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Erinnerungen an den tadschikischen Bürgerkrieg: „Die Kugeln fliegen schneller, als man rennen kann“ (1/3)

Sie freuten sich über den ausfallenden Unterricht, spielten Seilspringen, während sie stundenlang auf die Brotrationen warteten und teilten sich zu zweit ein paar Rollschuhe. Außerdem suchten sie Arbeit, studierten und bekamen Kinder. Das tadschikische Nachrichtenportal Asia Plus hat Erzählungen aus dem Alltag der Tadschiken während des Bürgerkriegs gesammelt, der vor 20 Jahren zu Ende ging. Wir übersetzen sie mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.

Minen Tadschikistan Bürgerkrieg
Während des tadschikischen Bürgerkriegs zerstörtes Material zum Bau von Landminen

Sie freuten sich über den ausfallenden Unterricht, spielten Seilspringen, während sie stundenlang auf die Brotrationen warteten und teilten sich zu zweit ein paar Rollschuhe. Außerdem suchten sie Arbeit, studierten und bekamen Kinder. Das tadschikische Nachrichtenportal Asia Plus hat Erzählungen aus dem Alltag der Tadschiken während des Bürgerkriegs gesammelt, der vor 20 Jahren zu Ende ging. Wir übersetzen sie mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.

Affolge umstrittener Präsidentschaftswahlen kam es im Mai 1992 in Tadschikistan zu Ausschreitungen, die in einen Bürgerkrieg eskalierten. Es stehen sich zwei Lager gegenüber: auf der einen Seite die Kommunisten, die von der Regierung unterstützt wurden, auf der anderen eine Oppositionskoalition, angeführt von der Partei der Islamischen Wiedergeburt, die seit 2015 verboten ist.

Die Oppositionskoalition bestand hauptsächlich aus Tadschiken aus dem Pamir und aus der Gharm-Region, der ursprünglich politische Konflikt bekommt so darüber hinaus eine starke regionale und ethnische Dimension. Die Friedensverträge, die am 27. Juni 1997 unterzeichnet wurden sahen eine Quote von 30% innerhalb der Regierung für die Opposition vor, doch noch mehrere Monate nach der Unterzeichnung wurde die Hauptstadt Duschanbe von während des Bürgerkriegs gegründeten Milizen und Mafias kontrolliert. Der tadschikische Bürgerkrieg dauerte von Mai 1992 bis Juni 1997 und forderte 50 bis 100.000 Todesopfer.

Zwanzig Jahre nach den Friedensverträgen veröffentlicht Asia Plus Erzählungen aus dem Alltag der Menschen, der trotz des Krieges irgendwie weiterging. Diese verschiedenen Erzählungen liefern ebenso viele Perspektiven auf die Realität des Krieges.

Die Erzählung der Redakteurin Sebo Tadschibajewa:

„Im Jahr 1992 war ich 14 Jahre alt. Ich habe erst später verstanden, was für ein Unglück über uns eingebrochen war. Anfangs beobachteten wir von unseren Bänken aus, wie Menschen mit weißen Armbändern und Stöcken durch unseren Hof liefen. Später liefen da Leute mit roten Bändern. Sogar als wir die ersten Schüsse hörten, verstanden wir noch nicht, dass der Tod ganz in der Nähe war.

Meine Kindheit fand ein jähes Ende, als sie den Sarg eines Nachbarjungen in den Hof trugen. Er war nur ein Jahr älter als ich. Wir verstanden nur nicht recht, warum man ihn mehrere Tage lang in Gewahrsam gehalten hatte. Aber alle näherten sich dem Sarg und konnten die Zigarettenspuren an seinem Körper sehen. Die ganze Nachbarschaft versammelte sich zu Mischkas Beerdigung.

„Die Kugeln fliegen schneller, als man rennen kann“

Meine Eltern gingen weiter zur Arbeit, auch als es keinen öffentlichen Nahverkehr gab. Ich erinnere mich, wie mein kleiner Bruder und ich mit Schrecken aus dem Fenster beobachteten, wie unsere Mutter in aller Ruhe das Geschäft verließ, während in der Nähe geschossen wurde. Ich fragte sie später, warum sie nicht gerannt war, worauf sie ruhig antwortete: „Die Kugeln fliegen schneller, als man rennen kann.“

Die schlimmste Erinnerung aus der Zeit waren die Erlebnisse von Verwandten meines Vaters, die aus Wachsch geflohen waren. Sie erzählten, wie ihre Nachbarn getötet wurden, wie unser Onkel mit Frau und Kindern aus dem Haus geflohen war und zu Fuß die 100 Kilometer bis Duschanbe zurücklegt hatte. Niemand schloss meinen Bruder und mich von diesen Gesprächen aus. Es war unmöglich, dem Horror zu entkommen.

