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„Es ist nicht cool“ – Warum Migrierte nicht Teil der „Russischen Welt“ werden wollen

Nach dem Terroranschlag in der Crocus City Hall sprachen russische Behörden von der mangelnden Bereitschaft von Arbeitsmigrierten, sich in die russische Gesellschaft zu integrieren. Der Wunsch, Neuankömmlinge zu assimilieren, ist an sich verständlich. Jedoch sei die "russische Welt" für sie kein kultureller und wertebezogener Bezugspunkt, sagt Alexander Kim, ein Verteidiger ihrer Rechte. Als einen der Gründe nennt er die Diskriminierung von Migrierten in Russland, die seiner Meinung nach bereits der Apartheid nahekomme. Kloop sprach mit ihm darüber.

Arbeitsmigranten Russland
Tadschikische Arbeiter in Russland (Illustrationsbild)

Nach dem Terroranschlag in der Crocus City Hall sprachen russische Behörden von der mangelnden Bereitschaft von Arbeitsmigrierten, sich in die russische Gesellschaft zu integrieren. Der Wunsch, Neuankömmlinge zu assimilieren, ist an sich verständlich. Jedoch sei die „russische Welt“ für sie kein kultureller und wertebezogener Bezugspunkt, sagt Alexander Kim, ein Verteidiger ihrer Rechte. Als einen der Gründe nennt er die Diskriminierung von Migrierten in Russland, die seiner Meinung nach bereits der Apartheid nahekomme. Kloop sprach mit ihm darüber.

In einem Ihrer letzten Kommentare sagten Sie, dass es in Bezug auf Migranten in Russland tatsächlich ein Apartheidregime gibt, das rechtlich formalisiert werden kann. Ist Russland so etwas wie das Südafrika von vor einem halben Jahrhundert?

Wenn wir das südafrikanische Regime betrachten, so gab es dort neben der Rassentrennung auch eine spezifische Ausbeutung der Arbeitskraft der schwarzafrikanischen Bevölkerung. Wenn Sie sich erinnern, wurden die meisten von ihnen als Bürger von Pseudostaaten – „Bantustans“ – bezeichnet. Die Männer aus den „Bantustans“ wurden in spezielle Lager ohne Frauen und Familien untergebracht, wo sie für die Dauer ihres Vertrags arbeiteten. Dieser dauerte in der Regel ein oder zwei Jahre.

Und genau das schlagen nun einige rechtsradikale Personen, die zur politischen Elite des Landes gehören, vor. Dazu gehören Kirill Kabanow, Mitglied des Menschenrechtsrates des Präsidenten, Pjotr Tolstoj, Propagandist und stellvertretender Sprecher der Staatsduma, Alexander Hinschtejn, Abgeordneter und Vize-Sekretär des Generalrats von Einiges Russland. Arbeitsmigration wird durch ein organisatorisches Rekrutierungsprogramm vorangetrieben.  Unter den Bedingungen der Gemeinschaft der Unabhängigen Staaten (GUS) kann dieses System einen Arbeitnehmer auf das Niveau eines Leibeigenen herabsetzen.

Das Wesen dieses Systems besteht darin, dass der Arbeitgeber im Voraus für die massenhafte Anwerbung von Arbeitskräften bezahlt, einschließlich der Vorbereitung der Dokumente und der Arbeitskräfte selbst. Dabei sind diese Arbeitskräfte für ihn viel billiger als auf dem Arbeitsmarkt. Die Arbeitnehmer merken jedoch, dass ihr Lohn unter dem Marktlohn liegt, und nutzen jede Gelegenheit, um zu gehen. Da er sie nicht daran hindern kann, greift der Arbeitgeber zu Tricks, um seine Investition so schnell wie möglich „wieder hereinzuholen“.

So nimmt er wissentlich rechtswidrige Klauseln in die Arbeitsverträge auf, wie z. B. „im Falle der Beendigung des Vertrags muss der Arbeitnehmer das Gebiet der Russischen Föderation unverzüglich verlassen“. Er lässt sie arbeiten, noch bevor alle Dokumente fertig sind, so dass sie das Gefühl haben, das Gesetz zu verletzen. Er zwingt sie, viele Überstunden zu machen. Er zahlt nicht den vollen Lohn, so dass der Arbeitnehmer nichts hat, um ihn zu verlassen und eine eigene Wohnung zu mieten. Wenn die organisierte Arbeitsmigration in Russland zur Regel wird, werden wir genau das erleben, was wir in der Apartheid-Ära in Südafrika in Bezug auf die Bürger der Bantustans gesehen haben.

