Entscheidungsträger aus Politik und Wirtschaft stehen vor einem Mammutprojekt: dem Ausbau des Mittleren Korridors von China, über Zentralasien und den Südkaukasus bis nach Europa. Wie stehen die Chancen, die Transportroute in kürzester Zeit nachhaltig und wettbewerbsfähig zu machen? Darüber sprachen wir mit Jandos Kegenbekov, Dekan der Fakultät für Ingenieurwissenschaften und Informationstechnologie an der Deutsch-Kasachischen Universität in Almaty.
Der Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 hat nicht nur die Wirtschaftspolitik vieler Nationen auf den Kopf gestellt, sondern auch den Transport- und Logistikbereich. Es liegt im beidseitigen Interesse Chinas und des Europäischen Wirtschaftsraumes, Waren aus der zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt auch weiterhin nach Europa zu liefern. Jedoch haben der russische Angriff und die daraus resultierenden Sanktionen die Nutzung des Nördlichen Korridors, also über das Gebiet der Russischen Föderation, unattraktiv gemacht.
Seit dem 5. Dezember 2022 gilt das Embargo der EU für Rohölimporte aus Russland auf dem Seeweg. Kasachstan exportiert rund 80 Prozent seines Erdöls oder 53,1 Millionen Tonnen über südrussische Hafenstadt Noworossijsk. Das ursprüngliche Ziel des Mittleren oder auch Transkaspischen Korridors bestand darin, die Transportzeit zwischen China und Europa auf bis zu zwölf Tage zu verkürzen und dadurch einen Konkurrenzvorteil gegenüber dem Nördlichen Korridor (19 Tage) oder der Seeroute (22 bis 39 Tage) zu schaffen. Das zurzeit wohl größte zugrundeliegende Problem ist die Infrastruktur im Eisenbahn- und Schifffahrtssektor. Dies betrifft nicht allein Kasachstan, sondern auch Georgien und Aserbaidschan.
Zukunftsaussichten und Abwägungen
Die von der EBRD (European Bank for Reconstruction and Development) durchgeführte und von der Europäischen Kommission geförderte Studie zu nachhaltigen Transportwegen zwischen Europa und Zentralasien vorgestellt. Sie identifiziert kritische Bereiche bei der Entwicklung des Mittleren Korridors und gibt Handlungsempfehlungen.
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Als vereinsgetragene, unabhängige Plattform lebt Novastan vom Enthusiasmus seiner ehrenamtlichen Mitarbeiter:innen – und von eurer Unterstützung!In der Studie wurden bestehende und potenzielle neue Korridore bewertet, die die Verkehrsverbindungen zwischen den fünf zentralasiatischen Republiken und dem Transeuropäischen Verkehrsnetz (TEN-V) der EU gewährleisten würden. Das TEN-V verbindet die 27 EU-Mitgliedstaaten, umfasst aber auch die westlichen Balkanstaaten, die Länder der Östlichen Partnerschaft (einschließlich des Kaukasus) und die Türkei. Darüber hinaus werden 33 Investitionen in die harte Infrastruktur in der gesamten Region (u.a. Modernisierung bestehender Schienen-/Straßenverbindungen, zusätzliche Schienen-/Straßenverbindungen, Erweiterung der Hafenkapazitäten) sowie 7 koordinierte Aktionen für weiche Konnektivitätsmaßnahmen wie Handelserleichterungen und Digitalisierung aufgelistet. Zu den vorrangigen Projekten gehören die Modernisierung der Containerumschlaganlagen und die Entwicklung eines Containerterminals im Hafen von Aqtau, die Doppelspurigkeit und Elektrifizierung des kasachstanischen Eisenbahnnetzes sowie der Ausbau und die Sanierung wichtiger Straßen.
Allein 2022 erhöhte sich das Transportvolumen über den Mittleren Korridor um 33 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Für diese steigende Menge an Transportgütern sei das Kaspische Meer aber nicht ausgelegt, was zu einer Überlastung der Route führen könnte. Die EBRD sieht vor, in den nächsten 2-3 Jahren bis zu 1,5 Milliarden Euro in die Infrastruktur des Transkaspischen Korridors zu investieren.
Ausbau des Informationssektors und Digitalisierung
Eine große Baustelle ist das Problem des stockenden Informationsaustausches. Die Digitalisierung des multimodalen Daten- und Dokumentenaustauschs. Mithilfe der Rechtsinstrumente der Vereinten Nationen soll ein fließender Datenaustausch bis 2027 sichergestellt werden.
„Das Ziel, einen fließenden Datenaustausch bis 2027 zu gewährleisten, ist sehr ambitioniert, aber realisierbar“, sagt Jandos Kegenbekov, Dekan der Fakultät für Ingenieurwissenschaften und Informationstechnologie an der Deutsch-Kasachischen Universität in Almaty. „Nichtsdestotrotz sind Transparenz und Schnelligkeit von Nöten. Bislang wurden mehrere IT-Plattformen zur internationalen Koordination im Logistik- und Transportsektor eröffnet. Der Ausbau ist im Gange und alle Beteiligten arbeiten mit Hochdruck daran. Der Ausbau des Mittleren Korridors liegt nicht allein im Interesse der Republik Kasachstan. Auch Länder wie Aserbaidschan und verschiedene europäische Staaten räumen dem Korridor eine hohe Priorität ein.“ Nicht außer Acht zu lassen, ist ebenfalls Chinas „One Belt – One Road“-Initiative, die für die Zukunft des Mittleren Korridors von entscheidender Bedeutung sei.
