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„Tschingis Aitmatow prägt die Identität eines jeden Kirgisen“ – Eldar Aitmatow über das Werk seines Vaters

Tschingis Aitmatow gilt als der bedeutendste kirgisische Autor. Sein Sohn, Eldar Aitmatow, gab Novastan ein Interview über das Erbe seines Vaters in Kirgistan und der Welt.

Die Redaktion 

Eldar Aitmatow, Sohn des Schriftsteller Tschingis Aitmatow, im Interview mit Derya Soysal. Foto: Derya Soysal / Novastan.

Tschingis Aitmatow gilt als der bedeutendste kirgisische Autor. Sein Sohn, Eldar Aitmatow, gab Novastan ein Interview über das Erbe seines Vaters in Kirgistan und der Welt.

Anlässlich des Besuchs des Generalsekretärs der Organisation der Turkstaaten (OTS) veranstaltete die Botschaft der Kirgisischen Republik in Brüssel ein Iftar (Fastenbrechen während Ramadan; Anm. d. Ü.). Anwesend war auch Eldar Aitmatow, der Sohn des Schriftstellers Tschingis Aitmatow. Im Anschluss an das Abendessen gab er uns ein Interview, in dem er sowohl über das Werk seines Vaters sprach als auch über dessen Erbe und Platz im modernen Kirgistan.

Novastan: Welchen Platz nimmt Tschingis Aitmatow in Kirgistan ein?

Eldar Aitmatow: Diese Frage gehört an das kirgisische Volk gerichtet, aber ich werde versuchen, sie zu beantworten. Als sein Sohn ist die Frage auch ein Stück weit persönlich. Aber ich denke, dass jeder Kirgise meine Sicht auf die Dinge teilen wird.

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Für das kirgisische Volk ist Tschingis Aitmatow ein Held. Er ist wie Manas, die Figur aus dem „Manas“-Epos, die unser Volk gegründet hat, der erste Anführer, der die kirgisischen Stämme vereint und diese Nation geschaffen hat. Sicher, das ist eine epische Geschichte, eine Legende. Tschingis Aitmatow ist aber genauso eine heilige Figur, denn er prägt die Identität eines jeden Kirgisen.

Die ganze Welt liest Tschingis Aitmatow, aber in der Türkei werden seine Bücher sogar verfilmt, zum Beispiel wie die Serie „Al Yazmalımv„, eine Verfilmung der Liebesgeschichte Du meine Pappel mit dem roten Kopftuch. Das zeigt, dass er einen edlen Platz in der türkischen Welt einnimmt. Welches ist Ihr Lieblingswerk von Tschingis Aitmatow?

Mein Favorit ist der „Scheckige(r) Hund, der am Meer entlang läuft„, und an zweiter Stelle kommt „Die weiße Wolke des Tschingis Chan“. Das sind meine Lieblinge, sein mithin bedeutendstes Werk ist allerdings „Ein Tag länger als ein Leben“ (Originaltitel „Ein Tag ist länger als ein Jahrhundert“; Anm. d. Ü.).

Aitmatow spricht viel über die Fantasie und über die Leiden der Kirgisen während der Sowjetzeit. Was berührt Sie am meisten an seinem Werk?

Das wichtigste Element ist für mich der Humanismus. Aitmatow ist immer auf der Suche nach Sinn. Für einen Menschen, sagte er, gebe es nichts Schwierigeres, als jeden Tag Mensch zu bleiben. Laut ihm ist es erst das Bewusstsein, das uns zum Menschen macht und uns dazu bringt, jeden Tag besser zu werden.

Haben Sie ein noch ein zweites Lieblingszitat von Tschingis Aitmatow?

Er sagte, die Musik sei ein Geschenk Gottes an die Menschen, denn das menschliche Leben ist zu kurz und nur durch die Musik währt es immerfort.

Wie erinnern Sie sich an Tschingis Aitmatow als Vater?

Die schönste Erinnerung an meinen Vater? Ich glaube, das ist meine gesamte Kindheit. Ich eiferte ihm nach. Ich wollte so sein wie er. Er war ein Vorbild für mich, und zwar in jeder Hinsicht: ein Mann, der nachdenkt, ein Mann, der eine bessere Version seiner Selbst sein will. So hatte man zu sein, so hatte man sich zu verhalten. 

Ich versuche nach wie vor, zu sein wie er, zu denken wie er. Von ihm habe ich fürs Leben gelernt: Ich war das letzte Kind der Familie, das noch bei zu Hause wohnte. Als meine Geschwister das Haus fürs Studium verließen, blieb ich bei unseren Eltern. Denn in der kirgisischen Tradition hat sich der letzte Sohn um seine Eltern zu kümmern, auch nach seiner Heirat.

Das kirgisische Volk ist ein Volk der Imagination, das viel Fantasie hat. Hat Tschingis Aitmatow durch den Tunduk (offener Mittelteil der Jurte, der auf Nationalflagge abgebildet ist; Anm. d. Ü.) zum Himmel geschaut, um seiner Vorstellungskraft und seinen Träumen freien Lauf zu lassen?

Natürlich tat er das. Als er klein war, legte er sich in die Jurte, schaute hinauf und lauschte den Geschichten seiner Großmutter. Dabei stellte er sich natürlich eine Menge Dinge vor. Vorstellungskraft ist ein wichtiger Teil des kirgisischen Volkes: Wir erzählen einander viele Geschichten und Legenden. Tschingis Aitmatow ließ sich von all diesen Geschichten inspirieren, vor allem von denen, die ihm seine Großmutter erzählt hatte.

Warum ist Tschingis Aitmatow weltweit von Bedeutung?

Mancher Literaturkritiker stellt ihn in eine Reihe mit Alexander Puschkin oder Fjodor Dostojewski. Er ist nicht nur ein universeller Schriftsteller. Er ist auch Träger einer humanistischen Philosophie, die man in seinen Werken wiederfindet und spürt. Seine Werke liegen in über 185 Sprachen vor.

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Die Antwort ist daher einfach: Denkende Menschen kommen um seine Schriften nicht herum, denn sie sind universell. Tschingis Aitmatow geht philosophischen Fragen auf den Grund, über die Liebe, Gott und anderen existenziellen Fragen, die sich jeder Mensch im Laufe seines Lebens stellt. In seinem Werk finden seine Leser nicht nur Antworten auf diese universellen Fragen, sondern auch Inspiration. Aus diesem Grund wurde und wird er auf der ganzen Welt gelesen.

Welches Buch würden Sie empfehlen?

Der Schneeleopard (Orginaltitel: „Wenn die Berge stürzen“; Anm. d. Ü.)

Warum ist Kirgistan einen Besuch wert?

Der Welt ist dieses Land noch immer recht unbekannt, dabei hat es so schöne Berglandschaften wie kaum ein anderes. Ob beim Bergsteigen, Skifahren oder bei einem Ausflug an einen der höchstgelegenen und gleichzeitig tiefsten Seen überhaupt, den Ysyk-Köl – überall trifft man auf wunderschöne Landschaften.

Doch noch wichtiger sind die warmherzige Art, die Gastfreundschaft und die Freundlichkeit der Menschen. Die kirgisische Tradition besagt: Wer einen Gast empfängt, hat ihn wie einen König zu behandeln.

Derya Soysal für Novastan

Aus dem Französischen von Arthur Siavash Klischat

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