Dennoch wird „Apartheid“ mit Bänken für Schwarze und Weiße, Vierteln für Schwarze und Weiße, Schulen und so weiter assoziiert. Gibt es eine solche Segregation in Russland?

Ich kann im Moment keine konkreten Beispiele für institutionelle Segregation in Russland nennen. Aber regierungsnahe Rechtsradikale lehnen zum Beispiel bestimmte Aktivitäten von Migranten und Angehörigen nationaler Minderheiten ab, insbesondere im Sport. Ich sehe das als einen Versuch, die Menschen wehrlos zu machen. Gleichzeitig sprechen sie sich für eine Änderung des Notwehrrechts aus. Ich habe den Eindruck, dass es nicht um Selbstverteidigung im Allgemeinen geht, sondern um die Selbstverteidigung für Angehörige der ethnischen Mehrheit. Einerseits stärkt man bei der dominanten ethnischen Gruppe das Recht auf Selbstverteidigung und die Hinwendung zu Sport und gesunder Lebensweise. Andererseits gilt bei anderen Gruppen das Sporttreiben als verdächtig, als Nährboden für einige radikale Extremisten, religiöse Ansichten und dergleichen.

Sprechen Sie über Vorschläge zur Schließung von MMA-Kampfclubs, in denen junge Menschen mit Migrationshintergrund in ihrer Freizeit trainieren?

Es geht nicht nur um Kampfclubs, sondern um Sportvereine im Allgemeinen.

Gibt es ein Sportverbot für Vertreter bestimmter Nationalitäten?

Natürlich formuliert man das nicht so. Man äußert eine grundsätzliche Ablehnung solcher Vereine, in denen Angehörige ethnischer Minderheiten aus dem Kaukasus und Zentralasien Sport treiben. Ich weiß nicht, welche Art von Sport, aber ich nehme an, dass es sich nicht nur um Ringen und MMA handelt. Aber in der Regel geht es in solchen Vereinen um Ringen. Aber was ist daran falsch?

Soweit ich es verstanden habe, sind die Wortführer besorgt über die ethnische und religiöse Homogenität der regelmäßigen Besucher dieser Clubs.

Aber ich habe noch nie eine Aussage gefunden, dass Slawen in diesen Clubs nicht willkommen wären. Ich vermute, dass es so etwas nicht gibt. Es ist nur so, dass die Moskauer und die Bewohner anderer Großstädte, in denen sich diese Klubs in der Regel befinden, kein Interesse an solchen Sportarten haben.

Ich hatte den Eindruck, dass es gar nicht so schlimm war. Ich habe einmal ein Video über einen Mann aus Kirgistan gesehen, der in einem solchen Club trainiert. Und darunter gab es viele positive Kommentare von Menschen verschiedener Nationalitäten.

Es geht nicht nur um MMA-Clubs. Es geht auch um Sportplätze, auf denen man nicht ringt, sondern zum Beispiel Fußball spielt. Sie schlagen nicht vor, dass dies verboten werden sollte. Sie bringen ihre Ablehnung gegenüber der Tatsache zum Ausdruck, dass Migranten in ihrer Freizeit Fußball spielen. Dies wird als etwas dargestellt, das eine Gefahr für die Einheimischen darstellt und ihre Rechte verletzt. Angeblich können die Einheimischen selbst keinen Sport treiben. Tatsächlich kann ich mich nicht daran erinnern, dass von 2005 bis 2022, als ich in Moskau gelebt habe, die Einheimischen solche Sportplätze gerne genutzt hätten.

Verstehen Sie die Tatsache, dass Ordnungshüter Migranten auf der Straße „abtasten“ und aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit aus der Menge herausgeziehen, als Zeichen der Segregation?

Ich betrachte dies als eines der Zeichen faktischer, aber nicht formalisierter Apartheid.

Lassen Sie es uns zusammenfassen: Vorschläge zur Einschränkung des Migrantensports, ethnische Kontrollen – was würden Sie noch als Formen der Apartheid einstufen?

