Startseite      Hauptsache, es ist ein Sohn: Über Familien in Tadschikistan, die ausschließlich Töchter haben

Hauptsache, es ist ein Sohn: Über Familien in Tadschikistan, die ausschließlich Töchter haben

In Tadschikistan, wie auch in ganz Zentralasien, ist die Geburt von Söhnen ein Grund zum Stolz, ein Zeichen für Reichtum und eine sorgenfreie Altersvorsorge der Eltern. Bei der Geburt eines Jungen wird in der Familie ein großes Fest gefeiert. Wenn jedoch Töchter geboren werden, kann dies für die Mutter zu Vorwürfen und Anschuldigungen führen, sie sei minderwertig und unzulänglich. Wie es ist, als Mädchen in eine tadschikische Familie geboren zu werden.

Frauen mit tadschikischem Kopftuch (Symbolbild), Foto: Wikimedia Commons

In Tadschikistan, wie auch in ganz Zentralasien, ist die Geburt von Söhnen ein Grund zum Stolz, ein Zeichen für Reichtum und eine sorgenfreie Altersvorsorge der Eltern. Bei der Geburt eines Jungen wird in der Familie ein großes Fest gefeiert. Wenn jedoch Töchter geboren werden, kann dies für die Mutter zu Vorwürfen und Anschuldigungen führen, sie sei minderwertig und unzulänglich. Wie es ist, als Mädchen in eine tadschikische Familie geboren zu werden.

Nosanin aus Chudschand erinnert sich an ihre Kindheit nur als einen Albtraum voller Demütigungen, Tränen, Angst und Liebesentzug. Und das alles nur, weil sie als Mädchen geboren wurde. Sie wuchs als Älteste in einer Familie mit insgesamt vier Töchtern auf. Ihr Vater träumte immer von einem Sohn als Erben, und als wieder eine Tochter geboren wurde, wurde Nosanins Mutter beschuldigt, unzulänglich zu sein.

„Die Beziehung zwischen meinem Vater und meiner Mutter begann sich zu verschlechtern, als meine zweite Schwester geboren wurde“, erzählt Nosanin. „Mein Vater wünschte sich sehnlichst einen Sohn und hatte schon im Voraus einen Namen für einen Jungen ausgesucht. Aber dann wurde das dritte Kind geboren, und wieder war es ein Mädchen. Ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie er meine Mutter nur deshalb erniedrigte, weil sie nur Töchter zur Welt brachte.“

Nosanin hat in ihrer Kindheit keine väterliche Liebe erfahren. „Wäre sie als Junge geboren worden, hätte sie wie ein Prinz gelebt“, rechtfertigte ihr Vater oft seine Haltung gegenüber seinen Kindern. Von Verwöhnung konnte keine Rede sein.

Nosanin war bereits erwachsen, als ihre Eltern begannen, ein viertes Kind zu planen. Astrologen, Heiler, Mullahs – sie wandten sich an alle möglichen Leute. Ein gesundes Kind kam zur Welt, aber wieder war es ein Mädchen.

„Als meine vierte Schwester geboren wurde, war das einfach schrecklich. Wir hatten Angst, unserem Vater zu begegnen und ein falsches Wort zu sagen“, erzählt Nosanin mit zitternder Stimme, wenn sie sich an diese unangenehmen Erinnerungen zurückerinnert. „Papa wollte nichts von seiner jüngsten Tochter wissen. In den ersten sechs Monaten hat er sie nicht einmal angesehen. In diesen sechs Monaten wuchs sie ohne Namen auf, da ihre Eltern bereits einen Namen für einen Sohn ausgewählt hatten.“

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Die Skandale in der Familie nahmen zu. Nach der Arbeit kam der Vater wütend nach Hause und stritt sich mit der Mutter. Nosanin und ihre Schwestern lebten ständig in Angst.

„Viele Leute in der Stadt kannten meinen Vater. Deshalb war er sehr abhängig von der Gesellschaft und der Meinung seiner Freunde“, sagt Nozanin. „Wenn sie sich trafen, prahlten seine Freunde mit ihren Söhnen und fragten jedes Mal, wann er endlich einen Erben bekommen würde.“

Beeinflusst von der Meinung anderer ließ mein Vater seine ganze Wut und Hilflosigkeit an meiner Mutter und mir aus. „Das sind deine Töchter, nicht meine“, wiederholte er seiner Frau gegenüber.

Diese Worte schmerzen Nosanin noch heute im Herzen. Und dann ist da noch dieses schreckliche Gefühl der Leere, wenn man nicht geliebt wird, nur weil man als Mädchen geboren wurde.

