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Menschenrechte in Tadschikistan: Interview mit der UN-Berichterstatterin

Derzeit sind in Tadschikistan neun Menschenrechtsaktivist:innen wegen ihrer Tätigkeit inhaftiert. In einem Interview mit Novastan erklärt die UN-Sonderberichterstatterin zur Lage von Menschenrechtsverteidiger:innen, Mary Lawlor, welche Gründe es für diese Inhaftierungen gibt und welche Aussichten auf eine Freilassung bestehen.

Die UN-Sonderberichtserstatterin zur Lage von Menschenrechtsverteider:innen zur Lage in Tadschikistan (Illustration), Photo: Wikimedia Commons.

Derzeit sind in Tadschikistan neun Menschenrechtsaktivist:innen wegen ihrer Tätigkeit inhaftiert. In einem Interview mit Novastan erklärt die UN-Sonderberichterstatterin zur Lage von Menschenrechtsverteidiger:innen, Mary Lawlor, welche Gründe es für diese Inhaftierungen gibt und welche Aussichten auf eine Freilassung bestehen.

Anfang Juli veröffentlichten Expert:innen der Vereinten Nationen eine Erklärung, in der sie kritisierten, wie Menschenrechtsverteidiger:innen in Tadschikistan behandelt werden. Oftmals werden sie des Extremismus beschuldigt und in unfairen Gerichtsverfahren zu langen Haftstrafen verurteilt, soweit sie das Land nicht bereits fluchtartig verlassen haben.

Mary Lawlor ist Berichterstatterin der Vereinten Nationen für Menschenrechtsverteidiger:innen und Gründerin der Organisation Front Line Defenders.

Sie ist nach Tadschikistan gereist, um über die Lage von Menschenrechtsverteidiger:innen zu berichten, sich mit einigen von ihnen zu treffen und mit Regierungsmitgliedern zu sprechen. In einem Interview mit Novastan erklärt sie, wie die Lage im Land ist und ob es möglich ist, dass die inhaftierten Personen freigelassen werden.

Novastan: Für diejenigen, die sich noch nicht mit dem Thema befasst haben: Wie würden Sie die Situation von Menschenrechtsverteidiger:innen in Tadschikistan beschreiben? Wer sind sie und warum werden sie inhaftiert?

Mary Lawlor: Im November und Dezember letzten Jahres besuchte ich Tadschikistan. Dort habe ich mich mit Menschenrechtsverteidiger:innen getroffen. Mit manchen von ihnen nur im Geheimen wegen der Angst, die unter ihnen vorherrscht. Sie befürchten, dass Vergeltungsmaßnahmen gegen sie und ihre Familien ergriffen werden könnten, wenn sie mit jemandem sprechen. Ich habe auch mit vielen Regierungsangestellten gesprochen, darunter mit verschiedenen Minister:innen.

Menschenrechtsverteidiger:innen werden in völlig ungerechten, oft geheimen Verfahren angeklagt. Sie haben in vielen Fällen keinen Anwalt und das Justizsystem ist nicht unparteiisch. Kurz gesagt: Die Verfahren sind ungerecht. Es gibt noch ein weiteres großes Problem: Menschenrechtsverteidiger:innen werden zu hohen Strafen verurteilt. Die Personen, die ich betreue, wurden zu Haftstrafen zwischen 7 und 29 Jahren verurteilt.

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Sie werden wegen ihrer friedlichen und legitimen Arbeit angeklagt und kriminalisiert. Einige Menschenrechtsverteidiger:innen befürchten, dass ihre Namen öffentlich gemacht werden.

Von den neun Fällen, die ich angesprochen habe, wurden acht wegen Extremismus und Verbrechen im Zusammenhang mit Terrorismus angeklagt. Genau das passiert in Tadschikistan: Die Regierung nutzt diese Taktik, um Menschenrechtsverteidiger:innen aufgrund falscher Anschuldigungen zu langen Haftstrafen zu verurteilen. Die Regierung ist aufgrund der Grenze zu Afghanistan und des Extremismus sehr um die Sicherheit besorgt, was ich verstehe. Aber das ist keine Entschuldigung dafür, Menschen zu kriminalisieren, die die Rechte anderer friedlich und im Einklang mit den internationalen Standards verteidigen wollen. Zu deren Einhaltung hat sich auch die Regierung Tadschikistans bereit erklärt.

Was mir Sorgen bereitet, sind die verhängten Strafen, die schrecklichen Haftbedingungen vor dem Prozess und die Misshandlungen. In einigen Fällen kam es bei der Verhaftung zum Verschwinden von Personen.

