Kurbanjan Semet ist ein uigurischer Kameramann aus Xinjiang, der uigurischen Region im Nordwesten der Volksrepublik China, die zum zentralasiatischen Kulturbereicht zählt. Vorwiegend muslimisch geprägt und ethnisch außerhalb der chinesischen Mehrheit, fällt die Region häufig Verfolgungen der chinesischen Behörden zum Opfer. Nicht zuletzt deshalb leidet Xinjiang unter dem Ruf, ein gefährliches Gebiet zu sein. In Zusammenarbeit mit der französischen Zeitschrift Regard sur les Ouighour-e-s (Blick auf die UigurInnen), veröffentlicht Novastan diesen sehr persönlichen Text von Kurbanjan Semet, der den persönlichen Kampf der Uiguren für Veränderungen in seiner Heimat dokumentiert.
Xinjiang liegt im Westen Chinas, sein Gebiet macht ein Sechstel der Gesamtfläche des Landes aus. Zwanzig Millionen Menschen leben dort, darunter dreizehn ethnische Minderheiten, die alle nach ihren eigenen Traditionen, ihrer eigenen Kultur leben. In diesem Land, wo verschiedenen Einwohner nebeneinander leben und sich teilweise einander angleichen, entstand eine neue Zivilisation, deren Seele sich klar von der der anderen chinesischen Regionen unterscheidet.
Es ist eines der wenigen Gebiete in China, die es geschafft haben, das geographische Bild der Vergangenheit zu erhalten. Für die meisten Bewohner Zentralchinas bleibt Xinjiang dennoch mysteriös und unbekannt. Die Medien vermitteln zahlreiche Klischees – Wüste, Armut, aber auch saftige Früchte, Gesang und Tänze. In Wirklichkeit ist nur sehr wenig über die Menschen dieser Region bekannt – vor allem, da die Presse in den letzten Jahren vorwiegend über eine kleine Anzahl von Terroranschlägen berichtete.
Eine dunkle Wahrheit, die ein schlechtes Bild dieser Provinz zeichnete und ihren Ruf schwächte. Mittlerweile ruft die Nennung des Namens der uighurischen Region Angst in der Öffentlichkeit hervor und deren Einwohner werden gemieden.
Die Uiguren, Botschafter ihrer Kultur in China
Die uigurischen Einwohner fühlen sich als Vertreter dieser Region, wenn sie sie verlassen, denn außerhalb Xinjiangs werden sie plötzlich zur „Minderheit“. In der Region ist es jedem möglich, man selbst zu sein und sein Leben zu leben. Doch sobald die Bewohner ihre heimische Region verlassen und sich in anderen Provinzen niederlassen werden sie automatisch zu Vertretern ihrer Volksgruppe und Region und beginnen damit, einer echten Minderheit zu ähneln: ein Volk, das „eigen“ ist im Bezug auf den Phänotyp, die Sprache, die Lebensweise und die religiöse Überzeugung, zieht viele Probleme auf sich.
Der Mensch ist ein Produkt der Gesellschaft, in der er lebt: einerseits ist er nicht in der Lage, die Zwänge dieser Gesellschaft zu überwinden, andererseits ist er aktiv an ihrer Entwicklung beteiligt. Dieser Prozess führt stets zu Problemen, aber nur wenige Menschen werden davon zu Extremen getrieben – die meisten reagieren mit Solidaritätsbeweisen. Es gibt aus der uigurischen Region stammende Menschen, die trotz der symbolhaften Entfremdung aus ihrem Geburtsland weder die Flucht, noch den Extremismus wählten. Stets in einem persönlichen Kampf lieben sie weiterhin das Leben und bleiben ihrem Beruf und ihrer Position treu.
