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Verfassungsreform in Usbekistan: Karakalpakstan protestiert für Erhalt der Autonomie

Usbekistans Regierung hat den Entwurf einer neuen Verfassung zur Diskussion gestellt. Dass die im Westen des Landes gelegene autonome Republik Karakalpakstan ihre Souveränität verlieren soll, löste in deren Hauptstadt Nukus Proteste aus. Usbekistans Präsident Mirziyoyev wäscht seine Hände in Unschuld und versucht zu beschwichtigen.

Proteste in Karakalpakstan
Proteste in Karakalpakstan

Usbekistans Regierung hat den Entwurf einer neuen Verfassung zur Diskussion gestellt. Dass die im Westen des Landes gelegene autonome Republik Karakalpakstan ihre Souveränität verlieren soll, löste in deren Hauptstadt Nukus Proteste aus. Usbekistans Präsident Mirziyoyev wäscht seine Hände in Unschuld und versucht zu beschwichtigen.

In der im Nordwesten Usbekistans gelegenen autonomen Republik Karakalpakstan ist es zu Protesten gegen die von der Taschkenter Zentralregierung vorgeschlagene Verfassungsreform gekommen. Diese sieht unter anderem vor, dass die Region ihren Autonomiestatus verlieren solle. In Karakalpakstans Hauptstadt Nukus versammelten sich am 1. Juli mehrere Tausend Menschen zu einer Demonstration für den Erhalt des Status quo. In sozialen Netzwerken veröffentlichte Videos zeigen friedliche Proteste sowie das Zusammenziehen eines massiven Polizeiaufgebots.

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Wie ein Korrespondent des US-amerikanischen Mediums Eurasianet aus Karakalpakstans Hauptstadt Nukus berichtet, seien wegen der Demonstrationen ganze Stadtteile von der Polizei abgeriegelt worden. Geschäfte, Restaurants und Einkaufszentren hätten offensichtlich vorsichtshalber geschlossen. Die Übermittlung von Informationen aus Karakalpakstan ist erheblich erschwert, da die mobilen Internetverbindungen in der Region am 27. Juni gekappt wurden. Ungefähr zu diesem Zeitpunkt begannen Berichte über die mögliche Aufhebung der Autonomie zu kursieren. Auch das Festnetz-Internet ist mittlerweile unterbrochen.

Friedliche Proteste

Laut Eurasianet begann sich die Entwicklung in Nukus am 1. Juli gegen 15 Uhr aufzuheizen, als sich eine große Gruppe von Demonstrierenden versammelte und die Freilassung des prominenten Anwalts und Bürgerjournalisten Dauletmurat Tajimuratov forderte. Zuvor war von dessen Festnahme berichtet worden. Gegen 19 Uhr trafen Tajimuratov und Murat Kamalov, Präsident des karakalpakischen Parlaments, vor Ort ein. Kamalov teilte laut Angaben von Fergana News mit, dass die Behörden eine von Tajimuratov angekündigte friedliche Kundgebung am 5. Juli genehmigt hätten.

Augenzeug:innen berichteten gegenüber Eurasianet, dass die Menge keine Anzeichen von Aggression gezeigt habe und dass es zu diesem Zeitpunkt keine Anzeichen für bevorstehende Probleme gab. Die Situation sei erst eskaliert, als die Polizei aus noch ungeklärten Gründen Rauchbomben in die Menge warf. Im weiteren Verlauf der Auseinandersetzungen setzte dann eine mobile Spezialeinheit des Innenministeriums Blendgranaten, Gummigeschosse und einen Wasserwerfer ein. Laut Eurasianet gab es vereinzelte Berichte über Demonstrierende mit schweren und tödlichen Verletzungen, die sich aber zunächst nicht bestätigen ließen.

Am 3. Juli sprach der usbekische Präsident Shavkat Mirziyoyev laut Reuters in einer Presseerklärung an, es gebe Todesopfer unter Zivilist:innen und Ordnungskräften, ohne jedoch eine genaue Zahl zu nennen. Ein von der Presseagentur zitierter Menschenrechtsaktivist im Exil spricht auf der Grundlage von Gesprächen mit Augenzeugen von mindestens fünf bestätigten und womöglich Dutzenden unbestätigten Todesfällen.

Die usbekischen Behörden zeichnen indes ein anderes Bild. Die usbekische Onlinezeitung Gazeta.uz zitiert eine Erklärung des Innenministeriums, laut der „einige Bürger Karakalpakstans aufgrund einer Fehlinterpretation der in der Republik durchgeführten Verfassungsreformen […] eine illegale Demonstration organisierten“. Die Ordnung sei mittlerweile wieder hergestellt. Dies bestätigten auch Quellen aus Nukus gegenüber Gazeta.uz, laut denen die Demonstrationen sich am Abend aufgelöst hätten.

Verfassungsreform als Auslöser

Auslöser der Proteste in Karakalpakstan war der Entwurf einer ausführlichen Verfassungsreform, die Usbekistans Regierung Ende Juni vorgestellt hatte. Dieser soll theoretisch bis zum 4. Juli öffentlich diskutiert und zu einem späteren Zeitpunkt per Referendum beschlossen werden. Obwohl die Änderungen nach Einschätzung von Eurasianet „als Versuch verkauft werden, den Staat mitfühlender und demokratischer zu machen“, ging dieser Schuss jedoch im Falle von Karakalpakstan nach hinten los.

