Tadschikistan rühmt sich, eines der wenigen Länder weltweit zu sein, in dem es keine Covid-19-Fälle gibt. Aber sowohl ExpertInnen als auch die Bevölkerung hegen Zweifel an der Aufrichtigkeit der Behörden. Könnte es sein, dass die Regierung die Wahrheit verbirgt, aus Furcht vor Panik und einem wirtschaftlichen Zusammenbruch? Eine Analyse.
Neben Turkmenistan ist Tadschikistan das einzige Land in Zentralasien, das keine Coronavirus-Fälle gemeldet hat. Im April haben aber zahlreiche Todesfälle durch Lungenentzündung, Tuberkulose oder Herzinsuffizienz, die meist mit einer Quarantäne oder der Rückkehr aus dem Ausland zusammenhängen, Verdacht an der offiziellen Bilanz geweckt. Lokalen Berichten zufolge werden täglich ein paar verdächtige Todesfälle registriert.
Besonders angespannt ist die Situation in der nordwestlichen Region Sughd, vor allem in Chudschand. Die zweitgrößten Stadt Tadschikistans in der Nähe der Grenzen mit Kirgistan und Usbekistan hat fast eine Million Einwohner. In Chudschand feierte Präsident Emomali Rahmon Mitte März ein spektakuläres persisches Neujahrsfest – Nowruz, in einer von 12 000 TänzerInnen, SängerInnen und ZuschauerInnen umgebenen Feier. Die Regierung folgte damals nicht den Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Massenveranstaltungen abzusagen.
Verdächtige Todesfälle durch eine „saisonalen“ Lungenentzündung
Der erste verdächtige Todesfall, der gemeldet wurde, war Habibullo Schodijew, ein 60-jähriger Mann, der während Nowruz mit schwerer Lungenentzündung in das Zentralkrankenhaus von Sughd eingeliefert wurde. Wie Radio Ozodi, der tadschikische Zweig der amerikanischen Medium Radio Free Europe, mitteilte, starb er am 31. März auf der Intensivstation. Seine Verwandten erklärten Radio Ozodi, er sei von einer Hochzeit in Kirgistan zurückgekehrt, worauf er hohes Fieber und Symptome einer Lungenentzündung bekam. Wie das tadschikische Medium Asia-Plus berichtete, bestritten Beamte diese Information später und gaben an, er habe draußen Fußball gespielt und sei danach krank geworden. Laut Angaben von Beamten seien Proben des Verstorbenen in Duschanbe auf das Coronavirus getestet worden, aber negativ ausgefallen.
Novastan ist das einzige deutschsprachige Nachrichtenmagazin über Zentralasien. Wir arbeiten auf Vereinsgrundlage und Dank eurer Teilnahme. Wir sind unabhängig und wollen es bleiben, dafür brauchen wir euch! Durch jede noch so kleine Spende helft ihr uns, weiter ein realitätsnahes Bild von Zentralasien zu vermitteln.
Der Fall wäre unbemerkt geblieben, hätten nicht einige Medien berichtet, dass das gesamte Krankenhaus plötzlich unter Quarantäne gestellt wurde. Darüber hinaus verstarb am 11. April unerwartet ein weiterer Mann, der mit Schodijews Bruder in Kontakt gestanden hatte, angeblich an Herzversagen. Mitte April starb dann auch der bekannte Besitzer eines nationalen Lammfleischrestaurants an der Autobahn, die die Hauptstadt Duschanbe mit Chudschand verbindet, an Herzversagen. Der Tod wurde einer Lungenentzündung zugeschrieben, und Verwandte erklärten auf Facebook, dass seine Beerdigungszeremonie ohne den Leichnam stattfand.
Die Zahl der Opfer von „Lungenentzündung“ und anderen Atemwegserkrankungen stieg im Laufe des Monats stark an, wobei jeden Tag ein paar neue Todesfälle gemeldet wurden. Der stellvertretende tadschikische Gesundheitsminister Schodihon Dschamsched führte diesen plötzlichen Anstieg laut einem Bericht von Asia-Plus auf „widrige Wetterbedingungen“ zurück. Er fügte hinzu, dass die Zahl der Atemwegserkrankungen, einschließlich Lungenentzündungen, in den letzten Tagen stark zugenommen habe. Manche dieser Fälle werden nicht einmal auf das Coronavirus getestet. Dschamscher, ein tadschikischer Bürger aus Duschanbe, der von Novastan kontaktiert wurde, erfuhr, dass sein 81-jähriger Großvater am 17. April an einer Lungenentzündung gestorben sei. Niemand habe aber einen Test für ihn durchgeführt. „Uns wurde gesagt, dass er alt sei und dass es in seinem Alter normal sei, an einer Krankheit zu sterben“, fügte er traurig hinzu.