Sie können auch ein gewisses Gefühl von Erfolg erreichen, und einige werden sogar Pioniere auf ihrem Gebiet. Doch auch wenn sie lange außerhalb der uigurischen Region leben, können sich die Ureinwohner der Provinz nie vollständig von ihr loslösen. Der Geist, die Seele dieser Region hinterließ einen bleibenden Eindruck: Sie gab ihnen einen distinkten, eigenen Charakter und eine einzigartige Lebenserfahrung. Die Uiguren-Region erweiterte außerdem den Horizont ihrer Bewohner auf einzigartige Weise. Jeder Einwohner ist ein Pinselstrich im Bild des Xinjiang. Auch beim Verlassen der Region hört niemand damit auf, an sie zu denken und zu sorgen.
„Mein Name ist Kurbandschan Semet, ich komme aus Xinjiang und ich bin 32 Jahre alt“
Mein Name ist Kurbanjan Semet, ich komme aus Xinjiang und bin 32 Jahre alt. Seit acht Jahren lebe ich in Peking. Ich bin Kameramann für China Central Television (CCTV) und arbeite gleichzeitig als freiberuflicher Fotograf. Ich komme aus der Stadt Hotan in Xinjiang. Mein Vater ist schon seit 30 Jahren Jadehändler. Was er uns, seinen vier Kindern, beigebracht hat, ist die Wichtigkeit, uns zu bilden und zu reisen. Vor 1998 verstand ich kaum Chinesisch. Als ich an einer berufsbildenden Schule im chinesischen Bezirk Bortala studierte, um die Sprache zu lernen, bat ich darum, mit Han-Studenten zu wohnen – die ethnische Mehrheit in China.
Während des Studiums kaufte ich mir eine Kamera als Geburtstagsgeschenk. Das war der Moment, in dem ich begann, mich für die Fotografie zu interessieren. Am Anfang schoss ich Porträts von Studenten an meiner Schule. Während der Ferien kehrte ich entweder nach Hotan zurück oder bereiste Xinjiang und fotografierte dort verschiedene Landschaften. Später sah ich, dass meine Bilder vielen Menschen gefielen und beschloss, noch bessere Fotos zu machen, um sie meinem Umfeld zu zeigen.
Nach meinem Studium war mein Vater plötzlich gezwungen, unser Haus zu verlassen, da sein Geschäft sich in ernsten Schwierigkeiten befand. Während seiner Abwesenheit, die vier Jahre dauern sollte, kümmerte ich mich um die Familie. Ich schickte meinen kleinen Bruder und meine kleine Schwester jeden Tag in die Schule. Während dieser Zeit verkaufte ich Jade und anderes auf der Straße, ja, ich verkaufte sogar Kebabs, hörte aber nie damit auf, nach meinem Vater zu suchen. In dieser Zeit traf ich ein Han-Pärchen, Meng Xiaocheng und Li Xiaodong: Beide machten Dokumentarfilme für CCTV und würden meine zukünftige Karriere entscheidend beeinflussen.
Mein Pate, der Dokumentarfilmer
Meng Xiaocheng liebte Jade, ich gab ihm oft schöne Steine. Er wusste, dass ich die Fotografie liebte, also brachte auch er mir regelmäßig eine Schachtel Film. Wir hatten eine tiefe Zuneigung füreinander, ähnlich derer, die einen Sohn an seinen Vater bindet. Als er von der Situation meiner Familie erfuhr, half er mir sehr. Nach vier Jahren erhielten mein kleiner Bruder und meine kleine Schwester ihr Abschlusszeugnis und wurden unabhängig. Zur gleichen Zeit fand ich endlich meinen Vater, wenn auch in einem Zustand großer Bedrängnis, und brachte ihn nach Hause. So konnten wir das Vertrauen in unsere Familie und unsere Existenz wiederfinden.
