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Ohne Morgen auf der Lew Tolstoi-Brücke

Seit dem Ende der Sowjetunion existiert in Bischkek ein improvisierter Arbeitsmarkt. Arbeitslose kamen über die Lew Tolstoi-Brücke in die Hauptstadt Kirgistans, um Gelegenheitsgeld zu verdienen; doch für den Großteil von ihnen wurde dieser Ort zum dauerhaften Arbeitsplatz, ja zum Lebensmittelpunkt.

Lew Tolstoj Brücke Bischkek
Lew Tolstoj Brücke Bischkek

Seit dem Ende der Sowjetunion existiert in Bischkek ein improvisierter Arbeitsmarkt. Arbeitslose kamen über die Lew Tolstoi-Brücke in die Hauptstadt Kirgistans, um Gelegenheitsgeld zu verdienen; doch für den Großteil von ihnen wurde dieser Ort zum dauerhaften Arbeitsplatz, ja zum Lebensmittelpunkt.

Viele hier habe eine Fachausbildung, einige sogar einen höheren Abschluss. Besonders für die Akademiker unter ihnen ist die Arbeit schlecht bezahlt, doch sie sind auf dem Markt nicht gefragt. Und so warten sie an einen Baum gelehnt darauf, dass Autos mit dem Versprechen einiger Som halten.

Gelegenheitsarbeiter in Kirgistan

Abgenutzte Rucksäcke und Werkzeuge hängen wie Weintrauben in den Ästen der Bäume. Entlang der Straße stehen die Arbeitslosen zu fünft oder siebt, damit sie von der Straße aus besser sichtbar sind. Sie bauen sich zu beiden Seiten der Straße auf, einige rauchen. Ihre Blicke folgen den vorbeifahrenden Autos, in jedem von ihnen befindet sich ein potentieller Arbeitgeber.

Für uns ist Geld Zeit und Zeit ist Geld. Verstehen Sie? Also, ich habe Ihnen das gesagt, wie viel zahlen Sie mir? Für diese Worte müssen Sie auch zahlen. Mindestens 100 Som“, versucht es Azim, der Wortverkäufer, eine Flasche Bier in der Hand.

Seit Beginn des Jahres 2014 hat das Amt für Beschäftigung in Kirgistan 9.921 Anfragen von Arbeitgebern erhalten. Auf jeden dieser Arbeitsplätze kommen durchschnittlich 14 Arbeitssuchende. Ein Großteil der vakanten Stellen befindet sich in Bischkek, hier ist auch die Zahl der Bewerber pro Arbeitsplatz am geringsten.

150 Euro im Monat

Männer und Frauen sind gleich auf dieser Brücke. Anara kam vor sieben Jahren hierher. Sie ist ausgebildete Konditorin. Mit ihren grauen Haaren, dünn und zu einem Pferdeschwanz gebunden, wirkt sie nicht sehr gepflegt. Die große Brille in ihrem Gesicht gibt ihr das Aussehen einer Lehrerin. Ihre Hände sind zerfurcht, rissig wie Erde während einer Dürre. Anara ist 42, sie wirkt wie 60.

Es gibt verschiedene Arbeiten… wir arbeiten dort, wo man uns bezahlt. Im Sommer vor allem auf Baustellen. Im Winter sucht man sich eine feste Anstellung, zum Beispiel als Wachposten. Für 1500 – 2000 Som (ca. 20 – 28 Euro, Anm. d. Red.) machen wir Hausarbeiten. Man arbeitet, wo man kann, manchmal in Cafés. Über Bekannte kann man auf Hochzeiten servieren, die Tische decken, Geschirr spülen. Agenturen erheben Gebühren, sie behalten die Hälfte, der Rest bleibt für uns. In einem Monat verdient man um die 15.000 Som (ca. 200 Euro, Anm. d. Red.)“

Das Amt für Beschäftigung hat Büros in vier Stadtteilen Bischkeks. Sie alle bieten kostenlose Umschulungen an. Zur Auswahl stehen 50 Berufe. Eine Anfrage zu stellen ist relativ einfach: man muss kommen, ein Formular ausfüllen und bestimme Dokumente mitbringen – seinen Pass, sein Abschlusszeugnis sowie Beschäftigungsnachweise früherer Arbeitgeber. Aber hat sich diese Tür einmal geschlossen, kehrt kaum jemand dorthin zurück.

