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Klimaneutral bis 2060? Kasachstans große Energie-Vision auf dem Prüfstand

Als Kasachstan mit dem Bau eines neues Atomkraftwerks offiziell beginnt, herrscht über der Region eine extreme Hitze. Die Erderwärmung ist im kontinentalen Klima umso mehr spürbar: In einem Land, in dem die Sommerhitze schon 49 Grad Celsius erreichen kann, ist jede Erhöhung bedrohlich. Doch die Bemühungen, klimaneutral zu werden, sind mit großen Schwierigkeiten verbunden. Eine Entschlüsselung.

Ein Fabrik in Öskemen: Noch ein weiter Weg zur Klimaneutralität, Photo: Lil Dozhd via unsplash.com

Als Kasachstan mit dem Bau eines neues Atomkraftwerks offiziell beginnt, herrscht über der Region eine extreme Hitze. Die Erderwärmung ist im kontinentalen Klima umso mehr spürbar: In einem Land, in dem die Sommerhitze schon 49 Grad Celsius erreichen kann, ist jede Erhöhung bedrohlich. Doch die Bemühungen, klimaneutral zu werden, sind mit großen Schwierigkeiten verbunden. Eine Entschlüsselung.

Die Temperaturen in Kasachstan – wie auch überall – steigen. Der Winter 2024/25 wurde schon offiziell als anomal warm eingestuft, wobei die Temperaturen die Norm um 2 bis 6 Grad überstiegen. Auch Frühling und Sommer waren extrem heiß: Monatliche Meldungen nennen regionale Temperaturrekorde, die 2025 aufgestellt wurden. In den letzten 75 Jahren hat sich die jährliche Durchschnittstemperatur um 6 Grad Celsius erhöht.

In diesem Kontext sind die Bemühungen, dem Klimawandel entgegenzuwirken und diesen zumindest abzudämpfen, extrem relevant. Doch der jetzige Ausgangspunkt lässt eine grüne Zukunft in weite Ferne rücken.

Rohstoffabhängigkeit im Hintergrund

2023 hat Kasachstans Präsident Qasym-Jomart Toqaev die ambitionierte Strategie zur Erreichung der CO2-Neutralität bis 2060 genehmigt. Doch für das zentralasiatische Land, dessen Wirtschaft stark von der Gewinnung, Verarbeitung und dem Export von Rohstoffen wie Öl und Gas geprägt ist, wird die Umstellung auf erneuerbare Energiequellen nicht einfach.

Fast während seiner gesamten unabhängigen Geschichte hat Kasachstan die Förderung von Brennstoffen vorangetrieben, indem es Investitionen dadurch angezogen hat, dass die Rechte für die Exploration und Förderung von Gas und Öl an Konzerne wie British Petroleum, Exxon und Shell vergeben werden. Öl macht aktuell 52,5 Prozent der Exporte des Landes aus und bringt jährlich bis zu 40 Milliarden Euro ein. Während Russland wegen seines Angriffs auf die Ukraine mit Sanktionen belegt ist, suchen westliche Länder nach alternativen Lieferanten, weshalb Kasachstan neue Verträge erhält – vor allem für den Ölexport nach Europa.

Das Geschäft ist also viel zu lukrativ, um darauf zu verzichten oder zumindest die Ölfördermenge zu drosseln. Trotzdem wird es geschehen. Wenn auch nicht aus ökologischen Gründen, dann aus Not. Laut Prognosen reichen die derzeitig bekannten Ölvorräte bei der aktuellen Fördermenge nur für 30 Jahre. Das kann generell mit den Klimaziele einhergehen, dennoch erforscht der Staat weiterhin aktiv vielversprechende Gebiete für potenzielle neue Lagerstätten.

Das Hauptproblem: Kohle

Öl ist nur ein Teil des Problems. Der Energiesektor im Allgemeinen ist Kasachstans Quelle Nr. 1 für Treibhausgasemissionen. Obwohl der Energiebedarf der Industrie knapp über ein Fünftel des Endenergieverbrauchs ausmacht, wird mehr als ein Drittel für den Gebäudesektor aufgewendet. Hier kommt die Kohleverarbeitung ins Spiel.

Im Land gibt es reichlich Kohle und sie lässt sich sehr kostengünstig fördern. Kasachstans größte Kohlevorkommen liegen nicht tief und sehr dicht. 2023 konnte bei Bergwerken eine Tonne Kohle für ca. 9.000 Tenge erworben werden – also nach damaligem Wechselkurs für ca. 18 Euro, weit unter den gängigen Preisen am Weltmarkt. Für Endkunden innerhalb des Landes kann sich der Preis aufgrund von Transportkosten verdoppeln, allerdings bleibt dieser Brennstoff immer noch die preiswerteste Quelle für die Energieerzeugung. Durch den Einsatz von Kohle entsteht mehr als die Hälfte der Treibhausgasemissionen in Kasachstan.