„Zuhause arbeiteten wir wie Sklaven“

Schon als Kind fragte Nosanin ihre Mutter oft, warum sie alles ertrage und weiterhin mit einem Mann zusammenlebe, der seine Töchter nicht anerkenne und sie als fremd bezeichne. Aber ihrer Mutter fehlte die Willenskraft, und ihre Zuversicht und Entschlossenheit waren durch Demütigungen und Beleidigungen endgültig zermürbt worden.

Möglicherweise wollte sie nicht mit dem Stigma einer alleinerziehenden Mutter leben und fürchtete die Verurteilung durch die Gesellschaft. Damit der Vater nicht schimpfte, bat die Mutter ihre Töchter immer, ihm zu helfen und so die Söhne zu ersetzen. Aber egal, wie sehr sich die Mädchen auch bemühten, alles war vergeblich.

„Zu Hause arbeiteten wir wie Sklaven, um wenigstens ein gutes Wort von unserem Vater zu verdienen“, erzählt Nosanin. „Und wenn ich das Haus verließ, setzte ich eine Maske auf, die mich als glückliches und sorgloses Mädchen zeigte, das in elterlicher Liebe badete. Niemand wusste, was in meiner Seele vorging, wenn ich lächelte. Äußerlich gepflegt, mit perfekter Maniküre, hätte niemand gedacht, dass meine Hände die schmutzigste Männerarbeit verrichten.“

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Nachdem sie die Schule mit Auszeichnung abgeschlossen hatte, träumte Nosanin davon, an die Universität zu gehen. Aber ihr Vater war dagegen – es gebe genug Arbeit im Haushalt, und die zusätzlichen Kosten seien unnötig.

„Verlass dich nicht auf mich“, entgegnete der Vater auf die erneute Bitte seiner Tochter.

Doch die Ablehnung ihres Vaters hielt das Mädchen nicht auf. Nosanin schrieb sich dennoch an der Universität ein, arbeitete nebenbei und finanzierte ihr Studium selbst. Ihr Vater wusste, dass seine Tochter sich selbst eingeschrieben hatte, interessierte sich aber nicht dafür, wo und für welchen Studiengang.

„So habe ich gelernt, mich nur auf mich selbst zu verlassen. Als ich an der Universität gefragt wurde, wer mein Vater ist und was er beruflich macht, sagte ich allen, dass er Testpilot ist und vermisst wird. Von allen vier Schwestern haben nur ich und meine jüngste Schwester versucht, einen Hochschulabschluss zu machen“, erzählt sie.

Kindheitstrauma für ein ganzes Leben

Als Erwachsene und verheiratete Frau hatte Nosanin Angst, das Schicksal ihrer Mutter zu wiederholen. Die Angst vor der Geburt einer Tochter war so stark in ihrem Bewusstsein verankert, dass sie ihre gesamte Schwangerschaft nicht in freudiger Erwartung ihres ersten Kindes verbrachte, sondern mit Bildern aus ihrer Kindheit und ihrem streitsüchtigen Vater, die immer wieder in ihrem Gedächtnis auftauchten.

Sie hatte das Gefühl, dass alle um sie herum erwarteten, dass sie einen Sohn zur Welt bringen würde. Aber sie gebar eine Tochter.

„Die zweite Schwangerschaft war von starker Übelkeit begleitet, und aus heiterem Himmel stieg plötzlich meine Temperatur. Meine Ängste wurden immer stärker, es war unerträglich. Ich hielt es nicht mehr aus und ließ eine Ultraschalluntersuchung machen – man sagte mir, es würde ein Junge werden. Sie werden es nicht glauben, aber danach verschwanden die Übelkeit, das Unwohlsein und die Temperatur wie von Zauberhand. Ich habe verstanden, dass unsere Ängste sich direkt auf den Körper auswirken und einen Selbstzerstörungsprozess in Gang setzen“, erzählt Nosanin.

Die Kindheitstrauma und Erinnerungen lassen die junge Frau nie los. Und obwohl sie bereits eine eigene Familie und Kinder hat, ist das Gefühl der Liebesentbehrung immer präsent.

„Eigentlich träume ich gar nicht von materiellem Reichtum. Das Wertvollste für mich ist das Gefühl, dass man dich nicht wegen etwas liebt, sondern trotz etwas. Einfach dafür, dass du auf dieser Welt bist“, sagt sie. Heute ist Nosanin eine erfolgreiche junge Frau, aber das sei allein ihr Verdienst. Seit ihrer Kindheit ist sie es gewohnt, sich nur auf sich selbst zu verlassen, und hat ohne die Unterstützung ihrer Eltern viel erreicht.

Zweifellos ist das ein Grund zum Stolz, aber es schmerzt die junge Frau bis heute, zu wissen, dass die Demütigungen, die sie in ihrer Kindheit erdulden musste, nur darauf zurückzuführen sind, dass sie nicht als Junge geboren wurde.

