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Ländlicher Raum Xinjiangs: Interview mit Anthropologe Rune Steenberg

In den sozialen Netzwerken sind die Bilder von uigurischen Gefangenen kürzlich den malerischen Straßen von Kaschgar und grünen Landschaften gewichen. Hinter diesen Bildern setzt Peking seinen Plan zur Wiederbelebung des ländlichen Raums des uigurischen Autonomen Gebietes Xinjiang weiter um. Der dänische Anthropologe Rune Steenberg erklärt Novastan, was dies für die Bevölkerung der Region bedeutet.

Bild einer Bäuerin in Aykol in der autonomen Region Xinjiang der Uiguren, die die Vorzüge des Plans zur „Wiederbelebung des ländlichen Raums” in der Region lobt, Photo: Chinesische Regierung.

In den sozialen Netzwerken sind die Bilder von uigurischen Gefangenen kürzlich den malerischen Straßen von Kaschgar und grünen Landschaften gewichen. Hinter diesen Bildern setzt Peking seinen Plan zur Wiederbelebung des ländlichen Raums des uigurischen Autonomen Gebietes Xinjiang weiter um. Der dänische Anthropologe Rune Steenberg erklärt Novastan, was dies für die Bevölkerung der Region bedeutet.

Bis 2027 will China die Lebensqualität und die landwirtschaftliche Produktion in seinen ländlichen Gebieten verbessern, indem es sich auf fünf Säulen stützt: auf die industrielle, kulturelle, organisatorische, ökologische und menschliche Revitalisierung.

Um die Herausforderungen dieses 2018 gestarteten Plans zur Wiederbelebung des ländlichen Raums im Gebiet Xinjiang besser zu verstehen, hat Novastan Rune Steenberg, Anthropologe an der Palacký-Universität in Olomouc in Tschechien, interviewt. Auf Basis seiner Erfahrung vor Ort veröffentlichte er zahlreiche Arbeiten über das wirtschaftliche und soziale Leben der uigurischen Gemeinschaft.

„Seit 2017 konnte ich für meine Forschungen nicht mehr in die Region zurückkehren”, gesteht Steenberg. Daher ist er nun Teil einer von der Europäischen Union unterstützten Initiative, die darauf abzielt, anthropologische Fernforschungsmethoden zu entwickeln, um den zunehmend eingeschränkten Zugang von Forschenden zu bestimmten Gemeinschaften zu kompensieren.

Ein strategisches Gebiet für die Wiederbelebung des ländlichen Raums

Die einzigartige Geografie und die weitläufigen landwirtschaftlichen Flächen Xinjiangs machen die Region zu einem Schlüsselgebiet, um die von China angestrebte Ernährungssouveränität zu erreichen, aber auch um neue Technologien einzuführen.

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Zwischen Bergen, Oasen und endlosen Feldern bietet die Region eine ideale ökologische Vielfalt, um technologische Innovationen zu testen. Im Juli 2025 beleuchtet beispielsweise eine Untersuchung der amerikanischen Agentur Bloomberg die Einrichtung von Datenspeicherzentren für künstliche Intelligenz in der Region.

Rune Steenberg stellt eine „verstärkte Mechanisierung im weitgehend staatlich verwalteten Agrarsektor“ fest. Die chinesische Nachrichtenagentur Xinhua hebt insbesondere den Einsatz von Drohnen zum Ausbringen von Pestiziden auf Baumwollfeldern hervor. Trotz einer offensichtlichen Optimierung der landwirtschaftlichen Praktiken „verlieren die Einheimischen jedoch nach und nach ihre Landbesitzrechte, die von staatlich finanzierten Genossenschaften übernommen werden, und ziehen es oft vor, in Fabriken zu arbeiten“, erklärt der Anthropologe.

Zwischen technologischer Entwicklung und Assimilation

Die Industrialisierung und technologische Entwicklung der Region geht mit einer Migrationswelle von Han-Chines:innen aus allen Teilen des Landes einher. Ein Prozess, der laut Rune Steenberg in den 1950er Jahren seinen Anfang nahm. Seiner Meinung nach hat die chinesische Regierung mehrere Ziele: die Migration nach Xinjiang zu fördern, um der uigurischen Mehrheit entgegenzuwirken, die Region in den sozialen Netzwerken zu bewerben und ihr Image aufzupolieren. Schließlich geht es darum, einen Umzug nach Xinjiang als Ausweg, als Hoffnung auf ein neues Leben für chinesische Bauern aus anderen Regionen darzustellen.

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Für den Forscher ist China kein Einzelfall. Er sieht in der „Assimilationspolitik” in Xinjiang ein Beispiel für „unbewaffnete Kolonialisierung”. „Ein Prozess, der auch in Palästina oder in Algerien während der französischen Kolonialisierung zu beobachten war”, so Steenberg. Die Einführung neuer Technologien erfolge ohne die Zustimmung der lokalen Bevölkerung, deren einzige Wahl darin bestehe, mitzumachen oder aufzugeben.

Eine komplexe und kontrastreiche Realität

Rune Steenberg betont, dass die Reaktionen innerhalb der uigurischen Gemeinschaft vielfältig sind. „Die jüngeren Generationen sehen auch die Möglichkeit, sich aus ihrer Lage zu befreien, indem sie die Bedingungen der Regierung akzeptieren“, die beispielsweise ein vorteilhaftes Gesundheitssystem und Subventionen anbietet.

Sich nur auf die Internierungslager zu konzentrieren, sei ebenso verkürzt wie zu behaupten, dass in der Region alles in Ordnung sei, erklärt der Forscher. Es sei wichtig zu verstehen, dass die Realität nicht nur schwarz oder weiß sei und dass innerhalb der uigurischen Bevölkerung je nach sozialer Schicht und Beruf unterschieden werden müsse.

„Die Uigur:innen und die Han stehen nicht in einem direkten Gegensatz zueinander“, betont Steenberg. Für ihn steht die Beziehung der Regierung zur Bevölkerung im Mittelpunkt des Problems.

Ein weiterer wichtiger Pfeiler des Plans zur Wiederbelebung des ländlichen Raums in Xinjiang ist die Entwicklung des Tourismus. Laut der Global Times haben die chinesischen Behörden in diesem Jahr einen Plan entwickelt, der darauf abzielt, bis 2030 mehr als 400 Millionen Besucher:innen pro Jahr zu empfangen und Einnahmen in Höhe von 1 Billion Yuan (120 Milliarden Euro) zu erzielen, was laut Steenberg mit einer „Folklorisierung” der uigurischen Kultur einhergeht. Bestimmte Merkmale werden inszeniert oder sogar verfälscht. „Hier geht es nicht um eine vollständige Auslöschung der uigurischen Kultur, sondern eher um eine Auswahl und Instrumentalisierung bestimmter Aspekte”, erklärt der Anthropologe. Er verweist beispielsweise auf die kürzliche Eröffnung neuer Museen und Ausstellungen, die das uigurische Erbe ausschließlich mit der chinesischen Geschichte in Verbindung bringen.

Die Realität hinter den Kameras und dem Lächeln bleibt schwer zu fassen, erinnert Steenberg. Die chinesische Bevölkerung, ob Uigurin oder Han, bewegt sich zwischen individuellen Bestrebungen und staatlicher Politik. Weit entfernt vom vorherrschenden dichotomischen Diskurs ist die Realität der ländlichen Wiederbelebung in Xinjiang komplex und manchmal widersprüchlich.

Lisa Ducher für Novastan

Aus dem Französischen von Michèle Häfliger

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