Im Jahr 2021 wurde bekannt, dass das Innenministerium der Russischen Föderation einen Gesetzesentwurf „Über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt ausländischer Bürger und Staatenloser in der Russischen Föderation“ vorbereitet. Im Moment können sie an einigen Wahlen teilnehmen und sich auch wählen lassen, obwohl diese Rechte aufgrund des Wiederstands des Staats nie ausgeübt wurden.

Der neue Gesetzentwurf plant die vollständige Abschaffung des Wahlrechts für Ausländer. Der Entwurf definiert eine Reihe von Führungspositionen, die Ausländer nicht bekleiden können, zum Beispiel den Hauptbuchhalter eines Unternehmens. Die Razzien, die die Polizei seit Ende des Frühjahrs 2023 mit massiver Unterstützung und auf Initiative rechtsgerichteter Gruppierungen durchführt, sind heute vollständig illegal. Der neue Gesetzentwurf macht sie legal.

Glauben Sie, dass der Staat in Russland die Ansichten der Rechtsextremen in Bezug auf Arbeitsmigranten teilt?

Aktuell beobachtet man die höchste Aktivität rechtsradikaler Gruppen, und der Staat schaut im Prinzip gelassen zu. Man hat das Gefühl, dass er die geäußerten Positionen eher teilt, was vorher nicht der Fall war. Das ist eines der wichtigsten Anzeichen, die mich zu der Überzeugung bringen, dass etwas sehr Schlimmes vorbereitet wird. Weder 2011, als es auf dem Manege-Platz zu nationalistischen Ausschreitungen kam, noch in den Nullerjahren, als es in Tschetschenien eine Militäraktion gab, existierte so etwas. Wenn Beamte früher rechtsradikale Positionen äußerten, geschah dies unter vier Augen. Erinnern Sie sich an Konstantin Poltoranin, den Sprecher des Föderalen Migrationsdienstes (FMS) unter Romodanowskij (ehemaliger FMS-Direktor)? Als er dazu aufrief, dafür zu sorgen, dass die „Vermischung des Blutes“ in Russland „auf die richtige Art und Weise“ erfolgt, hat man ihn sofort entlassen.

Mittlerweile kommt die antimigrantische und antimuslimische Hetze in Russland nicht nur von rechtsgerichteten Publizisten, sondern sogar schon von offizieller Seite. Einzelne Aussagen über „das Problem mit den Migranten“ finden sich bei fast jeder öffentlichen Person. Dies ist zum Beispiel der Gouverneur des Gebiets Kaluga, Wladislaw Schapscha. Nach mehreren Vorfällen mit Migranten zog er die Region aus dem Programm für die Wiederansiedlung von Landsleuten zurück, weil es unter ihnen nur wenige Slawen gab. Und er verbot Migranten die Arbeit in einigen Gebieten. Oder der Gouverneur des Gebiets Kaliningrad, Anton Alihanow, der Migranten ab 2021 die Ausübung einer Reihe von Berufen verbot.

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Aleksandr Bastrykins [Chef des Ermittlungskomitees, Anm. d. Red.] Initiative, eingebürgerten Migranten, die sich weigern, an der Invasion in der Ukraine teilzunehmen, die russische Staatsbürgerschaft zu entziehen, ist in demselben Kontext zu sehen. Dabei unterscheiden sich die Abgeordneten, die sich selbst als Oppositionsabgeordnete bezeichnen, in dieser Hinsicht nicht von den regierungsfreundlichen Abgeordneten. So hat die Kommunistin Jengaltschewa diese Initiative aktiv unterstützt. Ich weiß um ihre Position, denn ich war Sekretär der Wahlkreiskommission in dem Bezirk, in dem Jengaltschewa nominiert wurde, und ich habe sie zunächst als echte Oppositionelle wahrgenommen.

Was meinen Sie, wohin das führen kann?

Vielleicht wird sich eine Art unbezahltes Wanderarbeitssystem entwickeln. Das ist meine Vermutung, ich habe keine Beweise. Sie basiert auf meiner Annahme, dass der Staat rational handeln wird. Das heißt, die diskriminierte Minderheit wird auf illegale Weise als Arbeitsressource ausgenutzt.

