„Ich will weg“, beantwortet Asisa die Frage, was sie nach ihrem Schulabschluss machen möchte. Die tadschikische Schülerin weiß noch nicht, ob oder was sie nach der Schule studiert, sie ist sich aber sicher, sie will nicht in Tadschikistan bleiben. Warum wird das Verlassen des Landes bei den jungen Leuten zu einem Lebensziel? Alin Kor hat für die Deutsche Allgemeine Zeitung vier Personen dazu befragt. Wir übernehmen den Artikel mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.
Asisa besucht die 8. Klasse einer staatlichen Mittelschule in Duschanbe, der Hauptstadt von Tadschikistan. Mit ihren Mitschülern kommt sie nicht klar: „Sie wollen alle nur heiraten.“ Die Lehrkräfte scheinen bei Asisas Berufswahl nicht hilfreich oder überhaupt nicht daran interessiert zu sein. Die Eltern wollen ihre Töchter nach der Schule glücklich verheiratet sehen. Asizas verheiratete Schwester empfiehlt ihr, etwas zu studieren, womit sie später in einer internationalen Firma in der Hauptstadt arbeiten kann.
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„Aber ich will nur weg“, erzählt die 14-Jährige. Niedrige Löhne, Wohnungsnot, Wehrpflicht und Mangel an Möglichkeiten, ein eigenes Geschäft oder Unternehmen zu gründen sind die Hauptgründe der Jugendmigration laut dem Bericht der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) „Migration and Development in Tajikistan – Emigration, Return and Diaspora“ von 2010.
Von Plattenbau zu Bauhaus
Nigora ist 28 und lebt seit eineinhalb Jahren in Weimar. Sechs Jahre lang hat Nigora Architektur an der Technischen Universität in Duschanbe studiert. Nach dem Studium arbeitete die junge Architektin für ein staatliches Projektierungsbüro. Während ihrer zweieinhalbjährigen Tätigkeit beendete sie 23 Bauprojekte mit einem monatlichen Lohn in Höhe von ca. 120 Euro.
„Es gibt keine Zukunft für mich in Tadschikistan als Frau und Architektin – in diesem Bereich herrscht volles Patriarchat. Des Weiteren gibt es keine Entwicklung von Spezialisten – der Markt und der Kunde diktieren den Architekten, was sie machen sollen. Es gibt keine Unterstützung von Kreativität und Entwicklung der modernen Architektur.“ Nigora ist mit der „strengen zentralisierten Kontrolle und dem Druck auf den eigenen Stil der Architektur“ unzufrieden. „Das Wichtigste ist natürlich eine (bisher fehlende) Basis-Schule, in der man eigene Fähigkeiten schaffen und entwickeln kann.“
Nicht als Letztes spielt auch die Geldfrage eine Rolle: „Ich kann als Architektin verdienen, aber nur, wenn ich die sowjetischen Plattenbauten umsetze, wie der Kunde will.“ Das alles hat Nigora den Weg erleichtert, ihr Zuhause zu verlassen. Heute studiert sie Europäische Urbanistik an der Bauhaus-Universität in Weimar.
Jovid lebt seinen Pilottraum im Ausland.
Jovid gelang es im Gegenteil schwer, seine Heimat zu verlassen. Der ausgebildete Pilot vom Kyrgyz Aviation College arbeitete vier Jahre lang für eine tadschikische Fluggesellschaft in Duschanbe. „Das war damals schon schwer, in die Fluggesellschaft reinzukommen. Ich hatte keine Beziehungen zu irgendeinem der Mitarbeiter. Alles, was ich hatte, waren sehr gute Noten in meinem Diplom und eine Hoffnung, dass alles, was ich gelernt habe, irgendwo gebraucht wird.“
Der damalige Flugdirektor prüfte und testete Jovid, worauf er mit 22 Jahren einen Job als Pilot erhält. Drei Jahre später – eine Zeit voller Schwierigkeiten, Konflikte, Demütigungen und Erniedrigungen, kündigt er. „Ich konnte nicht mehr.“ Er bewirbt sich bei internationalen Fluggesellschaften und bekommt schnell eine Stelle bei der nationalen Fluggesellschaft eines anderen Landes. „Es ist nicht gut, wenn dein Schicksal von gierigen und habsüchtigen Chefs abhängt. Wenn du kein „extra“ Einkommen hast, ist jedem egal, was du alles kannst. Niemand braucht dich.“ Der 27-Jährige Pilot wohnt heute mit seiner Familie in Maskat (Oman). „Wegen einigen inkompetenten Menschen muss ich heute weit weg von meiner Heimat leben.“
Brain-Drain in Tadschikistan
Laut dem Bericht der ILO nehmen tadschikische Hochschulabsolventen und Graduierte im Brain-drain-Prozess am aktivsten teil (Brain-drain ist ein Begriff, der die Auswanderung hochqualifizierter Fachkräfte ins Ausland bezeichnet, Anm. d. Red.). Dazu zählen auch die besten Graduierten, die mit den Chancen auf dem Arbeitsmarkt in Tadschikistan unzufrieden sind, sowie auch die, die keinen entsprechenden Job in ihrem beruflichen Bereich finden konnten.
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46% aller tadschikischen Migranten sind laut der Internationalen Organisation für Migration IMO unter 30. Nur knapp ein Viertel von ihnen (22.3%) hat einen universitären Abschluss, drei Viertel (76.2%) haben einen Schulabschluss
Dilbar aus Duschanbe ist Mutter von drei Kindern, und alle drei sind im Ausland. Die Tochter studiert in Kasan (Russland), ein Sohn arbeitet in Toronto (Kanada), und der jüngste Sohn macht sein Bachelorstudium in Deutschland. „In einem Land, in dem Korruption im Bildungs– und Gesundheitswesen den zweiten und dritten Platz abwechselnd teilen, habe ich keine Zukunft für meine Kinder gesehen,“ erzählt die Mutter enttäuscht. „Ich gab ihnen meinen Segen, das Land zu verlassen, um ihnen damit eine bessere Zukunft zu ermöglichen zur Erreichung ihrer Lebensziele.“
Alin Kor
Deutsche Allgemeine Zeitung, Almaty