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Kasachstan nutzt den Großteil der im Land geförderten Kohle für den Eigenbedarf: Dadurch werden vor allem die Wärmekraftwerke versorgt. Kohle ist für 99% der Wärmeerzeugung in Kasachstan verantwortlich; auch mehr als die Hälfte des Stroms wird damit erzeugt. Doch die Kraftwerke sind alt und teilweise marode: Die meisten wurden schon in der Sowjetunion gebaut und haben ihre vorgesehene Betriebsdauer längst überschritten. Die veralteten Technologien entsprechen keinen ökologischen Standards und führen zudem zu hohen Verlusten bei der Energieverteilung.

Die Bereitschaft, auf Kohle komplett zu verzichten, scheint bei der Regierung auch in der Theorie nicht ausgeprägt zu sein. „Wir leben auf Reichtum. Die Kohleverstromung gilt als die günstigste. Außerdem ermöglicht der Bau von Heizkraftwerken auch die Steuerung der Wärmeversorgung. Wie Sie wissen, werden alle unsere Städte durch Heizkraftwerke und eine zentrale Wärmeversorgung versorgt. Diesen Ansatz müssen wir weiterverfolgen“, zitiert zakon.kz. Kasachstans Minister für Energie Erlan Aqkenjenov.

Als Alternative schlägt der Minister vor, die Heizkraftwerke mit modernen Kesseln auszustatten, die es ermöglichen, Kohle „rückstandsfrei zu verbrennen. Bis 2035 solle „jedes Heizkraftwerk schrittweise auf saubere Kohletechnologie umgerüstet werden.

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In der Republik mit ihren kalten Wintermonaten ist weniger als die Hälfte der Haushalte an ein Nah- oder Fernwärmenetz angeschlossen. In Einfamilienhäusern ist Kohle oft der primäre Energieträger für die Heizung, was wiederum zu einer Verstärkung des ohnehin schon erheblichen Smogs führt, der von Heizkraftwerken in Großstädten wie Almaty verursacht wird. Ein erheblicher Teil der Energie geht außerdem ungenutzt verloren. Der Wohnungsbestand in Kasachstan ist alt, und seine energetische Modernisierung ist teurer als die Preise für Strom oder Heizung, die ins Leere gehen.

Schleppende Dekarbonisierung im Straßenverkehr

Im Verkehrswesen, dem zweitgrößten Energieverbraucher im Land, sieht die Situation ähnlich aus. Die Wirtschaftskommission für Europa hat in der Roadmap für SDG7 (Bezahlbare und saubere Energie) Kasachstan empfohlen, 15% der PKWs bis 2050 zu dekarbonisieren. Stand jetzt sind in der Republik 6,17 Mio. Autos registriert, Elektroautos machen davon nur 0,003% aus.

Ein Vierteljahrhundert ist eine lange Zeit – vor 25 Jahren gab es schließlich noch gar keine Elektroautos, so wie man sie heute kennt. Jedoch scheint diese Zeitspanne für Kasachstan optimistisch zu sein: Fast die Hälfte der PKW im Land ist älter als 20 Jahre, und ein erheblicher Teil davon besteht aus Autos, die im Ausland keinen TÜV mehr bekommen würden oder ökologischen Standards nicht entsprechen. Obwohl die Regierung Geldstrafen für die Autobesitzer plant, deren Fahrzeuge die Abgasnormen überschreiten, ist eine direkte zweckgebundene Finanzierung von Umweltinitiativen mit den Einnahmen nicht vorgesehen. Viele Fahrer wechseln ihre Autos erst dann, wenn die nicht mehr zu fahren sind, und auch dann kommen erstmal der Sekundär- und Tertiärmarkt für PKW infrage.

Umsteigen auf ein Elektroauto ist in Kasachstan nicht leicht: Alle Ladestationen befinden sich innerhalb der drei größten Städte: Astana, Almaty und Shymkent und auch dort sind diese nur begrenzt verfügbar. Wegen Brandgefahr ist es zum Beispiel verboten, eine Ladestation auf einem Mehrfamilienhaus-Parkplatz zu installieren. Die Besitzer sind somit auf öffentliche Ladestationen in Parkhäusern und Einkaufszentren angewiesen – die im Übrigen häufig keinen Ökostrom liefern.

Laut interner Recherche eines Autoproduzenten in der Region betrachten mehr als die Hälfte der Autobesitzer die E-Autos nicht als eine Kaufoption, wenn sie über ihren nächsten Autokauf nachdenken. Nach dem Boom im Jahr 2022/2023, als billige E-Autos aus China en masse importiert wurden, ist die Aufregung zurückgegangen. Die Marktlücke scheint gefüllt zu werden. Die städtische Bevölkerung mit überdurchschnittlichen Einkommen, die sich ein E-Auto leisten könnte und wollte, hat es schon erworben, für den Rest ist es viel zu teuer, viel zu unpraktisch, viel zu unbekannt. Die Autohändler konzentrieren sich jetzt stattdessen auf Hybridmodelle, die als Übergangslösung dienen könnten – aber auch diese kommen beim jetzigem Stand der Infrastruktur für die Mehrheit nicht infrage.

