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Die Zukunft der Vergangenheit – Urbanität in Zentralasien: Taschkent, Bischkek

Um diese Facetten zentralasiatischer Urbanität zu diskutieren, versammelten sich am 20. November circa 30 ZuhörerInnen zur Online-Veranstaltung „Die Zukunft der Vergangenheit – Urbanität in Zentralasien: Taschkent, Bischkek“.

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Taschkent bei Nacht
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Um diese Facetten zentralasiatischer Urbanität zu diskutieren, versammelten sich am 20. November circa 30 ZuhörerInnen zur Online-Veranstaltung „Die Zukunft der Vergangenheit – Urbanität in Zentralasien: Taschkent, Bischkek“.

Perspektiven auf die Zukunft, Wohnen in der Vergangenheit? So lässt sich nicht selten der Eindruck zusammenfassen, den Straßenzüge in den zentralasiatischen Hauptstädten vermitteln. Neben Plattenbauen in unterschiedlichen Zuständen gibt es Wohnviertel bestehend aus privaten Häusern um Innenhöfe mit Obstbäumen herum, in denen das Zusammenleben nach traditionellen patriarchalen Regeln organisiert wird. Zudem fallen Prestigebauten auf, die reichlich futuristisch anmuten und gleichermaßen aus der Vergangenheit wie auch der Gegenwart stammen.

Um diese Facetten zentralasiatischer Urbanität zu diskutieren, versammelten sich am 20. November ca. 30 ZuhörerInnen digital. Moderiert von Phillip Schroeder (Novastan; Georg-August-Universität Göttingen) begann der zweistündige Abend mit Eingangsvorträgen von Mariya Petrova von der Technischen Universität Darmstadt über Taschkent und David Leupold vom Leibnitz Zentrum Moderner Orient Berlin über Bischkek. (Der ursprünglich geplante Vortrag von Kishimjan Osmonova aus Berlin zu Astana musste krankheitsbedingt entfallen.) Beide Referierende thematisierten insbesondere die andauernde Wirkmächtigkeit sowjetischer Bau- und Wohnprojekte, den unterschiedlich ausfallenden Bezug auf Vergangenheit und Zukunft sowie die anhängigen Trenn- und Konfliktlinien: Diese unterschieden zwischen einer angeblichen Rückständigkeit und Moderne und verliefen zwischen den staatlichen beziehungsweise öffentlichen Initiativen und dem Widerstand mancher Teile der Gesellschaft.  

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Viele der bis heute stehenden Wohnhäuser stammen aus der Regierungszeit Nikita Chruschtschows, der sich spätestens mit seiner sogenannten „Geheimrede“ 1956 die Macht gesichert hatte. Im Gegensatz zu Stalinzeit fokussierte die sowjetische Regierung von nun an den Konsumbedürfnissen ihrer BürgerInnen und in dieser Zeit entstanden unionsweit Wohnhäuser, die ein gewisses Maß an Heimeligkeit ermöglichten, wie sich beide ReferentInnen einig waren. Vielfach nostalgisch besungen und von außen eher unansehnlich stehen die sogenannten Chruschtschowkas als materielle Basis auch in Zentralasien für Normalität und für gemeinsame Erfahrungen und Affektionen über nationale Grenzen hinweg. Sie waren, wie Leupold es formulierte, „weniger ein Betonalptraum der grauen Eintönigkeit oder ein Denkmal des Totalitarismus […], sondern ein Ort der realen Interaktionen, der Intimität und auch der Gemütlichkeit.“ Als Typenprojekte schufen sie Mikrorayons (= Großwohnsiedlungen) mit Stadtvierteln oder Nachbarschaften, in denen der gesamte Alltag organisierbar sein sollte. Und sie banden Zentralasien auch architektonisch in die Sowjetunion ein und lösten die pompöse klassizistische Bauweise des Stalinismus ab, die nur von kurzer Dauer gewesen war. In der Konsequenz stehen in Taschkent heute (alte) Privathäuser und das „Leben auf der Etage“ (Petrova) nebeneinander, wenn sie nicht gar aufeinandertreffen.

Über den Klassizismus der Stalinperiode in Taschkent aber auch durch die Neuordnung Bischkeks wurden die stalinistischen (All-)Machtfantasien auch architektonisch deutlich: Während Bischkek schachbrettartig angelegt wurde, sollte Taschkent als zentralasiatische Hauptstadt einen Vorzeigecharakter erhalten, wie Petrova erläuterte. Die zentral geplanten Bauprojekte mit orientalischen Stilelementen, die klassizistisch verarbeitet worden waren, gingen mit dem Abriss der Altstadt einher, da diese in den Augen der sowjetischen Machthaber symbolisch für die angebliche Rückständigkeit der Region und der lokalen Lebensweise stand. Der Zweite Weltkrieg und die vielen Evakuierten beziehungsweise Flüchtlinge beendeten diese Bauphase, da nun alle Ressourcen an die Front gingen, während sich die Wohnsituation vor Ort verschärfte.  

