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Russlands Annäherung mit den Taliban vor dem Hintergrund der Beziehungen mit Zentralasien

Im April hat der Oberste Gerichtshof Russlands die Taliban von der Liste der terroristischen Organisationen getsrichen. Dieser Schritt Richtung Normalisierung der Beziehungen zwischen Moskau und Afghanistan deutet auf eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen den beiden Ländern in den Bereichen Sicherheit, Wirtschaft und Verkehrsinfrastruktur hin.

Der russische Aussenminister Sergej Lawrow mit Vertretern der Taliban aus Afghanistan in Moskau 2018. Foto: AP Photo / Pavel Golovkin

Im April hat der Oberste Gerichtshof Russlands die Taliban von der Liste der terroristischen Organisationen getsrichen. Dieser Schritt Richtung Normalisierung der Beziehungen zwischen Moskau und Afghanistan deutet auf eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen den beiden Ländern in den Bereichen Sicherheit, Wirtschaft und Verkehrsinfrastruktur hin.

Zusammen mit Staatsangehörigen aus elf weiteren Ländern verhängte Präsident Donald Trump kürzlich gegen afghanische Staatsangehörige ein „Einreiseverbot“, das den Betroffenen die Einreise in die Vereinigten Staaten untersagt. Während sich die USA mit dieser Maßnahme weiter von Afghanistan entfernen, strich der russische Oberste Gerichtshof die Taliban von der Liste der von der Russischen Föderation anerkannten terroristischen Organisationen, wie Radio Free Europe berichtet. Seit der Eroberung Kabuls im August 2021 regieren die Taliban de facto Afghanistan. Dennoch wird die Rechtmäßigkeit ihrer Herrschaft bis heute von keinem anderen Land der Welt anerkannt.

Zwar ist die gesamte afghanische Bevölkerung nicht mit der sie regierenden Taliban-Minderheit gleichzusetzen, doch die Gleichzeitigkeit dieser Statuswechsel sind nicht bedeutungslos. Russlands ausgestreckte Hand gegenüber den Taliban scheint ein weiterer Schritt in Richtung der offiziellen Anerkennung des „Islamischen Emirats Afghanistan“ zu sein und bleibt damit eines der wenigen Länder, die nach 2021 eine offizielle diplomatische Vertretung in Kabul besitzen.

Taliban, Erben des sowjetisch-afghanischen Krieges

Diese Situation erinnert an die besondere Stellung Afghanistans innerhalb der eurasischen Geografie: Fast vierzig Jahre nach dem Scheitern der Sowjetunion, das Land mit Waffengewalt zu kontrollieren, scheint Russland nun bestrebt zu sein, dessen umstrittenen Führer mit diplomatischen Mitteln zu zähmen.

Die Taliban-Bewegung, die 1994 offiziell auf der politisch-militärischen Bühne Afghanistans erschien, bildete sich größtenteils aus jungen Menschen, die nach dem langen Krieg der Sowjetunion in Afghanistan zwischen 1979 und 1989 nach Pakistan ins Exil gegangen waren. Ehemalige Mudschaheddin, die gegen die Sowjets gekämpft hatten, wie Dschallaludin Haqqani oder Mullah Omar, setzten sich in den ersten Jahren der Bewegung an deren Spitze durch.

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Dieser Konflikt, der in Afghanistan stark mit einem von Russland geführten Invasionskrieg in Verbindung gebracht wird, führte zum Tod hunderttausender Zivilist:innen und zum Exil von Millionen Afghan:innen. Die Taliban, wörtlich „die Studenten”, die vom Sunnismus und noch mehr vom Deobandi-Synkretismus beeinflusst sind und die Ordnung in einem durch Jahre des Krieges verwüsteten Land wiederherstellen wollten, sind also weitgehend ein Produkt des sowjetisch-afghanischen Krieges.

Nach zwanzig Jahren amerikanischer Präsenz wird die Figur des ausländischen Besatzers, insbesondere von den jüngeren Generationen, heute eng mit den Streitkräften der von den Vereinigten Staaten angeführten westlichen Koalition assoziiert. Auch wenn die traumatische Erinnerung an die militärische Präsenz der Sowjetunion bei den Älteren und an bestimmten Orten noch immer lebendig ist, hat diese nicht mehr denselben Stellenwert, und Russland genießt heute in Afghanistan ein differenzierteres Image.

