Die usbekische Regierung hat beschlossen, die Lehre der Politikwissenschaft, welche sie als „Pseudo-Wissenschaft“ bezeichnet, zu verbieten. Dies ist vor allem ein neuer Ausdruck der zwanghaften Umsetzung rund um das „Usbekische Modell“.
Kurz vor dem Unabhängigkeitsfest am 1. September wurde zur allgemeinen Überraschung die Lehre der Politikwissenschaft in Usbekistan verboten. Laut dem Bildungsministerium sei die Politikwissenschaft eine „Pseudo-Wissenschaft“ und ein überflüssiges Duplikat anderer Geisteswissenschaften wie der Philosophie, der Soziologie und der Rechtswissenschaften. Die Disziplin hat der Regierung nach keine eigenen Methoden, während sich die „Pseudo-Wissenschaft“ auf Werke und Theorien aus westlichen Staaten beziehe.
Eine Gruppe usbekischer Politologen und Intellektueller haben in verschiedenen russisch– und usbekischsprachigen Medien gegen diese Entscheidung protestiert. Geleitet wird sie von Farchad Talipow, einem der Mitbegründer der usbekischen Politikwissenschaften nach dem Ende der Sowjetunion. Er sagt: „Schweigen kann wie eine Zustimmung wirken, aber wir sind mit dem Verbot der Politikwissenschaft in Usbekistan nicht einverstanden.“
Grund ist der ungewollte „westliche Einfluss“
Das Verbot beruht auf der Idee, dass der sogenannte „westliche“ Einfluss der Politikwissenschaft nicht kompatibel ist mit dem „Usbekischen Modell“, auf dem die usbekische Nation aufbaut. Indem sie die Politikwissenschaften bannt, geht die usbekische Regierung einen Schritt weiter in Richtung einer zwanghaften Umsetzung diese Modells, dem auch die politischen und ideologischen Eliten des Landes anhängen. Fast alle diese Eliten stammen aus der Kommunistischen Partei des sowjetischen Usbekistans.
Wie für alle Staaten der Region, waren die ersten Jahre der Unabhängigkeit sehr schwer für Usbekistan. Nach langem Zögern bis zur Auflösung der Sowjetunion entschied sich das Land schnell, seine neugewonnene Unabhängigkeit und Souveränität um jeden Preis zu verteidigen. Dabei hatte Usbekistan sehr gute Karten: Ein reiches kulturelles Erbe, eine Geschichte voll großer Figuren als Anhaltspunkte, eine bemerkenswerte Demographie im Vergleich zu den Nachbarländern, aufgrund seiner großen, gut ausgebildeten Bevölkerung, und die stärkste Wirtschaft der Region. Man erwartete, dass Usbekistan schnell zu einer zentralasiatischen Führungskraft aufsteigen und die Nachbarstaaten um sich fügen würde, um einen geopolitischen Pol zu schaffen.
Schritt für Schritt, die Obsession einer nationalen Identität
Es geschah jedoch das Gegenteil. Usbekistan fand sich in der Mangel zwischen den politischen Krisen in Afghanistan und Tadschikistan und von innen durch pantürkische und islamistische Bewegungen bedrängt. Um sich vor externen Feinden zu schützen, hat sich das Land isoliert. Damit einher ging die verzweifelte Suche nach einer tiefgreifenden nationalen Identität, durch die es seine Werte gegen die Bedrohungen von außen schützen könnte. Als Bedrohungen gelten vor allem kulturelle und außenpolitische Einflussnahmen, radikaler Islamismus bis hin zur westliche geprägten Globalisierung.
Um sich effektiv zu schützen, bedarf es einer einmaligen Nationalidentität. Usbekistan befindet sich historisch an einer Kreuzung der Zivilisationen, und seine Regionen unterscheiden sich kulturell und zum Teil auch sprachlich. Vor der sowjetischen Zeit entsprachen diese Räume verschiedenen Sprachen. Wie in der sowjetischen Politik hätte diese Vielfalt der Kulturen als ein politischer Vorteil genutzt werden können.
Ein einmaliges Modell und eine einmalige Identität
So wie alle politische und wirtschaftliche Macht zentralisiert wurde, wollte der neue usbekische Staat auch eine einheitliche und einmalige Identität um ein entsprechendes Nationalmodell schaffen. Usbekistan bemühte sich, die Fehler der Sowjetunion nicht zu wiederholen, und erlag denselben politischen und wirtschaftlichen Irrtümern, nur in kleinerem Maße. Betrachtet man das sowjetische System im Vergleich zu den ehemaligen Sowjetstaaten, so hat Usbekistan das strukturell ähnlichste Modell, und dazu die allgegenwärtige Korruption.
