Aktion geworden. Am 6. Juli findet ein Flashmob gegen Sexismus und Diskriminierungen gegen Frauen in den sozialen Medien statt, der später auch selbst zum Objekt von Kritik wird.

Während die Öffentlichkeit dieses Thema intensiv im Netz diskutierte, schwiegen die zuständigen Behörden. Vor allem zwei eigentlich zuständige Institutionen: die Genderkommission (die eine derartige Behandlung der Frau in der Gesellschaft nicht tolerieren darf) und das erst kurz zuvor gegründete Ministerium zur Unterstützung von Mahalla und Familie. 

Ein typischer Fall

Die Tat von Nodir bedarf aber einer besonderen Analyse. Ganz simpel beschrieben ist folgendes passiert: Ein Mann versuchte eine Frau, die nach seiner Meinung „nicht anständig“ angezogen war, anzumachen. Nachdem sie nicht darauf einging, hat er sie brutal geschlagen. Und nach der Friedenschließung wurde er nicht verurteilt. Es gibt viele Vermutungen, warum Ewelina Frieden geschlossen hat. Man kann darin einige Muster erkennen, die vieles über die Rolle der Frau in der usbekischen Gesellschaft und die Beziehungen zwischen Mann und Frau verraten. Das wichtigste Muster ist victim blaming, dazu kommt das usbekische Konzept des „Ma’naviyat“ als ein gesellschaftliches Unterdrückungsmittel und zuletzt Dulden als Lösung allerlei Probleme im Leben der Frauen.

In Usbekistan, wie in vielen anderen Ländern, ist victim blaming ein verbreitetes Phänomen: Frauen seien „sama winowata“, also „selber schuld“ an Übergriffen, wenn sie sich nicht „würdig verhalten“ haben. Sie müssen selbst die Verantwortung tragen, falls mit ihnen etwas passiert. Besonders wenn eine Frau nicht „anständig angezogen“ ist, sei dies eine Art Einladung zur Belästigung. „Wenn die Frauen nicht wollen, dass wir Männer sie ansprechen und anmachen, dann müssen sie sich anständig bekleiden. Wenn ich eine Frau sehe, die etwas Kurzes angezogen hat oder viel Haut zeigt, gehe ich davon aus, dass sie will, dass ein Mann sie anspricht. Eine anständig angekleidete Frau würde ich nie anmachen“, erklärt zum Beispiel Anwar (Name geändert), ein Ingenieur aus Buchara, im Gespräch mit Novastan. Solche Verhaltensweisen werden mit Ma’naviyat zusätzlich gerechtfertigt und erklärt.

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Ma’naviyat ist ein sehr wichtiges Wort im modernen Usbekistan. Es heißt Tugendhaft, Ordentlichkeit, Vollkommenheit. Ein Mensch muss würdig sein, um Ma’naviyat zu erreichen. Es ist das usbekische Nirvana. Ma’naviyat wird von der zweiten Klasse bis zum Masterstudium in unterschiedlichen Formaten unterrichtet. Das Prinzip beinhaltet mitunter eine gewisse Vorstellung davon, wie eine „anständige“ Frau sein soll. Demnach zieht sie zum Beispiel keine Jeanshosen an, sie schminkt sich dezent, sie ist sehr brav und lieb. Sie widerspricht niemandem. Sie macht alles, was zuerst ihre Eltern und später ihr Mann ihr sagen. Und sie hat natürlich nie einen Freund gehabt und heiratet als Jungfrau. Dies macht sie mit spätestens 22 Jahren und bringt zwei-drei Kinder zur Welt, die sie als „würdige“ bzw. als Ma’naviyatliche Menschen erzieht. Sie kann gut kochen und backen und wird damit ihren Ehemann, seine Familie und ihre Kinder glücklich machen und allen mit besonderer Ehre dienen. 

