Der Seiltanz, oder Darwazliq, ist eine der traditionellen Unterhaltungsformen der Uiguren. Diese Show ist eine Demonstration des Geschicks des Hochseilakrobaten, des Darwaz. Die Tradition des Seiltanz ist ein sehr alter und legendenbehafteter Teil uigurischer Kultur. Dieser Artikel erschien zuerst in der dritten Ausgabe der französisch-uigurischen Zeitschrift „Regard sur les Ouïghour.e.s“ (Blick auf UigurInnen), wir übernehmen in mit frendlicher Genehmigung der Redaktion.
In der uigurischen Tradition wird den Darbietungen des Seiltanzes eine besondere Bedeutung beigemessen, es gibt etliche Erzählungen und Legenden sowie zahlreiche Spuren in der mündlichen Literatur über diese Tradition. Der Seiltanz erfordert eine hohe technische Kompetenz. Zwischen Himmel und Erde ist es unumgänglich für den Darwaz über einen guten Gleichgewichtssinn zu verfügen und Vertrauen in seinen Körper und Geist zu haben. Nur so schafft er es, sich lediglich mit einer Balancierstange ausgestattet, zu bewegen und ein Spektakel zu bieten, dass Zuschauer verzaubert.
Eine schamanistische Tradition
Zu der Zeit, als die Uiguren den Schamanismus betrieben, brachten die Darwaz während der Ernte ihre Frömmigkeit dem Gott Tengri gegenüber zum Ausdruck, indem sie rote und grüne Fahnen zu Trommelwirbeln schwenkten. Diese schamanistische Tradition findet eine poetische Resonanz im 1984 erschienenen epischen Werk Aq Romalliq Perizat (Die Göttin im weißen Schleier) von Qurban Barat.
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Dort heißt es: „Ein bisschen weiter, auf dem mit Kieselsteinen bedeckten Feld, waren die Darwaz auf das aufgehängte Seil gestiegen; einer von ihnen gab sich der Zurschaustellung seiner Geschmeidigkeit und seiner Beweglichkeit inmitten dem Trubel der roten und grünen Fahnen und dem Wirbeln der Trommeln hin. Der Darwaz, der sich gen Himmel erhob, wurde durch einen tosenden Applaus und einen Donner an Beifallsrufen begrüßt, während die Schamanen unten blieben und dem Publikum das Spektakel erklärten.“
„Der Darwaz gilt als Symbol des Aufstiegs dem Firmament entgegen. Die Schamanen ließen ihre Gebete in einem Chor erklingen und bewegten ihre Köpfe voller Geschrei von einer Seite zur anderen, ihre Hüte in der Hand, ihre Haare wehend, als wären sie vom Wahnsinn ergriffen worden.“
In Legende verankert
Ebenfalls findet man antike Darstellungen der Darwaz unter den Wandbemalungen der 77 Grotten von Kizil Ming’öy, auch unter dem Namen Tausend-Buddha-Höhlen von Kizil bekannt, welche im Kreis Bay im Regierungsbezirk Aksu liegen. Ebenfalls gibt es unter den in den Ruinen von Turpan gefundenen Statuen, die auf das VII bis VIII Jahrhundert zurückgehen, ein Duo von Figurinen, die den Fuß gen Himmel gerichtet am Ende einer Balancierstange gezeigt werden. Der uigurische Linguist Muhammad Kaschghari verweist in seinem Werk dīwān lughāt at-turk (Sammlung der Dialekte der Türken) ebenfalls auf das Seiltanzen: „Man praktizierte das Seiltanzen, das heißt, dass man auf einem Drahtseil auf- und abging.“
Eine uigurische Legende erklärt die Entstehung des Seiltanzens: Damals erschien ein Hexenmeister oberhalb einer Stadt, versetze den Himmel in Unruhe und fing an, nach seinem Belieben den Bewohnern der Stadt schlimmes Unheil zuzufügen und ihnen keinen Frieden zu gönnen. Trotz aller Anstrengungen der Bewohner, den Hexenmeister vom Himmel zu vertreiben, fuhr er fort, sie zu tyrannisieren.
Eines Tages hegte ein junger Heros namens Obul den Wunsch, sein Volk von dieser Unterdrückung zu erlösen. Er errichtete Masten, die bis zu den Wolken reichten und die er mit einem Seil miteinander verband. Als der Hexenmeister erschien, richtete der junge Mann sich auf dem Seil auf und kämpfte gegen ihn mit Geschicklichkeit und Gewandtheit. Obul schaffte es, den Hexenmeister zu töten, indem er ihm den Kopf abschnitt und rettete somit seine Mitbürger. Seitdem wurde das Seiltanzen zum Symbol des Heldentums und hat nicht aufgehört, sich unter der Bevölkerung zu verbreiten.
Die lange Geschichte des Seiltanz
Von der Han-Dynastie bis zur Tang-Dynastie reisten die Schamanen der uigurischen Region mit ihrem Eisendraht durch das zentrale Tiefland und in der Chang’an-Region. Zur Zeit des mongolischen Imperiums, zwischen 1221 und 1223, machte der chinesische Gelehrte Qiu Chuji eine Reise durch die uigurische Region.
Nach seiner Rückkehr erzählt er in seinem Werk Aufzeichnungen über die Reise in den Westen von seiner Reise: „Den Weg von Norden Richtung Südwesten nehmend, schritten wir drei Tage dahin, bevor wir in einer Stadt ankamen, dessen König, ein Uigure, uns herzlich aufnahm und uns Geschenke machte. Er lud uns ein, Suppe und Brot aus der Region zu essen. Als wir eine andere Stadt erreichten, überraschte uns ein kleiner uigurischer Junge, der dabei war, einen Mast hinaufzuklettern, um die Spitze zu erreichen, wobei er sich als perfekter Fechter erwies.“
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Im Qamusname, eine chinesische Enzyklopädie die aus der Tang-Periode stammt, wird darauf hingewiesen, dass der Großteil der Zirkuskünste aus westlichen Ländern stammt. So auch der Seiltanz, der für die Chinesen aus dem Westen stammt, insbesondere aus dem uigurischen Territorium. Shi Ling berichtet in seinem Buch Reise nach Xinjiang, dass „im Kreis Yarkant die Frauen und Mädchen gut singen können und sich daran erfreuen, die Zirkuskünste zu praktizieren, solche wie Akrobatik und Seiltanz“.
In dem Buch Hanyi, verfasst von Seyji, erfährt man ebenfalls, dass zu manchen Gelegenheiten „die aus dem Westen stammenden Mönche sich in einem Saal versammelten, um ihr Spektakel zu präsentieren. Sie verwandeln sich zunächst in Fische, dann, ganz unerwartet, in goldene Drachen. An ihrer Seite tummeln sich zwei Frauen frei auf dem Drahtseil, von einem Mast zum nächsten gehend.“
Wie wir durch diese Erzählungen sehen, hat sich der Seiltanz während der Han-Dynastie über die westlichen Regionen ausgebreitet, das heißt von der uigurischen Region über das zentrale Flachland. In der jüngeren Geschichte hat die uigurische Bevölkerung die Kunst des Seiltanzens ebenfalls Ausländern vorgestellt, insbesondere während Reisen in Zentralasien und in Saudi-Arabien. Heute setzt der uigurische Seiltanz, gestärkt von seinem Erbe, seine Rolle des Sports und traditioneller Kunst fort.
Im Original von Ihsan Ismayil, „Regard sur les Ouïghour.e.s“
Übersetzt von Agnes Lüdicke