Um das Ziel einer starken nationalen Identität zu erreichen, hat Usbekistan ein wirtschaftliches Entwicklungsmodell mit einer nationalen Ideologie erschaffen. Das „Usbekische Modell“ bezeichnet sowohl den wirtschaftlichen, als auch den politischen Flügel.
Das „Usbekische Modell“
Was ist das „Usbekische Modell“? Es handelt sich um ein nationales wirtschaftliches und politisches Entwicklungsprogramm. In den Medien und in politischen Reden ist die Wirtschaftsideologie prägnanter, da sie sehr allgemein gehalten wird. Das Modell beinhaltet fünf wesentliche Stützen für die Politik des Landes. Zuerst kommt der Vorrang des Wirtschaftlichen vor die Politik: ein Gegensatz zu der Sowjetunion, wo die Wirtschaft der Ideologie geopfert wurde. Zweitens die Einführung eines Rechtsstaats. Wirtschaftlich verlangt das Modell einen sanften Übergang zur Marktwirtschaft. Der Staat ist dabei der Hauptmotor für Reformen und etabliert starke soziale Garantien.
Dieses Modell hat ebenfalls einen Zusatztext, die „Nationale Ideologie“, in dem es darum geht, eine usbekische Nation um patriotische, humanistische, säkulare und sogar feministische Prinzipien zu bilden. Doch dieser Text wird von den meisten Institutionen ignoriert, da er oft nicht im Einklang mit der eher traditionalistischen und konservativen usbekischen Gesellschaft steht. Aus diesem Grund ist die „nationale Ideologie“ im Alltag vor allem für den Abschnitt bekannt, der auf die Konservierung der nationalen Werte, Sprache und Traditionen abzielt. Die Mahalla, die traditionelle usbekische Gemeinschaft, erhält dabei eine Schlüsselrolle als Mittler zwischen Staat und Gesellschaft.
Die nationale Ideologie als Diskriminierungsinstrument
Der Begriff der „Nation“ ist nicht klar definiert und wird in Anlehnung an den sowjetischen Begriff genutzt. Die Nation wird meist mit einer Ethnie, nicht mit der Bevölkerung eines Staates identifiziert. Demnach entwickelte sich auch die nationale Ideologie von einem patriotischen und universalen Konzept hin zu einer nationalistischen und diskriminierenden Idee.
Heutzutage entspricht die usbekische Nation, also die usbekischen Ethnien, etwa 80% der Bevölkerung des Landes. Die nationale Ideologie fördert usbekischen Traditionen und Werte und führt dadurch zu Diskriminierungen gegenüber anderen Völkern und Ethnien in Usbekistan und anderswo. Hier muss berücksichtigt werden, dass Usbekistan aus geschichtlich sehr unterschiedlichen Regionen besteht.
Die nationale Ideologie, wie auch die usbekische Sprache, entspricht vor allem der Kultur und Sprache der Bevölkerung des Ferganatals, der Hauptstadt Taschkent und ihrer Umgebung. Im Westen des Landes unterscheidet sich insbesondere die Republik Karakalpakistan komplett von der usbekischen Kultur und Sprache. 2014 haben Dissidenten aus dieser Region die Unabhängigkeitsbewegung „Alga Karakalpakistan“ (Vorwärts Karakalpakistan) gegründet. Ein Zeichen, dass das „Usbekische Modell“ allmählich seine politische Bruchstellen zeigt.
Eine neue Welle der Usbekisierung
Innerhalb dieses Schemas betrachtet ist das Verbot der Politikwissenschaft nur eine Etappe. Eine erste „Usbekisierung“ begann Mitte der 1990er. Marxistische, leninistische und stalinistische Bücher wurden aus den Bibliotheken des Landes geräumt und Namen wurden systematisch „usbekisisert“: Städte, Straßen, Viertel, Schulen und Universitäten wechselten ihren Namen. Diese Politik wurde so weit geführt, dass die Behörden für internationale Begriffe usbekischen Ersatz finden mussten. Diese erste Welle nahm gegen Ende der 1990er ab, als sich der Staat aufgrund terroristischer Bedrohung verstärkt der inneren Sicherheit zuwandte. Dieser Aspekt ist auch heute mit dem Anschluss der Islamischen Bewegung Usbekistans (IMU) an die Gruppe „Islamischer Staat“ sehr aktuell.