Niemand will das Strafgeld zahlen

Auf dem improvisierten Handelsplatz auf der Lew Tolstoi-Brücke zahlen die Arbeitnehmer weder Steuern, noch Beiträge für ihre Renten. Sie leben für den Tag, für einen Tageslohn und denken nicht an die Zukunft. Sie haben ihren Glauben an den Staat verloren. Hier gibt es keine festen Arbeitszeiten, jeder kommt wann er will, steht wo er will und mit wem es ihm gefällt. Vielleicht ist es das, was die Menschen hier anzieht: für sich zu arbeiten, ob aus dem Bedürfnis oder der Notwendigkeit.

Um 7 Uhr morgens findet man auf der Brücke Arbeiter für alle möglichen Bauarbeiten. Genauso sind auch um 19 Uhr noch Arbeiter dort und es halten Autos. Es stehen hier immer ungefähr 70 Personen, die einen kommen, die anderen gehen. Es ist auch eine Möglichkeit, sich die Zeit zu vertreiben und über das Leben zu sprechen.

– Ein Amt für Beschäftigung? Wo ist das? Wollen Sie sagen, Kirgistan habe ein Arbeitsamt? Das gibt es nicht. Das ist nur Fiktion. Die fahren hier nur vorbei, Arbeit haben sie keine. Im Gegensatz dazu kann man hier 2000 Som (ca. 28 Euro, Anm. d. Red.) am Tag verdienen.

– Hier kann man in einem Tag verdienen, was man bei denen in einem Monat verdient.
– Schwierig, aber was soll man machen? Man muss essen… man muss arbeiten…
– Und außerdem müssen wir die Polizei bezahlen, damit sie uns hier lassen und protegieren. Dort, sehen Sie, auf der anderen Seite stehen Polizisten.

Die Menschen in Uniform und die in abgetragener Kleidung, die „ruhig dreckig werden kann“, teilen sich dieses Territorium und jeder geht seiner eigenen Arbeit nach. Nur dürfen die fahrenden Arbeitgeber nicht entlang der Straße parken, das würde ein Bußgeld nach sich ziehen. Dieses Verbot verkompliziert die Situation der Arbeitssuchenden erheblich.

– Auf der anderen Seite der Straße gibt es mehr Kunden, die Autos halten dort öfter. Aber diese Polizisten auf der Straße! Die andere Straßenseite ist ein guter Platz. Die müssen hier weg, sie verhindern, dass wir arbeiten. Wer will schon ein Strafgeld zahlen?

Manchmal erhält man von den Arbeitgebern falsche Adressen.“

Der Ablauf einer Einstellung ist simpel. Der Arbeitgeber oder „Eigentümer“, wie man sie hier nennt, kommt in einem Auto an. Und der Schnellste erhält die Arbeit.

– Es gibt ein Gedränge und wer zuerst am Auto ist, fährt mit dem Eigentümer mit.

– Ja, der Erste. Derjenige, der zuerst mit ihm über die Arbeit spricht, wenn Sie so wollen. Manchmal wählt der Eigentümer auch selbst aus: nein, du passt nicht, du bist besoffen, du schielst, und du hinkst. Hey, du Junger, komm her! Und sie fahren davon. Selbst, wenn du als Erster kamst, aber dem Arbeitgeber nicht gefällst…. er entscheidet.

Die Einwohner der Stadt haben ihre Unzufriedenheit schon mehrmals zum Ausdruck gebracht – Orte wie dieser verunstalten das Gesicht der Stadt.