Nosanin erzählt: „Jetzt unterstütze ich meine Eltern sowohl physisch als auch finanziell. Man kann sich seine Eltern nicht aussuchen, und ich bin ihnen dankbar, dass sie mir das Leben geschenkt haben. Oft höre ich jetzt von meinem Vater, dass ich besser bin als zehn Söhne. Diese Worte machen es mir jedoch nicht leichter, sondern im Gegenteil, sie tun mir noch mehr weh. Seit meiner Kindheit sehnte ich mich nach der Liebe meines Vaters, träumte davon, dass er mich umarmt und mir sagt, wie sehr er mich liebt und auf mich stolz ist. Aber in meinen Erinnerungen gibt es keine solchen schönen Momente.“

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Nosanin ist der Meinung, dass diese tief verwurzelten Stereotypen der Gesellschaft die Rechte von Mädchen von Kindheit an beeinträchtigen. Infolgedessen wachsen sie mit einem geringen Selbstwertgefühl und einer traumatisierten Psyche auf.

„Es steht uns nicht zu, zu entscheiden, wer auf die Welt kommt. Jedes Kind ist ein Geschenk Gottes, das leider nicht allen zuteilwird. Viel wichtiger ist, zu welchem Menschen das Kind heranwächst und ob es seinen Eltern im Alter eine Stütze sein wird. Die unsinnigen ungeschriebenen Gesetze unserer Gesellschaft, dass in einer Familie unbedingt ein Junge geboren werden muss, zerstören Familien und machen Kinder unglücklich. So kommt es, dass manche Frauen so lange gebären, bis sie einen Jungen bekommen, um ihrem Mann zu gefallen, der einen Erben braucht. Dabei spielt es keine Rolle, was die Frau dabei empfindet“, so Nosanin.

Sie selbst erklärt ihren Kindern, dass die Meinung der Gesellschaft niemals an erster Stelle stehen sollte. Sie versucht, ihnen das zu geben, was ihr in ihrer Kindheit so sehr gefehlt hat. Denn alles, was einem Kind in Erinnerung bleibt, ist die Liebe und Fürsorge seiner Eltern.

Das Einzige, wofür Nosanin ihren Eltern dankbar ist, ist ihre Selbstständigkeit, Entschlossenheit und ihr Mut. Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hat, dann setzt sie es auch um, egal was es sie kostet. Ihren männlichen Charakter verbirgt sie hinter einem femininen, gepflegten Äußeren.

Nosanin gibt zu, dass viele sie für eine verwöhnte „Weißhand“ [leicht spöttischer Begriff für eine nicht körperlich arbeitende Person, Anm. d. Übers.] halten, aber nur wenige wissen, was sie diese Verschleierung kostet.

Die Vorzüge von Töchtern im Islam

In den Nachrichten aus Zentralasien liest man immer wieder von Aufsehen erregenden Selbstmordfällen von Frauen – sie haben sich vor einen Zug geworfen, sind von einer Brücke in einen Fluss gesprungen oder haben sich erhängt.

Im März dieses Jahres erschütterte der Selbstmord einer jungen Frau in der Region Navoiy in Usbekistan die Öffentlichkeit. Sie versuchte, sich zusammen mit ihren drei Kindern vor einen Zug zu werfen. Es stellte sich heraus, dass der Grund für den Selbstmord ein Konflikt mit ihrem Ehemann war, der ihr vorwarf, dass sie ihm keinen Sohn gebären könne.

In vielen Gesellschaften Zentralasiens gilt es bis heute als selbstverständlich, dass ein Sohn besser ist als eine Tochter. Diese Stereotypen reichen weit in die Vergangenheit zurück, als Väter gemäß einem grausamen Brauch ihre neugeborenen Töchter beseitigten, indem sie sie lebendig begruben.

Glücklicherweise sind diese vorislamischen Zeiten (Dschahiliya) längst vorbei. Der Islam, der die Unwissenheit abgelöst hat, verkündete, dass eine Tochter ebenso wie ein Sohn ein Segen Gottes ist. Davon zeugen zahlreiche Hadithe, die von den unzähligen Segnungen für diejenigen berichten, die Töchter großziehen.

Abdulvohid Chimidow, Experte für Fatwa-Verwaltung beim Rat der Ulemas von Tadschikistan, führte mehrere Hadithe als Beispiele an. In einem davon wird erwähnt, dass Gott diejenigen ins Paradies aufnehmen wird, die Töchter haben und ihnen keinen Schaden zufügen, sie nicht erniedrigen und sie nicht ihren Söhnen vorziehen.

Chimidow betont die Bedeutung der Erziehung von Mädchen, da sie die zukünftigen Mütter sind, die Helden und Gestalter der Geschichte zur Welt bringen.

Alija Chamidullina für Asia-Plus

Aus dem Russischen von Michèle Häfliger

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