Es könnte aber auch etwas Irrationales passieren, das schlimmer wäre als diese Ausbeutung der Arbeitskraft. Das heißt, es könnte zu etwas Ungeplantem und Blutigem kommen. Wie in Ruanda 1994, in der Türkei während des Völkermords an den Armeniern oder in Nazi-Deutschland. In diesen Ländern gab es damals genau die gleiche Dynamik. Das Bild eines Armeniers in der Türkei, eines Tutsi in Ruanda, eines Juden in Nazideutschland war das Bild eines hinterlistigen Menschen, der sich unverdient und auf Kosten der einheimischen Bevölkerung bereichert. Genau das wird jetzt über Migranten gesagt, die angeblich „Russland und das gutmütige russische Volk ausbeuten“.

Migranten, die wegen Verstößen oder Straftaten festgenommen wurden, hat man mehrfach angeboten, einen Vertrag mit dem russischen Verteidigungsministerium zu unterzeichnen. Und die Menschen unterschrieben, gingen in die Ukraine und starben. Könnten die Massenkontrollen von Migranten nach dem Terroranschlag in der Crocus City Hall mit dieser Form der schleichenden Mobilisierung verbunden sein?

Technisch ist das möglich, aber es gibt nicht genügend Informationen, um das sagen zu können. Im Herbst 2023 wurden in St. Petersburg Menschen ihre Handys abgenommen und sie durften erst wieder etwas trinken, als sie einen Vertrag unterschrieben hatten. Die Verwandten eines Mannes haben es geschafft, ihn da rauszuholen, aber das ist ein Einzelfall. Ich denke, wenn sich unter den im Krieg gefangenen oder getöteten Russen eine große Zahl zentralasiatischer Bürger befunden hätte, hätten wir von ihren Angehörigen oder von der ukrainischen Seite davon erfahren.

Es heißt, dass in Jekaterinburg Migranten, die zur Verkehrspolizei gingen, um ihren Führerschein umschreiben zu lassen, inzwischen Vorladungen zum Einberufungsamt erhalten haben.

Dies betrifft russische Bürger, die einst als Migranten nach Russland kamen. Es handelt sich dabei um eine gefährdete Kategorie, und es wäre für diese Menschen definitiv sicherer, das Land zu verlassen. Dennoch ist es formal möglich, die Unterzeichnung eines Vertrags zu verweigern.

Einerseits hören wir migrationsfeindliche Äußerungen von Leuten wie Kabanow und Hinschtejn. Andererseits sagte Putin nach dem Terroranschlag in der Crocus City Hall, dass wir das Land ruinieren werden, wenn wir Menschen aufgrund ihrer Nationalität diskriminieren. Beruhigt Sie das nicht?

Ich würde nicht auf seine Worte hören. Putin sagt, was man von ihm hören will.

Wer soll das von Putin hören wollen? Gibt es in Russland einen gesellschaftlichen Wunsch nach Internationalismus, wo doch die Gesellschaft von Migrantenfeindlichkeit beherrscht wird?

In der Russischen Föderation herrscht zurzeit eine besondere schizophrene Stimmung. Von denselben Leuten hört man gleichzeitig Aussagen, die sich eindeutig widersprechen. Ständig schreiben mir Leute: „Du Mistvieh, du Schlitzauge, du bist ein koreanischer Nazi“. Erst neulich habe ich so etwas bekommen. Wie interpretieren Sie das? Wenn jemand jemanden als Nazi bezeichnet, muss er davon ausgehen, dass er „Nazismus“ für etwas Schlechtes hält. Aber dann sollte er selbst keine Nazi-Terminologie verwenden. Dafür gibt es kein Verständnis.

Es ist wie der alte Witz: „Ich mag keinen Rassismus und ich mag keine Neger…“.

Diese Schizophrenie erkenne ich oft auch bei [Wladislaw] Posdnjakow. Er ist ein kremlfreundlicher Nazi-Blogger, der von den Sicherheitsdiensten infiltriert wird, und ehemaliger Gründer der extremistischen Bewegung „Männlicher Staat“ [Muzhskogo gosudarstwa]. Dasselbe gilt für Kabanow, der sich für einen Kirgisen einsetzte, der auf der Seite Russlands gegen die Ukraine kämpfte.

Wer ist unter dem Gesichtspunkt eines solchen gespaltenen Bewusstseins ein „guter Migrant“?

