Der 26. April, der Tag des Reaktorunfalls im Kernkraftwerk Tschernobyl 1986, ist heute ein internationales Gedenktag für die Opfer von Strahlenkatastrophen. Etwa 6000 Tadschiken haben in den Folgejahren an der Beseitigung der Folgen mitgewirkt. Heute leben noch mehr als 1800 ehemalige Liquidatoren, 1450 mit bleibenden Behinderungen. Folgender Artikel erschien im russischen Original bei Fergana News, wir übersetzen ihn mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.
Die meisten tadschikischen Männer, die in das Katastrophengebiet geschickt wurden, dienten damals in der sowjetischen Armee. Die Beamten sagten ihnen jedoch nicht die Wahrheit, wohin und warum sie dorthin gingen. Junge, gesunde Männer wurden zur Arbeit in der verstrahlten Zone herangezogen – oft unter Verstoß gegen etablierte Normen und Sicherheitsregeln.
Erst Monate oder gar Jahre nach ihrer Rückkehr aus Tschernobyl erfuhren jene Männer, dass sie dort hohen Strahlendosen ausgesetzt gewesen waren und sich in ihnen nun schwere Krankheiten entwickelten. Mehr als 1300 Kinder mit chronischen Krankheiten oder Beeinträchtigungen wurden als Kinder von Tschernobyl-Opfern allein in Tadschikistan geboren.
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Kibriyo Ganieva, Vorsitzende der NGO„Verband der Tschernobyl-Invaliden“ in Chudschand, erinnert sich noch gut an jenen Abend des 7. April 1989. Es war bereits dunkel, als Menschen in Militäruniform zu ihrem Haus kamen. Als sie sich als Angestellte des Militärkommissariats von Leninabad (früherer Name Chudschands) vorstellten, sagten sie zu ihrem Ehemann, dem damals 35-jährigen Nozir Ganiev, er solle am folgenden Tag mit seinen Habseligkeiten in ein Ausbildungslager kommen.
Gesundheitsschäden folgten bald
„Nozir war ein guter Koch und arbeitete in dem angesehenen Restaurant Panjshanbe, das nicht nur in Chudschand, sondern in der ganzen Republik bekannt war. Aus allen Ecken Tadschikistans kamen Menschen, um speziell von meinem Mann zubereitete Gerichte zu probieren“, erinnert sich seine Frau. Er sei oft zu großen Veranstaltungen mit Hunderten von Menschen eingeladen worden und hätte Plov besonders meisterhaft gekocht. Er reiste am 8. April ab und sagte seiner Familie, dass er in die Ukraine geschickt würde, aber warum? Niemand wusste das. Dann stellte sich heraus, dass er nach Tschernobyl geschickt worden war, um die Folgen des Unfalls im Atomkraftwerk zu beseitigen. Er kehrte fast sechs Monate später zurück, am zweiten Oktober desselben Jahres, wie Ganieva sich erinnert.
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Vor Tschernobyl sei Nozir ein vollkommen gesunder Mann gewesen, sagte sie. Nach seiner Rückkehr arbeitete er noch eine Zeit lang. Aber die Strahlenbelastung machte sich bald bemerkbar. Nozir bekam starke Schmerzen, die ihn dann buchstäblich umwarfen. Bei Nozir wurde Leukämie festgestellt. Er war lange Zeit bettlägerig, sei aber mutig mit seinen Schmerzen umgegangen und habe sich nie beschwert.
„Ich war die Einzige, die wusste, welches Leid er durchmachte. Nozir starb sieben Jahre nach seiner Rückkehr aus Tschernobyl. Die Freunde meines Mannes baten mich im Gedenken an ihn, die Leitung der Chudschand-Filiale des Verbands der Tschernobyl-Invaliden zu übernehmen. Ich machte mich daran, die Tschernobyl-Opfer zu festigen, ihnen zu helfen, rechtliche und materielle Hilfe zu erhalten. Jetzt arbeiten wir zum Beispiel an einem Antrag an die Regierung, die Tschernobyl-Opfer ganz oder zumindest teilweise von den Stromkosten zu befreien“, sagt Ganieva.
Die Folgen von Tschernobyl betrafen auch die jüngste Tochter der Ganievs: Sie war das einzige von vier Kindern, das nach der Rückkehr von Nozir aus dem verstrahlten Gebiet geboren wurde. Die heute 24-jährige leidet an Blutarmut.
Viele der Kinder von Tschernobyl leiden an chronischen Krankheiten und benötigen ständige Behandlung und Unterstützung. Die Auswirkungen der Strahlenbelastung können die Gesundheit noch mehrerer Generationen nach den Liquidatoren selbst beeinträchtigen.
Ein Arbeitstag dauerte 20 Minuten
Der ebenfalls in Chudschand lebende Homidžon Obidžonov nahm nach seinem Militärdienst eine Stelle als Betonarbeiter im städtischen Wohnungsbauwerk an. Am 16. Mai 1989 kehrte er spät nach Hause zurück. Es war bereits dunkel. Mitglieder des städtischen Militärkommissariats warteten bereits an der Tür und baten ihn, morgen mit ein paar Garnituren an Wechselkleidung zu ihnen zu kommen.