Nachdem ich ihm deutlich erklärt hatte, was während seiner Abwesenheit zu Hause und auch außerhalb passiert war, eröffnete ich ihm, dass ich Fotografie studieren und Dokumentarfilme drehen wollte. Seit diesem Tag danke ich Allah, dass er die Ruhe und den Frieden meines Vaters segne. Ich empfinde so viel Bewunderung und Dankbarkeit für ihn, vor allem auch dafür, dass er mich dazu ermutigte, die Hoffnung im Leben nicht zu verlieren. Es war seine Offenheit meiner Wahl gegenüber die mir am meisten Respekt gebietet. Als er mich mit dem Pärchen Meng Xiaocheng losziehen ließ, sagte er: „Behandle Herrn Meng so, wie du deinen Vater behandelst“. So wurde Meng Xiaocheng mein Pate.
Die Liebe zu Xinjiang in Filmen und Fotos
Im Jahr 2005 folgte ich meinem Paten und seiner Frau zur Herstellung eines Dokumentarfilms – Der Gesang der Wälder. Mehr als ein Jahr lang lebte und aß ich mit den beiden, und beide beeindruckten mich zutiefst. Dank einer Empfehlung von Meng Xiaocheng konnte ich 2006 mein Studium in Beijing, an der Universität für Kommunikation beginnen. Ich war nur ein freier Zuhörer, aber ich wollte unbedingt diese großartige Chance nutzen, die mich von morgens bis abends jeden Tag beschäftigte. Während dieser Zeit machte ich die Bekanntschaft von fast allen Professoren, da ich alle ihre Kurse besuchte, und oft sogar mehrmals denselben Kurs belegte. In einer fortschrittlichen Universität verhindert die Herkunft eines Studenten nicht sein Studium – und so eine Universität war die Universität für Kommunikation Chinas, die alle meine Bemühungen und Studienleistungen anerkannte.
Während des zweiten Semesters, das im Winter stattfand, organisierte ich eine Reise und führte sechs Han-Studenten nach Qara Tagh, einem Ortsteil von Hotan. Es ist eines der am schwierigsten zugänglichen Dörfer der uigurischen Region: Um es zu erreichen, mussten wir 12 Stunden auf dem Rücken eines Esels in Kauf nehmen. Es gibt dort weder Trinkwasser noch Strom. Keiner der tausend Einwohner von Qara Tagh spricht oder versteht Chinesisch, aber meine sechs Kameraden verstanden sich trotzdem sehr gut mit ihnen.
Ich erkannte, dass Sprache manchmal kein Hindernis darstellt, und dass ein Lächeln den Abstand zwischen Menschen verringern kann. Meine Kameraden und ich drehten einen Dokumentarfilm namens Qara Tagh Xatirisi (Erinnerung an Qara Tagh) auf der Grundlage unserer Erfahrungen. Dieser Film gewann mehrere Auszeichnungen in verschiedenen nationalen Wettbewerben. Danach zeigte ich meine Fotografien vom Xinjiang an den Universitäten von Tsinghua und von Peking, sowie an der Chinesischen Volksuniversität. Durch diese Ausstellungen erfuhren viele Menschen über die Region und konnten dadurch auch die Uiguren besser verstehen. Darüber hinaus inspirierten meine Fotos viele meiner Freunde zu einer anhaltenden Liebe zur Region.
2009 – eine unerklärliche Wende für Xinjiang
Mir scheint, dass Konflikte nicht aus Fehlverhalten, sondern aus Missverständnissen entstehen. Seit unserer Reise spendeten mehr als 27 chinesische Universitäten Bücher an das Dorf Qara Tagh. Ein Internet-User schenkte Qara Tagh einen Solargenerator, nachdem er unseren Film sah; Studenten aus anderen Regionen Chinas schickten Kleidung, Taschen und ähnliches. Es ist unvorstellbar, dass nur ein Jahr später ein Ereignis wie jenes am 5. Juli 2009 in Xinjiang passieren konnte! Es scheint, dass alles über Nacht passierte. Die Menschen sprechen von Xinjiang jetzt mit Angst in ihrer Stimme. Freunde, die damals mit Ungeduld eine Reise in die Region planten, scheinen jetzt nicht mehr fahren zu wollen. Ich versuche immer noch, den Grund für diese Änderung in der Einstellung der Chinesen zu verstehen.