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Der Regierung Kasachstans liegt viel daran, den Mittleren Korridor schnellstmöglich auszubauen, um die Wettbewerbsfähigkeit Kasachstans zu stärken. „Die Erfahrungen anderer Länder im Bereich der Digitalisierung sind für Kasachstan von Vorteil. Aber Kasachstan bietet ebenfalls einige Positivbeispiele, zum Beispiel die offizielle Dienstleistungsplattform eGov. Es ist zu erwarten, dass sie Kasachstan entscheidend dabei helfen wird, den Datentransfer zu beschleunigen und den allgemeinen Güterverkehr effizienter und verlässlicher zu gestalten“, so Kegenbekov weiter.
Auf Regierungsebene ist das Problem unlängst erkannt worden. „Die weitere Integration der Transport- und Logistiksysteme Zentralasiens und Europas bleibt eine dringende Aufgabe“, beteuerte Präsident Qasym-Jomart Toqaev während des Staatsbesuchs von Bundeskanzler Scholz in Astana im September 2024. Kasachstan setzt große Hoffnungen in Deutschland als einen der wichtigsten internationalen Partner. Der LPI (Logistics Performance Index) ist ein von der Weltbank entwickeltes Instrument, das Auskunft darüber gibt, wie effizient Güter in und innerhalb eines Landes transportiert werden können. Während Deutschland auf Platz 3 steht, rangiert Kasachstan auf Platz 79. Der Ausbau des Mittleren Korridors sei eng mit einer wirksamen Zusammenarbeit handelspolitischer und wirtschaftlicher Prozesse verbunden, so Kegenbekov.
Investitionen und Planungssicherheit
Die Anbindung an das Trans-Europäische Transportnetz (TEN-T) und die „Global Gateway“-Strategie würde dem Land große Investitionsmöglichkeiten für ausländische Unternehmen bieten. Davon würde auch die deutsche Industrie profitieren. Durch den Ausbau des Mittleren Korridors verkürze sich allein schon die Energielieferstrecke drastisch. Im Transport- und Logistiksektor haben die Deutsche Bank und die Eisenbahngesellschaft Kazakhstan Temir Zholy (KTZ) Vereinbarungen mit anderen privaten Eisenbahngesellschaften Vereinbarungen zur Verbesserung des Güterverkehrs getroffen.
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Es wird ersichtlich, dass Planungssicherheit und Transparenz zwei wichtige Aspekte sind. Um die Lagerbestände besser verwalten und die Handelszyklen planen zu können, müssen Unternehmen wissen, wie lange ihr Container bis zum gewünschten Zielort braucht und wie viel der Transport kosten wird. Moderne Transportmittel und eine effiziente Logistik sind unabdingbar, um die Kosten zu senken, Transitzeiten zu verkürzen und letztlich die Binnenstaaten Zentralasiens in die Weltwirtschaft zu integrieren. Koordinationsplattformen für den Mittleren Korridor, wie die im Oktober 2024 in Turkmenistan abgehaltene, geben allen auf der Route liegenden Nationen die Gelegenheit, sich über Missstände und mögliche bottlenecks (also Engpässe) auszutauschen. Nachhaltigkeit, Effizienz und Wettbewerbsfähigkeit sind Kriterien, an denen es sich mit bereits bestehenden Routen zu messen gilt.
Konfliktpotenzial
Der Mittlere Korridor ist auch ein Katalysator für erneuerbare Energien. Von den rund 600.000 Kilometer Eisenbahnstrecke in Kasachstan sind lediglich etwa 6.000 elektrifiziert. Die Notwendigkeit, diese Strecken zu modernisieren und nachhaltig auszubauen, wurde unlängst erkannt. Auch die Seeschifffahrt über das Kaspische Meer soll durch neue Technologien nachhaltig und umweltschonend gestaltet werden.
Bei dem ambitionierten Projekt des Ausbaus des Mittleren Korridors gehen die gemeinsamen Interessen über die Privatinteressen hinaus. Dazu zählen Fragen wie die, ob der Transport von fossilen Brennstoffen aus Kasachstan über den Südkaukasus nach Europa Einfluss auf den Gas- und Ölpreis in Aserbaidschan haben würde. „Es muss eine Lösung auf politischer Ebene gefunden werden“, bekräftigt Kegenbekov. Demnach seien verstärkt diplomatische Bemühungen notwendig, um alle Parteien zufriedenzustellen.
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„Es ist auch wichtig, die Wettbewerbsfähigkeit des Mittleren Korridors auf lange Sicht zu gewährleisten“, betont Kegenbekov. „Aufgrund der Sanktionen gegen die Russische Föderation sind Handelswege über Russland zwar zurzeit nicht denkbar, doch werden sie in derzeit noch nicht absehbarer Zeit wieder genutzt werden. Das Ziel ist es nun, die Transportwege über Kasachstan so attraktiv zu machen, dass sie auch nach der Öffnung Russlands nicht an Bedeutung verlieren.“
Dafür müsse ein nachhaltiges Wachstum gewährleistet, Infrastruktur und Kapazitäten weiter verbessert sowie die Abläufe für alle Beteiligten transparent gemacht werden. Die infolge des Krieges in der Ukraine gestiegene Nachfrage nach dem Mittleren Korridor stellt Investoren und weitere Akteure in Kasachstan vor die entscheidende Frage: Bleibt die Nachfrage weiterhin hoch und investiert man in ein langfristig ausgelegtes Transportnetz, um dauerhaft auf den Mittleren Korridor zu setzen?
Anton Genza für Novastan
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