Russland, langjähriger Unterstützer der Taliban

Durch seine internationale Isolation ist das Taliban-Regime bemüht, sich an der Macht zu halten. Auch wenn Russland mit den ehemaligen sowjetischen Feinden identifiziert werden kann, scheinen die Taliban bereit, sich dem Land anzunähern.

Denn die Regierung unter Haibatullah Akhundzada, die mit einer katastrophalen wirtschaftlichen und humanitären Lage konfrontiert ist, kann sich in der Diplomatie gegenüber potenziellen internationalen Partnern nicht wählerisch zeigen, erst recht nicht gegenüber Akteuren vom Kaliber Russlands.

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Moskau hielt während der „Rückeroberung“ des Landes den diplomatischen Dialog mit den Taliban aufrecht. Aus russischer Sicht verkörperten die Taliban-Behörden wohl ein Instrument, das zur Verdrängung der amerikanischen Militärpräsenz in Afghanistan beitragen konnte. Da dieses Ziel nun erreicht ist, stellt sich die Frage, wie dieses neue Zeichen der Annäherung an die Bewegung seitens Russlands zu verstehen ist.

Der „Islamische Staat Khorasan“, gemeinsamer Feind Moskaus und der Taliban?

Paradoxerweise ist es gerade die Schwierigkeit, Afghanistan zu kontrollieren, was dem Land seine strategische Bedeutung verleiht. Seine schwierige geografische Lage stellt in der Tat erhebliche Hindernisse für jedes logistische oder infrastrukturelle Großprojekt dar, was bestimmte Bevölkerungsgruppen Afghanistans veranlasste, dort Zuflucht zu suchen.

Dadurch erhält Afghanistan geostrategische Bedeutung, wo doch das Land historisch gesehen das Vordringen der persischen und nahöstlichen Reiche, der Moguln aus Indien, der Chinesen und Russen begrenzte. Diese heutige Lage als Schnittstelle zwischen verschiedenen Siedlungsgebieten ist ein Erbe dieser Geschichte.

Diese Situation erklärt auch die Anziehungskraft, die dieses Land auf terroristische Gruppen ausübt; das bekannteste Beispiel ist wohl Al-Qaida, die einst von Bin Laden angeführt wurde. Dies gilt heute auch für den Islamischen Staat Khorasan (IS-K), den erklärten Gegner der Taliban. Diese Organisation, die hinter dem Anschlag auf die Crocus City Hall in Moskau am 22. März 2024 stand, bei dem 145 Menschen ums Leben kamen, ist ein gemeinsamer Feind Russlands und der Taliban-Regierung.

Offiziell gegründet am 26. Januar 2015 nach der Ankündigung der „Wilayat Khorasan” durch den Sprecher des Islamischen Staates Abu Muhammad al-Adnani, befindet sich der Rückzugsort dieser Terroristengruppe an der afghanisch-pakistanischen Grenze zwischen der Provinz Nangarhar in Afghanistan und den ehemaligen pakistanischen Stammesgebieten Kurram und Orakzai. In der Nähe der Achse DschalalabadPeshawar und des berühmten Chaiber-Passes gelegen, besteht sie ursprünglich aus dissidenten Stammesführern der Tehrik-i-Taliban Pakistan (TTP), einem Ableger der in Pakistan aktiven Taliban-Bewegung, wie Hafiz Saeed Khan oder Omar Khalid Khorasani, die ursprünglich dem Islamischen Staat die Treue schworen.

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Nach dem Tod von Hafiz Saeed Khan, der 2016 getötet wurde, ereilte viele kurzlebige Anführer an der Spitze des IS-K das gleiche Schicksal. Die meisten von ihnen stammten aus dem Stammesgebiet an der Grenze und konzentrierten ihre Aktivitäten hauptsächlich auf Kabul und Peshawar, wobei sie vor allem die schiitischen Gemeinschaften der Hazara oder Pakistani ins Visier nahmen. Im Jahr 2020 jedoch veränderte sich die Organisation unter der Führung eines neuen Anführers, Sanuallah Ghafari, auch bekannt als Shabab al-Muhajir, der ein ganz anderes Profil als seine Vorgänger hatte. Der wahrscheinlich aus Kabul stammende Ingenieur und Spezialist für den Stadtkampf soll hinter dem schrecklichen Anschlag auf den Flughafen von Kabul stehen, bei dem am 26. August 2021 fast 190 Menschen ums Leben kamen.