Das Gespräch war kurz. Sie sagten nur, dass er als Teil des Bauteams nach Russland geschickt würde, um dort neue Wohngebäude zu bauen. Am nächsten Morgen sah Obidžonov eine Schar junger Männer im Militärausschuss. Es gab viele wie ihn. Sie kamen in Zugwaggons und dachten, sie fuhren nach Russland. Bis zur Ankunft am Zielort wurde ihnen die Wahrheit vorenthalten.
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„Die Offiziere haben uns getäuscht: Sie brachten uns nach Tschernobyl statt nach Russland. Sie haben uns in einer Militäreinheit untergebracht, die 18 Kilometer vom Unfallort entfernt war. Sie gaben uns Overalls. Als wir zur Arbeit gingen, zogen wir sie in der Umkleidekabine an und legten eine Gasmaske an.“
Er habe in Block vier des Kernkraftwerks gearbeitet und getan, was ihm aufgetragen wurde. Zum Beispiel, verschiedene Baumaterialien zu transportieren. Ein Arbeitstag habe nur 20 Minuten gedauert. Danach wurden alle mit einem speziellen Gerät untersucht, die Kleidung chemisch behandelt, dann in eine spezielle Urne geworfen und irgendwo vergraben. Jeder Arbeiter hatte seinen eigenen persönlichen Schrank, auf dem Vor-, Nach- und Vatersname standen, erinnert er sich. Obidžonov wurde am 3. September 1989 aus Tschernobyl nach Hause geschickt.
Heute ist er 66 Jahre alt. Und Invalide der dritten Gruppe. Auf dieser Grundlage erhält er eine Rente von 800 Somoni (81 Dollar). Den größten Teil des Geldes braucht er für Medikamente zur Behandlung von Krankheiten, die auf die damalige Strahlenbelastung zurückzuführen sind.
„Ich hatte bereits zwei Kinder, bevor ich nach Tschernobyl ging. Als ich zurückkehrte, bekamen wir keine weiteren Kinder, obwohl meine Frau und ich das wollten. Ich brach schnell zusammen, alle meine Zähne fielen aus. Mein Gedächtnis wurde sehr schlecht, meine Gelenke begannen zu schmerzen. Ich war jung und gesund, aber kam behindert zurück“, sagt der ehemalige Liquidator.
Sicherheitsbegrenzungen überschritten
Agzam Hodžiev wurde wie die anderen Liquidatoren nach Tschernobyl geschickt: heimlich und getäuscht. Er stammte aus dem Dorf Poshkent im Distrikt Ura-Tube (heute Istaravshan) und arbeitete nach seinem Abschluss an der Bau-Fachschule in Zafarabad als Gipsmaler in der Bauorganisationen der Region Leninabad (heute Chudschand). Am späten Abend im September des Jahres 1988 erhielt er eine Vorladung, am nächsten Tag vor dem Militärausschuss zu erscheinen – mit Kleidung, angeblich für zehn Tage Militär-Training. Stattdessen wurde auch er mit anderen Männern, die sich im Militärausschuss versammelten, zunächst nach Wolgograd, am nächsten Tag nach Kiew geschickt. Von dort kamen sie in das Dorf Zelenyi Mys, 30 Kilometer von Tschernobyl entfernt. Sie wurden in einer Militäreinheit untergebracht.
Erst da erfuhr er, dass sie die Folgen der Tschernobyl-Katastrophe beseitigen sollten. Das Leben unter dem strengen Regime begann, sagt Hodžiev heute. Jeden Morgen nach dem Frühstück seien sie zur Arbeit geschickt worden und mit dem Bus an die Unfallstelle durch drei Kontrollpunkte gebracht worden.
„Es waren viele Leute da, und alle hatten es eilig. Wie bei einer besonders wichtigen Aufgabe. Je nach Fachgebiet wurden wir in Gruppen eingeteilt, die jeweils aus zehn Personen bestanden. In einer speziellen Umkleidekabine zogen sich alle um, es gab Overalls in drei Farben: rot – für die Arbeit innerhalb des Blocks, gelb – neben dem Block, blau – weiter vom Block entfernt. Am gefährlichsten war es, im Block zu arbeiten. Unsere Aufgabe bestand darin, die im Inneren des Blocks zurückgelassenen Metallfragmente, Bauschutt usw. zu sammeln und in eine spezielle Box zu werfen. Die Kiste selbst wurde dann von anderen gereinigt.“
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Manchmal hätten sie auch an benachbarten Standorten gearbeitet und zum Beispiel Wasser aus einem überfluteten Wohnhauskeller in der Nähe des Atomkraftwerks gepumpt. Die Arbeit, die den Männern übertragen wurde, erledigten sie auch. Hodžiev betont, dass sich herausstellte, dass es zu dieser Zeit ein geheimes Dokument über die Zulassung zur Arbeit gegeben habe, welches die Offiziere ihnen jedoch nicht gezeigt hätten. Das Dokument definierte die zulässigen Zeitstandards für die Ausführung bestimmter Arbeiten. Als Hodžiev dieses Dokument schließlich erhielt, stellte sich heraus, dass er über der Norm arbeitete – statt 15 Minuten wurden 30 gearbeitet, statt 30 Minuten 45.