Neben stalinistischem Klassizismus, Chruschtschowkas und den Versuchen, Bischkek erbebensicher zu machen, zeigen die sowjetischen Zukunftsvisionen, die Leupold über propagandistische Comics visualisieren konnte, dass die zentralasiatischen (Haupt-)Städte Experimentierräume waren. In diesen sollte eine sowjetische Moderne geschaffen werden und die Stadtplaner konnten ihre Vorstellungen fast ex nihilo umsetzen. Die Spuren dieser vergangenen sowjetischen Visionen sowie gegenwärtige Moderneprojekte lassen sich heute nebeneinander, zum Teil sogar aufeinander finden und machen die Städte zu Palimpsesten. Gleichzeitig zeigt sich, dass ‚die‘ Vergangenheit zu einer mobilisierenden Kraft wurde – und bis heute ist: Sei es durch die machtpolitische Vorstellung, dass die Vergangenheit durch eine Leere gekennzeichnet ist, die es zu füllen gilt; bzw. dass es die physischen Relikte der Vergangenheit zu zerstören gilt; oder sei es durch ein Fortwirken bestimmter Entscheidungen wie z. B. die Anlage von Straßen oder die Erbbebensicherheit; oder sei es durch eine Anspruchshaltung bestimmter Bevölkerungsschichten auf zum Beispiel infrastrukturelle Versorgung, die auf vergangene Erfahrungen rekurriert.

Manche Auseinandersetzung in der Gegenwart mutet daher wie eine Wiederholung der Geschichte an, wie das Beispiel Taschkent laut Petrova zeigt: Die unter anderem durch Korruption bedingte Verschmelzung von wirtschaftlichen und staatlichen Akteuren erschwert den Widerstand gegen neue Bauprojekte, die ohne Beteiligung der AnwohnerInnen vorangetrieben werden. Politische Entscheidungen forcieren dabei die Vereinzelung und die Ohnmacht der Bevölkerung, wenn zum Beispiel die Registrierung von NGOs erschwert wird. Demgegenüber können die Entwicklungen der Vergangenheit dem Widerstand aber auch zugutekommen: Da, wo die BewohnerInnen über die Chruschtschowkas und die sie verbindenden Höfe Kontakte knüpfen, sich organisieren und verschworene Gemeinschaften bilden konnten, haben sie Chancen in der Auseinandersetzung mit der Obrigkeit.

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Beide ReferentInnen waren sich einig, dass die Chruschtschowsche Wohnpolitik, auch wenn der Ergebnisse von außen betrachtet als reichlich unansehnlich gelten, durchaus positive Pfadentwicklungen mit sich gebracht hat: Zum einen ermöglichte sie der Bevölkerung erschwinglichen Wohnraum – auch wenn im Detail strittig blieb, inwieweit das Versprechen auf infrastrukturelle Versorgung von staatlicher Seite eingelöst wurde. Zum anderen bot sie der durch Krieg und Terror gebeutelten Sowjetbevölkerung einen Rückzugsort, der aber auch Ausgangspunkt für kollektives Handel sein konnte.

Die zentralasiatischen Entwicklungen erlauben einige Rückschlüsse für die sozialpolitischen Auseinandersetzungen in den westlichen Metropolen, auch wenn die AkteurInnen hier weitaus bessere Möglichkeiten haben, sich an den Staat zu wenden. Laut Leupold ist von einer Universalität des (Wohnbau-)Prozesses auszugehen, wie nicht zuletzt die in Südost-Berlin errichtete Gropiusstadt zeigt. Zudem gilt auch für diese und andere Wohnkomplexe, dass das Eigenbild der BewohnerInnen von (Plattenbau-)Siedlung in der Regel besser ist als das Fremdbild. Die Aussicht auf erfolgreichen Widerstand in den hier wie dort stark neoliberal angelegten Städten mit ihrer Tendenz zur Segregation seien dann größer, wenn der zu verteidigende Raum bereits gestaltet ist. Reine Brachen hätten es schwerer.

Die folgenden Videos zeigen die einleitenden Vorträge von David Leupold un Mariya Petrova.

Kerstin Bischl
Novastan.org

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