Das ist ein Nichtslawe, der versucht, Russisch zu sprechen, der nicht dem radikalen Islam anhängt, der nach Russland kam und einen Vertrag mit dem Verteidigungsministerium unterzeichnete und dann die Staatsbürgerschaft erhielt. Er erklärt sich freiwillig und bewusst bereit, seine frühere Identität aufzugeben und die Rolle des „jüngeren Bruders“ unter dem „älteren“ zu übernehmen.
Eine solche Person gilt als Russe, dem man vertrauen kann. Ist er aber vor Diskriminierung sicher? Solange er einer sichtbaren Minderheit angehört auf keinen Fall.

Abgesehen vom Druck, einen Vertrag mit dem Verteidigungsministerium zu unterzeichnen, sind dann das Erlernen der Sprache des Aufnahmelandes und die Nichtzugehörigkeit zum radikalen Islam schlechte Dinge?

Das hängt davon ab, was als radikale religiöse Bewegung angesehen wird. Es gibt nämlich viele Strömungen, die nur in Russland als radikal gelten.

Mir ist klar, dass es im Moment schwierig ist, Vorhersagen zu treffen, aber wie sehen Sie Russland im Jahr 2030 in Bezug auf Migranten?

Russland erlebt derzeit einen unumkehrbaren Verlust an jungen Männern, die unweigerlich irgendwie ersetzt werden müssen. Es ist unwahrscheinlich, dass Menschen von irgendwo anders als aus Zentralasien nach Russland kommen werden. Der Anteil der männlichen Migranten in Russland wird in dem von Ihnen genannten Zeitraum wachsen und höher sein als heute. Höchstwahrscheinlich wird auch der Anteil der gemischten Familien mit Migranten und russischen Staatsbürgern zunehmen.

Ich kann nicht sagen, wie die Situation innerhalb des Landes aussehen wird. Die nationalistische Gemeinschaft möchte, dass sich die Migranten assimilieren und die Idee der „russischen Welt“ übernehmen, dass sie sich an Russland binden und wie neue russische Bürger denken. Ich nehme einen solchen Wunsch neutral wahr. Das Problem für die Nationalisten besteht darin, dass dies möglich wäre, wenn die russische Kultur ein kultureller und wertebezogener Bezugspunkt für die Menschen wäre, die hierherkommen. Im Moment gibt es so etwas aber nicht.

Warum kann es jetzt nicht mehr ein Bezugspunkt sein?

Weil die Menschen, wenn sie nach Russland kommen, etwas sehen, das der Propaganda im Fernsehen widerspricht. Jetzt gibt es eine große Anzahl von Menschen aus Tadschikistan, die auf der Seite Russlands am Krieg teilnehmen und dafür die Staatsbürgerschaft erhalten möchten. Ich weiß nicht, was sie dazu motiviert. Aber ich bin mir sicher, dass sie, wenn sie nach Russland kommen, keine Russen in dem Sinne werden wollen, wie es die Vertreter rechtsradikaler Gruppierungen gerne hätten. Sie werden ihre eigene Kultur als etwas Wertvolleres empfinden als die Kultur des Gastlandes. Damit Akkulturation und Assimilation stattfinden können, ist es notwendig, dass die Neuankömmlinge die Kultur als einen Wertbezugspunkt wahrnehmen. Aber so etwas gibt es nicht. Russland kann heute nichts anbieten, was Begeisterung auslösen würde.

Worauf führen Sie das zurück? Auf die Ungerechtigkeit, die es in Russland gibt? Darauf, dass man mit der „Taufe zum Russen“ kein besseres Leben führt? Und weil man vor allem nicht weiterkommt, weil ein sozialer Aufstieg auch unter den Russen nicht funktioniert?

Es ist „nicht cool“. Es ist möglich, aber es ist nicht cool. Ich kann die Eindrücke von Menschen aus der Ostukraine beschreiben, die 2014 nach Russland gezogen sind und mit denen ich gesprochen habe. Sie haben Russland vorher als ein großes, tolles Land wahrgenommen, in dem alles viel besser und fortschrittlicher ist.