Kritik in den Medien am feministischen Protest

Ende August wurde in dem staatlichen Fernsehsender „O´zbekiston“ bei der gesellschaftlich-politischen Sendung „Munosabat“ (das Wort bedeutet Meinung, Beziehung zu einem Thema) der #jamyewelina-Flashmob angesprochen, der im Sommer in Taschkent durchgeführt wurde und der Gesellschaft zeigen sollte, dass Frauen wegen ihres Geschlechts diskriminiert werden. Auf Pappschildern war zu lesen: „Russin heißt nicht Schlampe“, oder „Kelin (Schwiegertochter) heißt nicht Sklavin“, „Wer schlägt, der muss ins Gefängnis“, „Mein Körper ist meine Sache“. Diese Losungen spielen auf Ausdrücke an, die in der Gesellschaft etabliert sind und die Unterdrückung von Frauen fördern. So ist im Volksmund oft zu hören: „Er schlägt dich, also liebt er dich“ oder auch „Die Kelin muss alle Aufgaben im Haushalt allein machen“.

Die Teilnehmer der Sendung kritisierten den Flashmob heftig. Besonders kritisch äußerte sich die ehemalige Mitarbeiterin des Komitees für Frauenrechte Jamila Shermuxamedova: „Ja, wir haben ein Gesetz zur Gleichstellung der Geschlechter verabschiedet. Dort steht aber nicht: ‚Ich werde tun, was ich will, ich werde nackt herumlaufen, ich werde nicht heiraten, ich werde nicht gebären, ich bin keine Sklavin‘ … jede Frau muss sich den nationalen Werten beugen, weil es Gesetze und eine Verfassung gibt“. 

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So zeigt das nationale Fernsehen reine Propaganda, die alle beliebigen Versuche von Frauen, ihre Rechte einzufordern, minimiert. Der Flashmob bekam auch heftige Kommentare in sozialen Medien, vor allem von Männern. Wie der Journalist Ali Kaxxorov beobachtete, schrieb der Fußballkommentator und Journalist Bobur Fozilxon zum Beispiel auf seiner Facebookseite: „Warum schenkt ihr den paar durchgef*ckten Tampons, die mit Pappschildern herumlaufen, so viel Aufmerksamkeit? Ignoriert es einfach.“ Der Post wurde scheinbar später gelöscht.

Wie man sieht, werden Frauen, die ihre Rechte einfordern und sich für Gleichberechtigung in der Gesellschaft einsetzen, sofort als „Schlampe“ stigmatisiert. Die Gesellschaft zelebriert nur ein Frauenbild: eine Frau, die nicht widerspricht. Eine Frau, die dem „Ma’naviyat“ entspricht.  Eine Frau, die trotzt aller Schwierigkeiten (besonders, wenn sie schon verheiratet ist) schweigt und duldet und ihre Töchter ebenfalls dazu erzieht. In Usbekistan haben Frauen Dulden zu einer besonderen Philosophie erhoben. Das kollektive demütige Dulden der Frauen in der Gesellschaft ist bis heutigen Tag sehr präsent. Es ist letztendlich einer der wenigen Wege, um als Frau zu überleben.

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Es ist fragwürdig, ob der Fall Ewelina und der Flashmob #jamyewelina kurzfristig etwas in der Gesellschaft ändern werden. Aber sie gehören zu den ersten, bewussten und „lauten“ Aktionen von usbekischen Frauen, um ihre Rechte einzufordern und um daru zu kämpfen, dass ihre Stimmen gehört werden. Die Ereignisse haben das Bild einer starken und unabhängigen Frau vor allem unter jüngeren Leuten zum Trend gemacht. Es beginnt, cool zu sein, als eine Frau eine Stimme zu haben und für diese Stimme zu kämpfen. So tritt die Frauenfrage auch nach Usbekistan.

Usbekistan hat sehr starke Frauen. Sie könnten die Zukunft des Landes beim Kochen und mit Kindern im Arm bewältigen, wenn nicht die Traditionen, das Ma´naviyat, die Ungleichheit der Geschlechter in der Gesellschaft und letztendlich die Erziehung, die Frauen nur auf Alltag, Kinder, Schwiegereltern und Ehemann beschränken.

Nadira Khalikova
Novastan.org

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