Unter seiner Führung beschränkt der IS-K, der zudem mit der brutalen Unterdrückung durch die Taliban konfrontiert ist, die nun das Land beherrschen, seinen Einfluss in Afghanistan, indem er Guerillataktiken und die Zerstörung von Infrastrukturen entwickelt und gleichzeitig spektakuläre internationale Aktionen durchführt. Die tödlichen Anschläge in Moskau, Kerman im Iran, New Orleans oder die gescheiterten Anschläge in Europa sind Teil dieser Strategie. Diese Art von Operationen, die darauf abzielen, der Organisation durch immer widerstandsfähigere und ausgefeiltere Strategien Sichtbarkeit, Rekrutierung und Finanzierungsquellen zu sichern, haben es dem IS-K ermöglicht, in Zentralasien unter den verschiedenen Akteuren der dschihadistischen Gewalt eine führende Stellung einzunehmen, insbesondere bei der tadschikischen und usbekischen Bevölkerung, die von der Propaganda der Organisation angesprochen wird.

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Der IS-K, der von den Experten des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen als derzeit größte Bedrohung für die regionale Stabilität eingestuft wird, hat sich kürzlich durch die Ermordung des afghanischen Ministers für Flüchtlinge und Rückführungen, Kalil Ur Rehman Haqqani, dem Bruder von Jallaludin, am 11. Dezember 2024 hervorgetan.

Die Organisation ließ es sich nicht nehmen, die Entscheidung Russlands bezüglich der Taliban öffentlich zu kritisieren. Russland seinerseits sieht die Zusammenarbeit mit den Taliban als unverzichtbar an, um den im afghanisch-pakistanischen Gebiet ansässigen IS-K zu bekämpfen.

Jede Unterstützung eines Staates im Bereich der Sicherheit, einschließlich der militärischen, bedeutet jedoch eine Form der rechtlichen Anerkennung des unterstützten Regimes, da sonst der Vorwurf der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung droht. Dies würde den Grundsätzen der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit, deren Gründungsmitglied Russland ist, jedoch widersprechen. Um solche Anschuldigungen zu vermeiden, wird Russland zweifellos seine SCO-Verbündeten dazu bewegen, die Beziehungen zur afghanischen Regierung zu normalisieren.

Eine Frage der wirtschaftlichen Vernetzung und der Infrastrukturprojekte

Dieses relative diplomatische Risiko Russlands lässt sich weiter durch die wirtschaftlichen Folgen der Sanktionen erklären, die seit der Invasion der Ukraine gegen das Land verhängt wurden. Tatsächlich könnte der Gewinn einer Unterstützung der Taliban erheblich sein und Russland einen Vorteil gegenüber vielen anderen geostrategischen Akteuren verschaffen, die sich in Zentralasien positionieren wollen.

Einige Taliban-Würdenträger wurden bereits zum internationalen Wirtschaftsforum in Sankt Petersburg im Juni 2024 eingeladen. Neben den russischen Projekten zur Rohstoffgewinnung auf afghanischem Boden erfordern auch die Infrastrukturprojekte, die den indischen und pakistanischen Markt erschließen sollen, einen sicheren Transit durch Afghanistan und die Unterstützung der dortigen Regierung. Russland plant nämlich den Bau einer transafghanischen Gaspipeline, um diese wachsenden Verbrauchsmärkte zu versorgen, die eine nachhaltige Alternative zur EU für den Absatz von russischem Gas darstellen. Darüber hinaus möchte Russland sich an dem transafghanischen Eisenbahnprojekt beteiligen, das auch von Usbekistan und Pakistan gewünscht wird. Die Umsetzung könnte jedoch durch Sicherheitsprobleme gefährdet sein: Ein Abschnitt der geplanten Strecke soll Kabul mit Peschawar verbinden, also genau die Achse, auf der der IS-K am aktivsten ist.

Seit ihrer Machtübernahme haben die Taliban besonders repressive Gesetze für Frauen und Mädchen erlassen, deren Zugang zu Bildung, Arbeitsplätzen, öffentlichen Räumen und sogar der Möglichkeit, zu singen und ihre Stimme zu erheben, eingeschränkt ist. Das fast ausschließlich aus Paschtunen bestehende Taliban-Regime neigt weiter dazu, die Enteignung von Eigentum ethnischer Minderheiten wie Tadschiken, Usbeken und Hazara zugunsten der Paschtunen und Anhänger der Regierung zu fördern.

Jonathan Bonjean für Novastan

Aus dem Französischen von Michèle Häfliger

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