Kürzlich erreichte das suspekte Krankheitsbild auch die politische Klasse. Wie Asia-Plus am 24. April berichtete, wurden die stellvertretende Vorsitzende der regierenden Demokratischen Volkspartei Tadschikistans (PDPT), Chairinisso Jusufi, zusammen mit ihrer Tochter in das Krankenhaus für Infektionskrankheiten in Duschanbe eingeliefert.
Eine „alternative“ Todesrate
Auch das Gesundheitspersonal, das an vorderster Front im Kampf gegen das Virus steht, bleibt nicht von verdächtigen Lungenentzündungen verschont. Mitte April starb plötzlich eine 58-jährige Krankenschwester des Krankenhauses von Bochtar, die mit den aus dem Ausland zurückgekehrten Menschen in Quarantäne arbeitete. Berichten zufolge an Tuberkulose und Herzproblemen. Verwandte erwähnten, sie haben nicht gewusst, dass sie an Tuberkulose litt. Die Beerdigungszeremonie der Krankenschwester fand ohne Leichnam statt, berichtete Asia-Plus am 16. April.
Der Fall, der am meisten heraussticht, geschah in Duschanbe. Am 19. April starb plötzlich ein 38-jähriger Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft. Der Mann, der an Fettleibigkeit litt, starb im Istiqlol-Krankenhaus mit einer schweren Lungenentzündung, berichtete Radio Ozodi. Er war am 6. April zusammen mit einer Gruppe aus dem Ausland zurückgekehrt, blieb aber nicht 14 Tage in Quarantäne und durfte früher abreisen, so das russische Medium Sputnik. Ehe er am 16. April ins Krankenhaus eingeliefert wurde, war er auf der Arbeit und stand mit vielen Menschen in engem Kontakt. Im Krankenhaus wurde er wie ein gewöhnlicher Patient behandelt, ohne besondere Schutzmaßnahmen. Sein Leichnam wurde in einem verschlossenen Plastiksack direkt zur Beerdigung gebracht. In der Regel werden Verstorbene vor der Beerdigung gewaschen.
Wenn TadschikInnen von einer solchen täglichen „alternativen“ Zahl an Todesopfern hören, sind sie besorgt. Denn Schulen, Märkte, Regierungsstellen und Unternehmen sind weiter geöffnet. „Was hier passiert ist Chaos. Jeden Tag können wir von neuen Todesfällen hören“, beklagt sich Tahmina*, eine Kunsthandwerkerin aus Chudschand, im Gespräch mit Novastan. Sie erhält regelmäßig besorgniserregende Nachrichten von Freunden, die im Krankenhaus arbeiten. Zwischen dem 13. und 19. April starben vier bis fünf Menschen im Krankenhaus, die meisten davon Frauen zwischen 42 und 50 Jahren. Die offizielle Todesursache waren Herzprobleme. „Das Merkwürdige ist, dass die Leichen dieser Menschen nicht immer zurückgegeben werden. Wenn sie zurückgegeben werden, dann in geschlossenen Plastiksäcken, die nicht geöffnet werden sollen. Die Leute können sich also nicht an die religiösen Regeln halten und den Leichnam vor der Beerdigung waschen“, sagt ein Bürger von Chudschand, der um Anonymität bat. Noch beunruhigender ist, dass laut dem Gesundheitsministerium diejenigen, die mit verdächtigen Verstorbenen in Kontakt gekommen sind, unter Quarantäne gestellt werden.