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Hintergrund ist eine geplante Änderung des Rechtstatus der Republik: Während die derzeitige Verfassung Usbekistans Karakalpakstan als „souverän“ anerkennt und die Möglichkeit eines Austritts aus dem usbekischen Staat einräumt, wird dies im neuen Entwurf nicht mehr erwähnt. Vielmehr enthält er den Satz, dass „die Verfassung der Republik Karakalpakstan der Verfassung der Republik Usbekistan nicht widersprechen kann“, was als ein Ende der seit 1924 währenden karakalpakischen Autonomie gedeutet werden kann und so den Unmut der Karakalpak:innen hervorrief.

Der Präsident rudert zurück

Als Reaktion auf die Ereignisse in Nukus reiste  Usbekistans Präsident Shavkat Mirziyoyev am Abend des 2. Juli in die karakalpakische Hauptstadt, um die Wogen zu glätten. Dabei erklärte das Staatsoberhaupt, dass er sich für einen Beibehalt des Autonomiestatus einsetze. „Unter Berücksichtigung der einzigartigen ethnokulturellen Merkmale, nationalen Traditionen und Werte sowie des besonderen Rechtsstatus der Republik Karakalpakstan halte ich es für notwendig, den Normenentwurf zum Rechtsstatus der Republik Karakalpakstan unverändert zu lassen“, sagte Mirziyoyev laut Angaben seines Pressedienstes.

Bei einem Treffen mit Vertreter:innen des karakapakischen Parlaments ging der Präsident noch weiter und wies die Schuld an den Auseinandersetzungen des Vortags den Abgeordneten zu, da diese die vorgeschlagenen Änderungen selbst eingebracht hätten. „Ich bin immer offen. Warum haben Sie nicht angerufen und gesagt, dass die Leute unglücklich sind und so weiter? Ich bin auch ein Mensch. Ich möchte auch eine Zukunft für Karakalpakstan, Frieden in Karakalpakstan. Wir haben so viel Arbeit geleistet, warum muss man das beschädigen?„, fragte der Präsident die Abgeordneten.

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„Der Zweck der Verfassungsreform besteht nur darin, das Leben der Menschen von morgen zu verbessern. Aber wenn die Menschen in Karakalpakstan unzufrieden sind, wird kein einziger Artikel jemals geändert“, so Mirziyoyev weiter.

Zuckerbrot und Peitsche

Alles in allem lässt sich konstatieren, dass die Behörden sowohl in Nukus als auch in Taschkent die Situation in Karakalpakstan völlig falsch eingeschätzt haben. Einen deutlichen Indikator dafür liefert der Präsident selbst, der sich noch einen Tag vor Ausbruch der Proteste aus Anlass des „Tages der Jugend“ am 30. Juni an die Jugend Karakalpakstans richtete und erklärte: „Wir zwei Völker sind eins geworden, wir sind Blutsverwandte.“

Mirziyoyevs beschworene Abkehr von den Verfassungsänderungen in Bezug auf Karakalpakstan scheinen daher eine Art Zuckerbrot zu sein, das aber trotz allem von einer bedrohlich schwingenden Peitsche begleitet wird. So veröffentlichte das Parlament Karakalpakstans am Morgen des 2. Juli eine Erklärung, in der die Protestierenden als Verbrecher:innen verunglimpft werden.

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„Trotz der von der Republik Usbekistan verfolgten Politik der Offenheit und freien Willensäußerung organisierte eine kriminelle Personengruppe am 1. Juli 2022 in der Stadt Nukus illegale Aktionen, die sich in dem Versuch äußerten, die staatlichen Verwaltungsorgane der Republik Karakalpakstan zu besetzen. […] Provokateure, die sich auf die versammelten Bürger stützten, versuchten, sich dieser staatlichen Institutionen zu bemächtigen und so die Gesellschaft zu spalten und die gesellschaftspolitische Situation in Usbekistan zu destabilisieren“, heißt es in der Erklärung.

In die gleiche Kerbe schlug auch Odiljon Tojiev, stellvertretender Präsident des usbekischen Unterhauses. Wie Radio Ozodlik, der usbekische Dienst von Radio Free Europe, berichtete, betonte Tojiev, dass die Verfassungsänderung nicht im kleinen Kreis, sondern mit der gesamten Gesellschaft diskutiert werde und der Staat die Meinung seiner Bürger:innen achte. Zugleich stellte er heraus, dass die Ressourcen der Provokateure nicht jene Diskussionsplattformen seien, welche die Meinung des Volkes zum Ausdruck bringen. „Wir verstehen immer deutlicher, dass diese Situation ernster genommen werden muss“, so der stellvertretende Parlamentspräsident.

Wie ernst die Situation genommen wird, zeigt die Tatsache, dass Präsident Mirziyoyev per Dekret einen ab dem 3. Juli geltenden, einmonatigen Ausnahmezustand für Karakalpakstan ausrief. Dieser umfasst unter anderem eine Sperrstunde von 21 bis 7 Uhr sowie eingeschränkte Ein- und Ausreisemöglichkeiten in die Region. Trotz der Zusagen des Präsidenten scheint der Konflikt um die karakalpalkische Autonomie noch lange nicht ausgestanden.

Robin Roth, Chefredakteur von Novastan

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