2009 trat ich dem Team des CCTV bei und arbeitete als Kameramann für die Sendung „Zeugnis“. Damals begann ich auch, eine Fotoausstellung Beijing zu planen. 2011 fand meine Ausstellung schließlich im Pekinger Nationalmuseum statt, unter dem Titel „Am Fuße des Kundun: Umwerfendes Hotan“. In den sieben Tagen der Ausstellung kamen mehr als 15.000 Besucher, jeden Tag kamen begeisterte Gäste. Ich erinnere mich an eine Frau, die an drei aufeinanderfolgenden Tagen kam – sie brachte mir Lagman (ein Traditionelles Nudelgericht der uigurischen Region, Anm. d. Red.) und sagte: „Junger Mann, Sie haben gute Arbeit geleistet!“ Ich war sehr berührt. Ich begann zu denken, dass dieses Mal meine Bemühungen den Menschen helfen würden, ihre Meinung über Xinjiang zu ändern – aber das, was gleich darauf in Hotan passierte, reduzierte meine Hoffnungen auf ein Nichts.
Das Individuum gegen die Vorurteile
Ich war wie erschlagen von diesem beklagenswerten Ereignis, das alle meine Bemühungen vergeblich zu machen schien. Bis 2013, vom Gesang der Wälder abgesehen, arbeitete ich an mehreren dokumentarischen Dreharbeiten, einschließlich der Olympischen Spiele in Peking, Wenchuan: Überlebende nach einem Jahr, Die Seidenstraße: Eine wiederholte Reise, die zweite Staffel der kulinarischen Dokumentation China über den Palästen, Die Welt der Mode, usw. Ich denke, meine Arbeit gut gemacht zu haben, und während dieser Zeit brachten mich wertvolle Lernmöglichkeiten zum nachdenken.
Ich filmte eine Menge schöner Landschaften, sowie die Bräuche in Xinjiang. Allerdings machte ich auch schlechte Erfahrungen während der Arbeit an diesen Panoramen und Traditionen, die den Menschen ein gutes Bild dieser Region vermitteln sollen. Letztes Jahr, bei einem Besuch in New York, sah ich eine große Anzahl von Ausstellungen und bemerkte, dass das, was uns am meisten berührt, alltägliche Menschen und einfache Gegenstände des Alltags sind. Es passiert oft, dass ein Ereignis Vorurteile gegenüber einer bestimmten Gruppe verursacht. Um diese Vorurteile richtigzustellen, kann man sich nicht nur auf typische Objekte stützen, die eine Kultur vertreten sollen – es benötigt auch etwas intimeres. Die saftigen Früchte Xinjiangs, die Gesänge und die Tänze der Einwohner bieten nur einen zerbrechlichen Eindruck und ziehen die Blicke nur für einen kurzen Moment auf sich. Wenn sich jedoch ein Mitglied einer ethnischen Gruppe, einer traditionellen Kultur, als deren Vertreter präsentiert – das kann andere bewegen.
Das Individuum ist nicht schwach: Wie ein Schmetterlingseffekt kann eine individuelle Tat einen mächtigen Strom erzeugen und es ist genau das, um was ich mich zu kümmern habe. Darüber sollte ich Dokumentationen erschaffen. Wenn das Verhalten einer kleinen Gruppe von Personen reicht, ein Bild der Gesellschaft, aus der sie stammt, zu schaffen, kann eine positive Handlung der Mehrheit dieser Gesellschaft logischerweise dieses Bild erheblich verbessern. Heute sind jene Leute, die aus dem Xinjiang stammen und im Rest Chinas arbeiten am ehesten dazu fähig, die vorherrschende Meinung über die Menschen dieser Region zu verändern. Wir müssen unseren Ruf mit Gewissenhaftigkeit ändern. Diese Gedanken haben mich sehr ermutigt und ich begann Ende letzten Jahres die Arbeit am Projekt Ich komme aus Xinjiang.