Der Präsident rät, Essensvorräte für zwei Jahre vorzubereiten
Einige ExpertInnen sind der Ansicht, dass diese Zunahme verdächtiger Todesfälle durch Atemwegsprobleme kein Zufall ist. Es ist erwiesen, dass die Coronavirus-Tests, die meist aus Russland geschickt werden, nicht wirksam sind. Im Nachbarland Kirgistan räumten die Gesundheitsbehörden ein, dass sie eine Fehlermarge von bis zu 30 Prozent haben. Wie die Forscherin Andrea Schmitz von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) Ende März in ihrer Analyse schrieb, könnten die Gründe für die Geheimnistuerei demografischer Natur sein. Die tadschikische Bevölkerung ist jung und daher weniger gefährdet, nur neun Prozent der Bevölkerung sind über 55 Jahre alt. „Das Gesundheitswesen befindet sich in einem katastrophalen Zustand, und die Bedingungen in den Quarantäneeinrichtungen werden die Ausbreitung des Virus eher beschleunigen als verlangsamen“, so Schmitz.
Es wurde erwartet, dass zur Glaubwürdigkeit einige Fälle anerkannt würden, nachdem der Präsidenten-Sohn Rustam Emomali am 17. April zum Präsidenten des Madschlisi Millii (Oberhaus des tadschikischen Parlaments) gewählt wurde. Diese Stelle ist die zweithöchste in der politischen Hierarchie Tadschikistans. Aber der Präsident Emomali Rahmon kündigte in seiner Rede während der ersten Sitzung des Madschlisi Millii keine Fälle an.
Durch Rahmons Rede konnte man verstehen, warum der Staat offizielle Meldungen von Coronavirus-Fällen so weit wie möglich hinauszögert. Der Präsident betonte, die Auswirkungen von Panikkäufen und einer Einstellung wirtschaftlicher Aktivitäten für das Land gefährlicher sein könnten, als das Coronavirus selbst. Da sich viele Wirtschaftszweige in Tadschikistan in den Händen von Verwandten oder Vertrauten des Präsidenten befinden, würde die Familie durch eine Wirtschaftskrise viele Ressourcen verlieren.
Wie Asia Plus erwähnte, forderte Rahmon zwei Tage vor seiner Rede tadschikische Familien und Bauernhöfe auf, Lebensmittelvorräte für zwei Jahre vorzubereiten. Er empfahl auch, alle Desinfektionsregeln zu befolgen und riet Menschen 65 über Jahren zu Hause zu bleiben und nicht ohne Grund hinauszugehen. „Die Regierung Tadschikistans ergreift alle möglichen Maßnahmen, um die Ausbreitung des Virus zu verhindern“, räumte der Präsident ein, nannte aber keine genauen Maßnahmen, so Asia Plus.
WHO mit zunehmender Skepsis
Ohne klare Anweisungen ihrer Regierung wägen sich viele tadschikischen BürgerInnen in Sicherheit und befolgen nur lasch die üblichen Vorsichtsmaßnahmen wie Händewaschen. Die Situation entspannte sich umso mehr, als Medien am 1. April die ermutigenden Schlussfolgerungen von Galina Perfiljewa, WHO-Vertreterin in Tadschikistan, veröffentlichten. Die internationale Organisation, der die Bürger vertrauen, bestätigte Tadschikistans Bilanz und bestätigte ihre Zusammenarbeit mit den Labors, die die Tests durchführen. In sozialen Medien ist Perfiljewas Erklärung zu einem weit verbreiteten Argument geworden, um jeglicher Skepsis bezüglich der offiziellen Angaben entgegenzuwirken.
Diese Situation änderte sich aber am 22. April, als Perfiljewa der russischen Zeitung „Kommersant“ sagte, dass „wir nicht kategorisch sagen können, dass es im Land keine Fälle der Krankheit gibt“. Die WHO plant auch tadschikische Tests auf mögliche falsche Negative Ergebnisse nachzuprüfen. Die Organisation plant auch am 27. April ein Team nach Tadschikistan und Turkmenistan zu schicken, um die Situation vor Ort zu überprüfen, berichtet die russische Nachrichtenagentur TASS.
Schüler in „außerordentlichen Ferien“
Bestimmte Maßnahmen wurden bereits gegen das ungesehene Virus getroffen, wie die Schließung der Moscheen ab Mitte April und die bereits am 20. März erfolgte Schließung des Flughafens. Am 25. April gab die tadschikische staatliche Presseagentur Khovar bekannt, dass Grund- und Sekundarschüler vom 27. April bis zum 10. Mai „außerordentliche Ferien“ haben werden. Darüber hinaus sind „in Übereinstimmung mit der Entscheidung des Republikanischen Komitees die Organisation und Durchführung aller öffentlichen Veranstaltungen wie Kundgebungen, Sportveranstaltungen, Filmvorführungen und Theaterproduktionen im ganzen Land verboten“, so die Stadtverwaltung von Duschanbe am 25. April.