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An dem Abend wurde direkt in unserem Innenhof geschossen. Soldaten der Russischen Spezialeinheit griffen irgendwelche Kämpfer aus der fünften Etage des Nachbarhauses an. Am nächsten morgen sahen wir das Blut aus dem Asphalt. Einer der Kämpfer hatte versucht, an der Außenwand von der vierten in die fünfte Etage zu gelangen, stürzte aber ab.

Die nächste Schießerei ein paar Tage später erschreckte uns nicht einmal mehr. Erst als wir die Feuerwehr hörten, schauten wir aus dem Fenster: Eine Wohnung über dem nächsten Hauseingang war in Brand gesteckt worden; man hatte sie mit Granaten beworfen. Unsere Nachbarn aus dem Pamir konnten am Morgen aus der Wohnung fliehen.

Der Schulunterricht fand unregelmäßig statt. Ich weiss nicht mehr ganz, in welcher Reihenfolge sich die Ereignisse im Jahr 1993 abspielten: Vielleicht kamen zuerst zwei Männer auf uns Mädchen zu, während wir auf der Straße plauderten. Sie fragten, ob in unserem Haus Leute aus Gharm oder aus dem Pamir wohnen. Mein Vater war aus Gharm, also war sein Leben bedroht. Ich erinnerte mich daran, wie man eine Lehrerin und ihren Sohn aus dem Nachbarhaus mitnahm, während sie im Hof Teppiche klopften. Am nächsten Morgen wurden ihre Leichen dort abgeladen.

Flucht nach Russland

Vielleicht griffen mich zuerst lokale Rowdys in der Schule mit einem Messer an. Jedenfalls entschieden sich meine Eltern nach diesen zwei Ereignissen, meinen Bruder und mich nach Russland zu unserer Tante zu schicken.

Mama blieb nicht bei uns, sie kehrte zum Vater nach Tadschikistan zurück. Aber wir wollten nicht getrennt von unseren Eltern leben und flogen selbst zum Beginn des Schuljahres zurück.

Unsere Mutter erzählte uns später, wie unser Vater während unserer Abwesenheit eine ganze Nacht im Eingang irgendeines Hauses im Wohnbezirk „Giprosem“ festsaß. Am nächsten Morgen wurde er mit ein paar anderen Männern „an die Wand“ geführt. Unseren Vater rettete allein der Umstand, dass er vor dem Krieg zusammen mit dem Bandenführer, in dessen Hände er gefallen war, in einer Textilfabrik arbeitete.

Danach kam der Hunger. Ende 1994 erlitt mein Bruder eine Appendizitis. Der Notdienst kam nicht, also fuhr unser Vater ihn selbst ins Krankenhaus. Er wurde ohne Vollnarkose operiert, dafür gab es im Krankenhaus keine Mittel. Einen Monat später stand ich in einer riesigen Schlange, um Brot zu bekommen. Ich musste meinen Bruder mitnehmen, da jeder nur ein vorgekochtes Brötchen bekam. In der Menge riss seine Naht, die Operationswunde musste neu genäht werden. Zu unserem Segen arbeiteten die Ärzte damals ungeachtet der Umstände, auch ganz ohne Gehalt.

Trotz Friedensvertrag: Auf den Straßen herrscht der Krieg

Als 1997 der Friedensvertrag unterschrieben wurde, sagte uns das erst mal wenig. Auf den Straßen regierten nach wie vor die Kämpfer.

Ich erinnere mich gut an die Unordnung auf den Straßen, als Mädchen, manchmal vor den Augen ihrer Eltern, in Autos gezerrt wurden. Mich retteten jedes Mal meine Beine und mein Schutzengel. Einmal floh ich vor einem Wagen, in dem bärtige Männer in Militärkleidung saßen. Ein Busfahrer bemerkte mich und öffnete beim Vorbeifahren die Hintertür, durch die ich entkommen konnte. Vor Mitleid nahm er das Risiko auf sich. Vor lauter Schreck habe ich das Gesicht meines Retters noch nicht einmal gesehen.

Bürgerkrieg Tadschikistan LKW
Abgebrannte LKW während des Bürgerkriegs

In den Jahren 1997 un 98 arbeitet ich als noch junges Mädchen in einer Militärstruktur. Dort erfuhr ich von allen jener Zeit führenden Kommandanten, lernte alle Militäreinheiten kennen und konnte die Soldaten verschiedener Einheiten an der Uniform erkennen.

Ich erinnere mich, wie die Schutzmänner des Oberst Tagojew mir einmal ihr ganzes Arsenal zeigten. Der Oberst war einen Kopf kleiner als ich; aber niemand betrachtete ihn herablassend. Mustafo (er wurde oft mit seinem Vornamen genannt) machte kurzen Prozess. Mein damaliger Chef deutete mir mit den Augen, zu gehen. Er konnte nicht für meine Sicherheit garantieren.

Asia Plus

Aus dem Russischen übersetzt von Florian Coppenrath 

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