Die neue Welle der „Usbekisierung“ kann schon seit ein paar Jahren beobachtet werden. Sie begann 2008 mit dem Namenswechsel eines der großen Plätze Taschkents. Der Xalqlar Do’stligi (Völkerfreundschaft) Platz, der schon ein erstes Mal auf Usbekisch umbenannt wurde, erhielt den Namen Bunyodkor (Erschaffer, Erbauer). Die berühmten Statuen der Schohmahmudow-Familie, die während des Zweiten Weltkriegs 15 Kinder, die aus dem Westen der Sowjetunion deportiert wurden, adoptiert hatte, wurden in einen Vorort versetzt. Dieser Platz war ein Symbol der Freundschaft der Usbeken mit anderen Völkern und repräsentierte ebenfalls die usbekische Toleranz, Gutmütigkeit und Gastfreundschaft.
Sowjetische Embleme und Elemente anderer Kulturen verschwinden allmählich aus dem Land. Der Namenswechsel der Metrostation Hamza in Novza im Juni war ein weiteres Zeichen dafür, dass sich das Land vom sowjetischen Säkularismus distanzieren möchte.
Das Sowjetische verbannen
Hamza Hakimzoda Niyoziy ist eine der wichtigsten progressiven Figuren der usbekischen Nation. Er wurde durch den sowjetischen Sozialrealismus inspiriert und engagierte sich während des Bürgerkriegs zwischen Basmatschis und Sowjets in den 1920ern für die Abschaffung des religiösen Feudalsystems in Usbekistan. Er spielte eine wichtige Rolle bei der Abschaffung der Vollverschleierung (Parandschi) und prangerte die Ungerechtigkeiten des Feudalsystems an. Er war auch Gründer der ersten Theaterensembles Usbekistans und wird heute als erster Drehbuchautor und Vater des usbekischen Theaters angesehen.
Aber seit kurzem zieht diese historische Figur die Kritik mancher usbekischer Ideologen an. Sie meinen, der Name Hamzas müsste aus der Geschichtsschreibung gestrichen werden, weil er ein Sozialist war und durch seine Angriffe auf die Religion den usbekischen Traditionen geschadet hat. Trotz öffentlicher Proteste wurde der Name von Hamza von allen Orten Taschkents gestrichen, und seine Geschichte droht heute in Vergessenheit zu geraten. Novza dagegen bietet für die meisten Usbeken keine Anknüpfungspunkte wie diese.
Moralistische Verbote
Diese Verbote sind nicht nur auf politische Objekte angewandt, sie sind zum Teil sehr moralistisch. Lola Yuldasheva, eine in Usbekistan sehr beliebte Sängerin, wurde erst von konservativen Religiösen, und dann von „Usbeknavo“, der Organisation, die das Künstlerwesen reguliert, angegriffen. Nachdem ihr das Recht, in der Öffentlichkeit zu singen, entzogen wurde, musste sie sich entschuldigen um „sich auf eine mit der nationalen Mentalität nicht konforme Art angezogen zu haben.“
Es ist kein Geheimnis, das Usbekistan auf drastische Mittel zurückgreift, um gegen den islamischen Extremismus zu kämpfen. Doch gleichzeitig schüren der Staat und seine Institutionen durch ihre moralistische und traditionalistische Politik, die jede intellektuelle Initiative unterdrückt, eben diesen Extremismus. In dem Sinne ist das Verbot der Politikwissenschaftslehre symptomatisch. Die Bevölkerung hat allgemein kaum Verständnis für politische Ideen und die Gesellschaft ist stark von dem ideologischen Vakuum nach der Sowjetunion geprägt.
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In diesem Kontext scheint das Verbannen der Politikwissenschaft vor allem einem Suizid gleichzukommen. Mit einer Elite, die diese Disziplin nicht kennt, riskiert Usbekistan, ein Land, das weiter eine wichtige geopolitische Rolle spielt, als politischer Akteur zwischen Großmächten wie Russland und China vollkommen zu verschwinden. Die Gesellschaft selbst wird sich schwer tun, einer politischen Linie zu folgen, ohne das eine Elite sie dauerhaft führt, die Ideen hat, eine Weltanschauung und eine Strategie für ihr Land. Usbekistan wird solche Eliten brauchen, denn niemand ist unsterblich.
Akhmed Rahmanov
Redakteur für Novastan.org in Usbekistan
Aus dem französischen übersetzt von
Florian Coppenrath