Die Gewalt verstehen und Konflikte lösen
Während der Vorbereitung auf dieses Foto-Essay und der Forschungen dazu kam es zu weiteren gewalttätigen Ereignissen oder sogar Terrorakten in China. Jedes Mal, wenn ein solches Ereignis eintritt, verurteile ich die widerlichen Taten und teile mein Beileid mit den Familien der Opfer – unabhängig von der Herkunft oder dem Glauben des Kriminellen. Das Thema der Sicherheit betrifft mich als gewöhnlicher Bürger, vor allem nach den Geschehnissen in Kunming, die mir große Angst machten. Für mich ist es wichtig zu verstehen, warum Gewalt auftrifft und wie Konflikte gelöst werden können – was auch immer das Ziel des Täters sein mag. Die Verantwortung liegt bei der Gesellschaft als Ganzes und nicht bei einer bestimmten Gruppe, die den Taten alleine gegenüberstehen muss.
Seit zwei Jahren sehe ich in vielen Kommentaren im Internet, dass die Menschen sich nicht mehr um die Schönheit der Landschaften in Xinjiang kümmern. Sie haben angefangen, sich über die Region zu informieren, über die Menschen, die dort leben, und darüber, was sie tun. Sie versuchen vielleicht zu verstehen, welche Probleme einige Einzelpersonen zur Gewalt geführt haben könnten. Für junge Uiguren ist es schwierig, Arbeit zu finden: Sie fühlen sich ihrer Möglichkeiten beraubt. Einige wurden materialistisch, andere extrem abhängig von ihren Eltern. So wurden junge Menschen passiv und viele von ihnen sind dazu verdammt, die geistige Leere, an der sie leiden, mit extremistischen religiösen Ideen zu füllen. Sie sind nicht mehr dazu bereit, sich viel Mühe zu machen oder hart zu arbeiten. Cyber-Gewalt, wenn auch nutzlos und virtuell, ermöglicht es ihnen, sich ohne Einschränkungen auszudrücken und stellt eine Art von indirekter Bestätigung ihrer selbst dar.
„Ich komme aus Xinjiang“, ein umfassendes Thema
Plötzlich wurde mir klar, dass das Thema „Ich komme aus Xinjiang“ sowohl Einzelpersonen als auch die Gesellschaft, die sie formen, begeistern könnte. Diese Reportage trägt keine religiöse oder politische Botschaft mit sich: Sie erzählt ganz einfach von den banalen, bescheidenen und bewegenden Dingen der Einwohner aus Ost-Turkestan. Ich entschied mich für eine einfache und realistische Kameraeinstellung, sodass das Publikum die kraftvolle Energie, die direkt und beständig vom Bild und der Lebensgeschichte des Helden oder der Heldin ausgeht, spüren kann. Ich setze mich hiermit bescheiden gegen die negativen Konnotation des Ausdrucks „die Menschen aus Xinjiang“ ein. Ich möchte gerne möglichst vielen ermöglichen, ein ehrliches und auch der Wirklichkeit entsprechendes Wissen über die Region aufzubauen. Am wichtigsten ist es meiner Meinung nach, dass sich die Leser von der Geschichte inspirieren und darüber nachdenken, welcher der beste Weg wäre, andere zu verstehen, mit Menschen zu kommunizieren.
Die Menschheit braucht universelle Liebe für den Fortschritt. Was ich mir wünsche ist, diese mächtige universelle Liebe in die Herzen der Leute zu bringen. Bevor ich an dem Projekt „Ich komme aus Xinjiang“ zu arbeiten begann, hatte ich schon ein Dutzend Leute fotografiert. Danach beschleunigte ich meine Suche nach Zeugen, die an meinem Projekt teilnehmen könnten. Ich suchte nach Personen, die im chinesischen Inland wohnen und aus der uigurischen Region stammen. Als ich mit ihnen redete und ihr Leben und ihre Arbeit entdeckte, schien es mir, als wäre ich ebenfalls gerade dabei, eine Bestandsaufnahme meiner eigenen Erfahrungen zu erstellen. Als ich ihnen zuhörte, wie sie ihre Vergangenheit, ihre Gegenwart und ihre Träume für die Zukunft beschrieben, begann auch ich damit, über mein Leben nachzudenken.