„Leider haben wir von diesen Verstößen zu spät erfahren, und es hatte keinen Sinn, irgendwelche Ansprüche geltend zu machen. Den Rest der Zeit ruhten wir in der Militäreinheit. Jeder von uns erhielt eine so genannte ‚Akkumulationsplakette‘, das heißt ein Strahlungsmesser. Wir brachten das Abzeichen an unserer Kleidung an und trugen es überall, egal wo wir waren: bei der Arbeit, auf der Straße oder in der Kaserne. Einmal in der Woche wurden uns diese Abzeichen abgenommen und nach Kiew gebracht. Uns wurden neue Abzeichen ausgeben. Aber niemand hat uns etwas erklärt. Und damals wussten wir nichts über die zulässige Strahlendosis und verstanden die Gefahr nicht.“
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Zusammen mit Hodžiev war auch Solidžon Hakimov mobilisiert und entsandt worden. Hakimov verbachte genau drei Monate in der Unfallzone, während Hodžiev bereits nach 80 Tagen zurückkehrte. Mit der Zeit verlor Hakimov sein Augenlicht vollständig, Hodžiev litt nach seiner Rückkehr an Schwäche, Schwindel, Osteochondrose sowie Krankheiten der inneren Organe.
„Urazkul, ein weiterer Tschernobyl-Überlebender, den ich kannte, starb kurz nach seiner Rückkehr. Viele unserer Kollegen hatten nicht das Glück, bis heute zu überleben, obwohl sie noch recht jung waren“, schloss Agzam Hodžiev.
Zuwenig Hilfe für Leidtragende
Im Jahr 2007 verabschiedete Tadschikistan ein Gesetz über den sozialen Schutz der von der Tschernobyl-Katastrophe betroffenen Bürger. Das Gesetz sieht vor, dass die an der Liquidation der Tschernobyl-Katastrophe Beteiligten und ihre Kinder Anspruch auf Sozialleistungen haben. So erhalten die Tschernobyl-Opfer beispielsweise mehrere Steuervergünstigungen. Medizinische Versorgung und Medikamente sollen ihnen kostenlos zur Verfügung gestellt werden. In der Praxis müssen sie jedoch viele teure Medikamente auf eigene Kosten kaufen, erzählen die Ex-Liquidatoren.
„Jedes Jahr wird uns empfohlen, uns einer 24-tägigen Behandlung in Kur- und Sanatoriumseinrichtungen der Republik zu unterziehen. Der Staat stellt jedem Tschernobyl-Überlebenden 2930 Somoni (290 Dollar) zur Verfügung. Diese Summe deckt jedoch nicht die Kosten einer Behandlung in den Urlaubsorten des Landes, wo ein 24-tägiger Aufenthalt 4500 bis 5000 Somoni ($450-500) kostet. Deshalb muss man entweder die Aufenthaltsdauer im Sanatorium verkürzen oder aus eigener Tasche zuzahlen. Es wäre gut, wenn die Verwaltungen der Sanatorien in Tadschikistan ihre Preisliste für Tschernobyl-Opfer um 50 Prozent senken würden. In den letzten Jahren hat sich die Zahl der Leistungen für uns verringert. Zum Beispiel haben wir bis 2007 nicht für Strom, Wasser und Müllentsorgung bezahlt, aber dieses Privileg wurde uns gestrichen, und jetzt zahlen wir den Strom vollständig und die Hälfte für Wasser und Müllentsorgung“, klagt der ehemalige Liquidator Abduvahob Hodžiboev.
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Die meisten Tschernobylopfer in Tadschikistan arbeiten nicht. Denn viele sind seit ihrer Rückkehr aus gesundheitlichen Gründen arbeitsunfähig. Sie leben von 800 Simoni (80 Dollar) Rente. Sie führen ein schwieriges und bescheidenes Leben, ihnen fehlt Geld für gutes Essen und passende Behandlungen. Doch auf die Frage, was sie sich im Leben noch wünschen, kam von zweien doch eine unerwartete Antwort:
„Ich möchte Tschernobyl noch einmal besuchen, um mit eigenen Augen zu sehen, wie alle jetzt dort leben. Tschernobyl hat schließlich unser ganzes Leben verändert. Ach, wenn die Regierung der Ukraine uns ein solches Geschenk machen könnte – und die Liquidatoren des Unfalls aus Tadschikistan auf eine Tour durch die Sperrzone einladen würde …“
Tilav Rasul-Zade für Fergana News
Aus dem Russischen von Hannah Riedler
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