Saubere Energie: nur ein Bruchteil

Es ist auch nicht so, dass Kasachstan gar keine saubere Energie produziert.

Dass die Wasserkraftwerke eher eine minderwertige Rolle bei der Energieerzeugung spielen, ist durchaus logisch. Diese stammen zum Großteil aus der gleichen Generation wie die Wärmekraftwerke. Außerdem sind die Wasservorräte am Schwinden, und ob es genug Wasser für die Energieerzeugung in den nächsten Jahren geben wird, ist fraglich.

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Doch unter Berücksichtigung der günstigen Lage der zentralasiatischen Republik wird Solar- und Windenergie erstaunlich wenig genutzt. Stand 2024 gab es in der Republik 59 Windkraftanlagen und 46 Solarparks, obwohl Kasachstans weite unbewohnte Steppen für diese Energieerzeugung fast ideal wären. In den südlichen Regionen gibt es 2200 bis 3000 Sonnenstunden im Jahr, also zwei bis drei mal so viel wie in Deutschland. Auch für Windenergieerzeugung ist das Land eigentlich attraktiv: In der ganzen Republik ist die notwendige Windgeschwindigkeit von 5 – 6 m/s vorhanden, in erheblichen Teilen des Landes erreicht diese 8,27 m/s. Laut Expertenschätzungen beträgt das Energiepotential der Windenergie 920 Mrd. kWh pro Jahr.

Trotzdem wird dieses Potenzial nicht ausreichend genutzt. Dafür gibt es einen einfachen Grund: Für die nichtstaatlichen Investoren ist der Sektor der sauberen Energie auf dem aktuellen Preisniveau unattraktiv. Die sowieso schon teuren Anlagen müssen erst importiert werden, doch der Strom wird an die Endkunden – im Maximaltarif – für sieben Cent pro Kilowattstunde mit Mehrwertsteuer verkauft. Meistens liegen die Preise für die Bevölkerung bei der Hälfte davon. Das deckt kaum die Wartungskosten. Der Anlagehorizont ist in dem Fall viel zu lang; bis die Rendite da ist, sind die Energieanlagen schon veraltet und brauchen neues Kapital für die Modernisierung.

Dass die Energiepreise unvermeidbar steigen müssen, um die Modernisierungskosten im Sektor zu decken und die Umstellung auf grüne Energie voranzutreiben, war klar. Auch das umstrittene neue Atomkraftwerk, das potentiell auch nicht das letzte wird, soll sich erst rentieren. Die Experten schätzen, dass in den ersten 15 Jahren der Atomstrompreis bei 12,5 Cent Pro Kilowattstunde liegen wird. Doch die nachhaltige Energie muss zum Marktführer werden. In der idealen Energiebilanz sollen diese mindestens die Hälfte ausmachen, während über Kernkraftwerke mindestens ein Prozentsatz gedeckt werden muss, der sich am weltweiten Anteil an Kernenergie, der bis 2040 12% erreichen sollte, orientiert, so Sergei Agafonov, der Vorsitzender des Kasachischen Verbands der Energieversorgungsunternehmen. „Ja, die erneuerbaren Energien werden in unserer Energiebilanz gegenüber allen anderen Erzeugungsarten dominieren müssen. Die Hauptsache ist, dass wir diesen Wandel sorgfältig vollziehen (…), sagte Agafonov in einem Interview mit Orda.kz.

Zweifel sind angebracht

Die Strategie für 2060 enthält weder den Umsetzungsplan noch die Erfolgsindikatoren – und auch keine Sanktionen für das Nichterreichen der gesetzten Ziele. 2017 wurde auf der EXPO in Astana schon angekündigt, dass der Anteil der erneuerbaren Energien bis 2030 auf 30% steigen soll. Stand jetzt liegt die Quote bei nur 6,2%.

Das ist immer noch ein Zuwachs von 4% in den letzten 7 Jahren, doch die Wachstumseinschätzung war eindeutig viel zu optimistisch. Schon vier Jahre später hat sich der Zielwert in offiziellen Aussagen halbiert.

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Ein Szenario, das auch bei der Strategie-2060 die Ziele verfehlt werden, ist nicht auszuschließen. Auch Climate Action Tracker zeigt Zweifel an der Strategie und bewertet Kasachstans Klimaschutzmaßnahmen als „unzureichend“, weil „die Emissionen unter den derzeitigen politischen Rahmenbedingungen (mindestens) bis 2035 weiter steigen werden“. Der politische Wille sowie der Spielraum, um bestehende Herausforderungen effektiv anzugehen, scheint unzureichend zu sein.

Anna Wilhelmi für Novastan

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