Über hundert Fotoserien
Ich nahm über hundert Fotoserien auf und schrieb ebenso viele Lebensgeschichten aus Xinjiang nieder. Die Teilnehmer leben und arbeiten in verschiedenen Bereichen, haben nichts gemeinsam, außer dieses Label: Es sind „Leute aus Xinjiang“. Unter ihnen: Ayim Eziz, eine Uigurin, und ihre Tochter Arzigül; ein anderes uigurisches Kind, Irfan, das in Beijing geboren wurde und 8 Jahre alt ist; der Besitzer eines der ersten Restaurants, das begann, die uigurische Küche der Region in andere chinesisches Provinzen zu exportieren und somit eine echte Sparte schuf. Qurbanjan erbte derweil das Familiengeschäft im Jadehandel; Alimjan ist ein Geschäftsmann in Peking; Nefise ist Rechtsanwältin, ursprünglich aus Shanghai, und studierte in den Vereinigten Staaten; Toxtixan verkauft Toast in der Niujie Straße; Ehmetjan Mutellip ist Angestellter in einem sehr bekannten, großen Unternehmen. Dann sind da noch Adil und Ershat, die bald mit der Universität abschließen werden und vor großen Schwierigkeiten in der Jobsuche in Xinjiang stehen, und Perhat, der seinen Doktortitel erwarb, anerkannte Künstler auf nationaler und internationaler Ebene, Designer, eine Bar-Sängerin, eine Spezialistin arabischer Tänze… Sie alle kommen aus verschiedenen ethnischen Gruppen in Xinjiang.
Es gibt auch eine junge Uigurin, die in einer Han-Familie aufwuchs; ein Han-Chinese, der von einer uigurischen Familie aufgezogen wurde; ein Uguiren-Offizier und seine Frau, ursprünglich aus Shanghai, die immer noch ihre große Liebe ausleben (40 Jahre Ehe schienen für sie nur einen Tag gedauert zu haben); und dann noch ein junges Mädchen, halb uigurisch, halb Han, die von ihrem Geliebten spricht – einem Han.
Während ich mit jedem und jeder sprach, ihnen und ihren Träumen von einem Leben in China zuhörte, begann ich plötzlich zu denken, dass das Thema „Ich komme aus Xinjiang“ einen tiefergründigen Inhalt offenbaren könnte als ich zuvor angenommen hatte, einen Inhalt, den ich jetzt als eine der besten Ausdrucksformen des Menschlichen anerkenne, ein Ausdruck, der weder durch religiöse, noch durch rassistische Vorurteile verfälscht wird.
Bewegende Geschichten
Die Kraft, die durch die Geschichten dieser Helden und Heldinnen verbreitet wird, wühlte mich auf. Als ich den Erzählungen zuhörte hatte ich den Eindruck, mich mit jeder Person zu identifizieren. Die Menschlichkeit, die aus den Herzen eines jeden und einer jeden derer, die ich fotografieren durfte, strömte, führte mich dazu, zuzugeben, dass ich selbst noch sehr weit von meinem Ziel entfernt bin. Alle erinnerten mich an meine 30 Jahre Glück und auch an harte Zeiten. Diese Erfahrung vertiefte meine Liebe zur Fotografie: ich bin jetzt noch entschlossener, mich zu verbessern, zu perfektionieren.