Zuvor begannen einige größere Geschäfte damit, die Hände ihrer Kunden zu desinfizieren, bevor sie das Geschäft betraten. Bereits das für den 19. April geplante Stadtfest in Duschanbe wurde abgesagt, was aber zu dem Zeitpunkt viele junge Leute nicht daran hinderte sich zu Tänzen und Liedern zu versammeln. An diesem Tag waren laute Musikgeräusche aus den Parks zu hören. Es bleibt offen, ob die neuen Maßnahmen nicht zu spät kommen.
„Vor drei Wochen hatte ich Fieber und ich fühlte mich müde. Ich begann, mir Sorgen wegen eines möglichen Coronavirus zu machen, und rief die Hotline (511) an“, erinnert sich Asimalow*, ein junger Mann aus Duschanbe. „Sie baten mich, in das Krankenhaus zu kommen, wo sie meinen Mund und meine Temperatur untersuchten. Der Arzt mit medizinischer Maske und Schutzkleidung sagte, ich habe sehr leichte Symptome und müsse mir überhaupt keine Sorgen machen. Sie verschrieben mir für ein paar Tage Antibiotika und ließen mich nach Hause gehen„, fügte er hinzu.
In diesem Fall führte das Gesundheitspersonal weder einen Test durch, noch empfahl es, zu Hause in Quarantäne zu bleiben. Asimalows Mutter erkrankte bald darauf ebenfalls mit den gleichen Symptomen – erhöhte Temperatur und Müdigkeit. „Um dem Virus vorzubeugen, verbrannte ich an diesem Tag trockene Steppenraute, ein Kraut, das wir in Krankheitsfällen häufig als Luftdesinfektionsmittel verwenden. Dadurch war meine Mutter so sehr in den Rauch gehüllt, dass ich nicht einmal ihr Gesicht sah“, erinnert sich Asimalov lachend. Seine Mutter glaubte, dass es half, und ging noch am selben Tag in den Laden, obwohl ihr Sohn davon abriet.
Lust auf Zentralasien in eurer Mailbox? Abonniert unseren kostenlosen wöchentlichen Newsletter mit einem Klick.
Die Einstellung zu Krankheit und Gesundheit ist „stark von der traditionellen Medizin und religiösen Vorstellungen beeinflusst“, so Andrea Schmitz in ihrem Artikel. Ohne Anweisungen von Seiten der Regierung verlassen sich die tadschikischen BürgerInnen immer mehr auf die Religion und den lokalen Glauben, wie z.B. den Gebrauch von Steppenraute. „Angesichts der mangelnden Fähigkeit, sinnvolle Maßnahmen zu ergreifen, ist es naheliegend, die Gesellschaft durch die Mobilisierung kultureller Ressourcen immun zu machen“, beschreibt Schmitz weiter. Sie glaubt, dass demnächst einige Fälle gemeldet werden, „aus Gründen der Glaubwürdigkeit“, aber nur in kleiner Zahl: „Wer wird sie ohnehin überprüfen?“.
Allgemein gesehen, „werden wir mindestens ein Jahr warten müssen“, um die genaue Bilanz zu schätzen, meint die von Novastan kontaktierte Forscherin Sophie Hohmann. „Vielleicht werden wir die Zahl der Todesfälle durch das Coronavirus von der Zahl der Lungenentzündungen ableiten können. Aber in jedem Fall werden wir es niemals beweisen können“, warnt sie.
*Die Namen wurden geändert, um die Anonymität unserer Quellen zu schützen.
Laura Liepa
Journalistin für Novastan in Duschanbe
Aus dem Englischen von Florian Coppenrath
Noch mehr Zentralasien findet ihr auf unseren Social Media Kanälen, schaut mal vorbei bei Twitter, Facebook, Telegram, Linkedin oder Instagram. Für Zentralasien direkt in eurer Mailbox könnt ihr euch auch zu unserem wöchentlichen Newsletter anmelden.