Novastan: Wer ist heute in Tadschikistan bedroht? Ein Familienmitglied einer der inhaftierten Personen behauptet beispielsweise, dass alle, die ihr nahestanden oder mit ihr zusammenarbeiteten, ebenfalls angeklagt wurden oder das Land verlassen haben.

Mary Lawlor: Wir haben gehört, dass viele Menschenrechtsaktivist:innen ins Exil geflohen sind, weil sie befürchteten, angeklagt zu werden. Einige von ihnen wurden zwangsweise nach Tadschikistan zurückgeschickt. Ich habe von einem Menschenrechtsverteidiger gehört, der gewaltsam aus Russland abgeschoben wurde. Jemand anderes wurde aus Belarus ausgewiesen, obwohl es sich dabei nicht um einen Menschenrechtsverteidiger handelt und er daher nicht in meinen Mandatsbereich fällt.

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Im Fall von Ulfatkhonim Mamadshoeva handelt es sich meiner Meinung nach um einen besonders schrecklichen Fall. Sie führte als Journalistin eine legitime Arbeit aus und hatte sich für die Verteidigung von Rechten eingesetzt. Sie wurde zu einer sehr langen Haftstrafe (21 Jahre, Anm. d. Red.) verurteilt. Auch ihre Familie wurde ins Visier genommen. Natürlich sind das Dinge, die Familien auseinanderreißen.

Ich habe Daler Imomali und Abdullo Gurbati in der Haftanstalt besucht und es hat mir das Herz gebrochen. Sie sind zwei junge Blogger. Daler [Imomali] leidet an einer Erbkrankheit, an der sein Bruder gestorben ist. Seine Mutter hat große Angst davor, dass er ebenfalls sterben könnte. Abdullo [Gurbati] wurde verhaftet, als sein erstes Baby eine Woche alt war. Sie waren beide gebrochen. Ihre Gefangenschaft und die Bedingungen, unter denen sie festgehalten wurden, waren schrecklich. Die tadschikische Regierung tat immerhin etwas Gutes, indem sie Ärzte schickte, die sie umfassend medizinisch untersuchten, Ich bin dem General dankbar, der das arrangiert hat.

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Doch es ist ersichtlich, welche Auswirkungen dies auf die Familien hat. Abdullo [Gurbati] hat sein Baby nie gesehen und hat geweint, als ich ihn getroffen habe. Außerdem habe ich gehört, dass die Mutter von Daler [Imomali] sehr besorgt ist, dass er sich im Gefängnis mit Tuberkulose oder etwas Ähnlichem infizieren könnte.

Novastan: Was hat sich im Laufe des letzten Jahres verändert? Haben Sie seit Ihrem letzten Bericht Veränderungen festgestellt?

Mary Lawlor: Nein. Ein Menschenrechtsverteidiger, dessen Name nicht genannt werden darf, wurde freigelassen. Aber nur, weil er eine Amnestie erhalten sollte.

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Meine große Hoffnung ist, dass dieses neue Abkommen, das die Europäische Union (EU) mit Tadschikistan aushandelt, das APS+ (Allgemeines Präferenzsystem Plus, Anm. d. Red.), eine Veränderung bewirken wird. Der Verhandlungstext enthält meine Empfehlungen zur Freilassung von Menschenrechtsverteidiger:innen, über faire Gerichtsverfahren, warnt vor Geheimprozessen und vor Angriffen auf Menschenrechtsverteidiger:innen. Ich denke, dass die EU diese Empfehlungen in die Verhandlungen einbezogen hat. Es sollte kein Hindernis für die Ratifizierung solch minimaler Menschenrechtsstandards geben.

Ich hoffe, dass die tadschikische Regierung in diesem Sinne handeln wird. Ich hoffe, dass sie die Menschenrechtsverteidiger:innen, die ich in meinem offiziellen Schreiben an sie erwähnt habe, begnadigen oder amnestieren wird, mit der Begründung, dass sie dieses Abkommen eventuell abschließen möchten. Dies setzt voraus, dass die EU standhaft bleibt und die tadschikische Regierung einwilligt, dieses Abkommen mit der EU abzuschließen.

Novastan: Im vergangenen Dezember fanden Verhandlungen über das APS+ statt. Etwa zur gleichen Zeit fand ein tadschikisch-europäischer Menschenrechtsdialog statt. Haben diese Treffen zu Ergebnissen geführt?

Mary Lawlor: Wir alle kennen Menschenrechtsdialoge und wissen, wie ineffektiv sie sein können. Es scheint, dass sie in keiner Weise die Handlungen der tadschikischen Regierung bestimmen. Wie ich bereits sagte, hoffe ich, dass wir mit diesem APS+-Abkommen vorankommen können.