Das Erlebnis brachte mich auch dazu, meine Heimatstadt, mein Volk und meine Heimat zu lieben. Die eindrucksvolle Menschlichkeit der Befragten machte mich nicht zu zuversichtlich, was die Wahl des Themas der Fotoreportage betrifft, sondern stimulierte und ermutigte mich auch, diese Untersuchung weiter zu vertiefen und zu verfolgen. Ich selbst habe auch einen Traum: dass meine Fotoserie „Ich komme aus Xinjiang“ Aufmerksamkeit auf sich zieht und es den Menschen ermöglicht, ihre Beziehungen zueinander zu überdenken. Ich hoffe, dass mein Buch „Ich komme aus Xinjiang“ erfolgreich veröffentlicht wird. Ich würde außerdem gerne einen Dokumentarfilm drehen, wofür mir vor allem noch die nötige Finanzierung fehlt.
Im April 2014 wurde das Thema meiner Fotoreportage auf mehreren Webseiten verbreitet und erhielt eine sehr enthusiastische Reaktion des Publikums. Eine wachsende Zahl von Menschen ist am Projekt interessiert und unterstützt es, vor allem meine Landsleute aus Xinjiang, die jetzt im Rest Chinas leben. Einige haben mich kontaktiert, nachdem sie von dem Projekt im Internet erfuhren, damit auch ihre Lebensgeschichten in China verbreitet werden. Diese Geschichten sind so aussagekräftig, und die fotografierten Personen erwiesen mir ein solches Vertrauen, dass es mich inspirierte und ermutigte, weiterzumachen. Kürzlich trat das Projekt in seine letzte Phase ein: Ich ließ alles stehen und liegen, um mich ganz dieser Arbeit zu widmen. Drei Monate lang reiste ich in zwanzig Städte, kontaktierte und besuchte mehr als fünfhundert Personen, und sammelte schließlich mehr als hundert Interviews. Ich gab alle meine Ersparnisse dafür aus.
Xinjiang besser verstehen – durch individuelle Geschichten
Ich muss daher meine Fotoreportage bald beenden. „Ich komme aus Xinjiang“ zielt nur auf das allgemeine Interesse, ich arbeite ohne wirtschaftliches Ziel. Auch wenn das Budget sehr begrenzt ist, werde ich es nie aufgeben. Ich bin ständig bemüht, mich anzustrengen und alle meine Hoffnungen in die Durchführung dieses Projekts zu stecken.
Diese Fotoreportage beabsichtig nicht, aus den fotografierten Personen Stars zu machen. Ich hoffe jedoch, dass Sie durch diese Geschichten von einfachen Menschen aus Xinjiang das Volk dieser Region besser verstehen lernen. Ich wünsche mir, dass die Menschen ihre Beziehungen zueinander überdenken und die harmonische Entwicklung der Gesellschaft fördern. Ich möchte, dass die Kraft der Beispiele derer, die dafür kämpfen, ihre Ziele zu erreichen, alle Jungen inspiriert, insbesondere jene aus Xinjiang. Ich möchte die Jugend gerne dazu ermutigen, sich nicht zu beklagen, nicht nachzulassen, Extreme zu verweigern, ihnen Mut zusprechen, es zu wagen, ihre Grenzen zu testen. Mehr Aufwand erlaubt auch mehr Möglichkeit: Habt den Mut zur Veränderung.
Für eine angenehmere Leseerfahrung empfehlen wir Euch, die Bilder im Vollbildmodus zu betrachten, indem Sie auf den Button oben rechts klicken:
Kurbanjan Semet
Iskandar Ding et Muhammed Ali Abdurusul
Aus dem französischen Übersetzt von Vanessa Graf
Die Fotoreportage von Kurbanjan Semet, die hier teilweise präsentiert wird, wurde in China als Buch veröffentlich: Heute wird es als Stimme der Uiguren in China angesehen und mit Förderung der chinesischen Behörden stark mediatisiert.
Aber der Ruf der Reihe „Ich komme aus Xinjiang“ hat die chinesischen Grenzen bei weitem überschritten. In den USA, wo diese Fotoreportage großen Einfluss erlangte, erschien nicht nur eine Ausgabe des Buchs in übersetzter Fassung (Mai 2015), sondern Kurbanjan Semet wurde auch vom ehemaligen US-Präsidenten Jimmy Carter empfangen.