Aber als sie im Gebiet Twer kamen, sahen sie etwas ganz anderes. In der Stadt, in der sie sich befanden, sind die Straßen nicht gereinigt, es gibt keine normalen Verkehrsmittel, es ist unmöglich, dorthin zu gelangen. Das Leben dort ist schlimmer als in ihrer „armen Ukraine“. Gleichzeitig schilderten sie, wie das Sozialversicherungssystem in der Ukraine vor dem Krieg aussah. Und ehrlich gesagt, war ich ein wenig neidisch.

Ja, vor dem Krieg war die Ukraine mit weniger Mitteln ein sozialerer Staat als Russland. Zum Beispiel waren die öffentlichen Verkehrsmittel und die Versorgungseinrichtungen dort billiger. Und in der Ukraine musste man nicht jedes Jahr seinen Anspruch auf Sozialleistungen nachweisen, wie in Russland.

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Im Allgemeinen sind die Menschen enttäuscht. Und ich vermute, dass die Situation für die Zentralasiaten ähnlich ist. Aber nicht jeder wird zugeben, dass er in ein Land gekommen ist, das ihn enttäuscht hat. Es bedeutet, zuzugeben, dass man einen großen Fehler im Leben gemacht hat. Einen Fehler, den man entweder erst Jahre später oder gar nicht mehr ausbügeln kann oder sogar noch an seine Kinder weitergibt. Nicht jeder ist für ein Eingeständnis dieses Ausmaßes bereit.

Ich glaube immer noch, dass der Grund, warum „es nicht cool ist, Russe zu sein“, umfassender ist als der pure Vergleiche der Lebensqualität. Und ich würde gerne verstehen, was es ist. Liegt es daran, dass den Russen die Bürgerrechte und Freiheiten vorenthalten werden? Oder liegt es daran, dass die russische Identität, wie behördennahe Politikwissenschaftler in Russland schreiben, ein imperiales Konstrukt ist? Und da das Imperium, in dem diese Identität geschaffen wurde, untergeht, haben Migranten keine Lust, Passagiere der Titanic zu werden?

Ich würde immer noch nicht sagen, dass „Russischsein uncool ist“, sondern eher, dass „Russland kein kultureller und wertebezogener Bezugspunkt ist“. Vor allem ist es kein solcher Bezugspunkt für ein intellektuell anspruchsvolles Publikum.

Dass dies auf den Niedergang des Imperiums zurückzuführen ist – da stimme ich zu. Mit dem allgemeinen Kult der Vergangenheit in Russland, der auch von der Propaganda aufgezwungen wird, gibt es keinen Appell an die Zukunft. Das ist wahrscheinlich der Grund, warum der Kult um die UdSSR in den postsowjetischen Ländern so stark mit den älteren Menschen verbunden ist.

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Es ist schwer zu sagen, ob das moderne Russland eine konventionelle „Titanic“ ist. Kurzfristig auf jeden Fall, ja. Aber in der Zukunft hat Russland alle Möglichkeiten, ein normales Land zu werden. Außerdem habe ich durch meine Reisen in verschiedene Länder begonnen, einige der Möglichkeiten und Bedingungen in Russland besser zu erkennen. In Istanbul brauchte ich einmal eine 24-Stunden-Apotheke. Als ich auf dem Stadtplan danach suchte, stellte sich heraus, dass es in der ganzen Stadt nur drei gab… Um besser zu werden, darf Russland jedoch nicht an den Veränderungen zugrunde gehen, die im Zuge des Regimewechsels auf es zukommen werden.

Also Russland in ein paar Jahren. Die Migranten sind einerseits in ihren Rechten beeinträchtigt, und andererseits gibt es immer mehr von ihnen. Dennoch wollen sie nicht „in die russische Welt hineingetauft“ werden, und möchten eine nicht-russische Identität beibehalten. Aber das ist ein klarer Konflikt, der irgendwie gelöst werden muss.

Ich glaube nicht, dass die Niederlage der Rechten lange anhalten wird. Diese Episode wird mit einem Regimewechsel enden – zumindest hoffe ich das. Aber das Szenario von mehr Migranten passt den rechten Gruppierungen und der rechtsgerichteten politischen Elite sicher nicht. Und wir wissen nicht, was sie tun werden, wenn sie versuchen, diesen Zuzug aus dem Ausland zu verhindern.

Wiktor Muchin für Kloop

Aus dem Russischen von Giulia Manca

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