Soweit ich weiß, hat die tadschikische Regierung einige Monate Zeit bis zu den nächsten Verhandlungen mit der EU und wartet auf die Empfehlungen des Berichts, den ich im März dem Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen vorlegen werde. Ich weiß jedoch nicht, wann dieser Bericht veröffentlicht wird. Wir müssen abwarten.

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Ich denke, wenn sich die tadschikische Regierung zurückzieht, wird sie dies tun, weil sie mit China und Russland in freundschaftlicher Beziehung steht. Zudem würde sie gerne darauf hinweisen können, dass sie auch ein Abkommen mit der EU geschlossen hat. Aber wie wir wissen, liegt alle Macht beim Präsidenten (Emomali Rahmon, Anm. d. Red.) und seinem Präsidium, so dass wirklich alles von seiner Zustimmung abhängt. Soweit ich weiß, wurden die Verhandlungsdokumente intern weitergeleitet und sollten nun beim Präsidentenbüro vorliegen.

Novastan: Wie kann sich die Situation verbessern?

Mary Lawlor: Um ehrlich zu sein, ich denke, dass eine umfassende Reform notwendig ist. Die Rechtsstaatlichkeit, und damit meine ich einen fairen Rechtsstaat nach internationalen Standards, muss eingeführt werden. Das Justizsystem muss geändert werden, es müssen faire Gerichtsverfahren eingeführt werden und Menschenrechtsverteidiger:innen und andere Personen müssen Zugang zu Rechtsbeistand erhalten. Es werden mehr Anwält:innen benötigt. Viele von ihnen üben ihre Arbeit nicht aus, verlassen das Land oder dürfen nicht mehr tätig werden, weil sie kriminalisiert wurden.

Außerdem muss die Korruption bekämpft werden. Sie ist überall und allgegenwärtig. Sie wird von der Gesellschaft akzeptiert. Dabei darf nicht vergessen werden, dass jedes Mal, wenn jemand Bestechungsgeld gibt oder annimmt, dies bedeutet, dass dieses Geld von Dienstleistungen abgezweigt wird, die die Bevölkerung dringend benötigt. Korruption ist daher ein großes Problem.

Noch etwas: Ich habe viele Staatsbeamt:innen getroffen, aber keine:r von ihnen hatte Macht. Es gibt keine Demokratie. Die Regierung muss reformiert werden. Mir wurde gesagt, dass der Präsident sich von Turkmenistan inspirieren lässt. Er hofft, so lange bleiben zu können, bis sein Sohn das Amt übernimmt, wie eine Dynastie.

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Ein weiteres Problem ist der Mangel an Bildung in Menschenrechtsfragen unter jungen Menschen. Die Mehrheit der Bevölkerung ist sehr jung, es gibt jedoch an Schulen keinen Unterricht zu Menschenrechten. Das Ziel muss sein, Menschen zu bilden, damit sie ihre Rechte kennen und in der Lage sind, sie einzufordern, damit das Land eine Kultur des Respekts gegenüber Menschenrechten aufbaut.

Aber die Regierung sagt: „Nein, wir wollen das nicht tun, wir haben Angst vor Extremismus.“ Ich antworte: „Wenn die Menschen die Menschenrechte kennen, werden sie nicht extremistisch werden.“ Die Regierung kontert: „Nein, schauen Sie sich den Westen an. Viele Menschen aus dem Westen haben sich dem Islamischen Staat angeschlossen.“ Einige Menschen haben sich dem Islamischen Staat angeschlossen, das ist völlig richtig, aber insgesamt ist der Aufbau einer Kultur der Achtung der Menschenrechte notwendig, damit sich ein Land in Bezug auf seine Menschenrechtspolitik und -praxis weiterentwickeln kann.

Sie sollten anerkennen, dass Menschenrechtsverteidiger:innen Personen sind, die friedlich Menschenrechte anderer im Einklang mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verteidigen. Die tadschikische Regierung aber weiß nicht wirklich, was ein:e Menschenrechtsverteidiger:in ist. Meiner Meinung nach sollten sie dort ansetzen und sich so schrittweise die Anerkennung ihrer Glaubwürdigkeit verdienen. Ich habe die Schaffung eines Gesetzes zum Schutz von Menschenrechtsverteidiger:innen gefordert. Das liegt in ihrem langfristigen Interesse.

Nane Bouvier für Novastan

Übersetzt aus dem Französischen von Berenika Zeller

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