Vor fünf Jahren haben die Behörden versucht, auf der Brücke einen offiziellen Arbeitsmarkt zu etablieren. Sie schlossen ihn umgehend wieder, aufgrund mangelnder Effizienz. Weder Arbeiter noch Arbeitgeber wollten ihn nutzen. Sie sind ihren alten Handelsplatz gewohnt, und paradoxerweise fühlen sie sich auf ihm sicherer.

– Hier basiert alles auf Anstand. Mich hat noch niemand betrogen. Ich habe davon gehört: jemand verständigt sich auf einen Preis und später zahlt der Arbeitgeber gar nichts. Aber mir ist so etwas noch nicht passiert.

– Wir sind Freunde hier. Wenn man in einem Auto wegfährt schauen die Männer uns nach, notieren das Kennzeichen des Autos und die Telefonnummern.

– Manchmal werden Leute hier von Kasachen für Arbeit in Almaty angeheuert und von ihnen verraten. Die Kirgisen können dann nicht mehr zurück, weil man ihnen ihre Pässe abgenommen hat.

– Manche überprüfen die Adressen von Firmen, andere nicht. Manchmal erhält man von den Arbeitgebern falsche Adressen.

– Sie nehmen die, die die Gesetze nicht kennen und sich mit ihnen mündlich einigen. Das sind oft Personen ohne höhere Schulbildung, die die Rechtslage nicht kennen, oft Migranten. Solche Leute gibt es. Aber ja, das ist selten.

Die Arbeiter der Brücke haben Angst, sich einzeln oder zu zweit zu weit zu entfernen. Sie versuchen, in Gruppen von sechs oder sieben Personen zu bleiben, das gibt ihnen Sicherheit.

Sie hatten versprochen, zurückzurufen

Adilet kommt oft auf die Brücke, seine Familie baut gerade ein Haus. Er hatte noch keine Probleme mit seinen Arbeitern.

Verglichen mit den Agenturen und Inseraten in Zeitungen sind die Arbeitskräfte hier günstig. Sie haben mich auch noch nie hintergangen. Das sind einfache Leute, Arbeiter, auch wenn sie auf den ersten Blick vielleicht ein wenig kriminell wirken“, erzählt Adilet.

Ein anderer Kunde, Sergej, hat Mitgefühl mit ihnen, die gezwungen sind, jeden Tag auf die Lew Tolstoi-Brücke zu kommen. Was ihn angeht, so beschäftigt er eine Gruppe Frauen, die seine „Evroremonts“ streichen (seit 1990 bezeichnet „Evroremont“ die Instandsetzung von Wohnraum nach europäischen Standards mit hochwertigen, importierten Baumaterialien, Anm. d. Red.).

Sie haben schon einmal für mich gearbeitet. Erstklassig! Es tut mir ein wenig leid für sie. Eine von ihnen ist Lehrerin, eine andere Gärtnerin und die letzte Fräserin. Sie könnten alles machen, nicht nur Wände putzen und streichen, aber sie kommen auch sehr gut mit meinen Kindern zurecht. Ja, sie sind nicht sehr schön. Aber wie soll man bitte mit einem solchen Leben aussehen wie eine Fee? Einmal hatte ich auch einen früheren Chirurgen als Elektriker angestellt. Im Gegensatz zu den offiziellen Agenturen, wo man für jede Arbeit einen Spezialisten engagieren muss, hat er auch noch die eines Zimmermanns gemacht und die Toiletten repariert. Vielleicht wäre es eine Lösung, wenn sie sich in kleinen Gruppen zusammenfänden? Gibt es dafür eine rechtliches Verfahren?“

Um zu erfahren, wie eine offizielle Arbeitsagentur funktioniert, haben wir uns ein Formular mit der Berufsangabe „Journalist“ ausstellen lassen. Sie hatten versprochen, uns zurückzurufen, wenn auch mit dem Hinweis, dass die Nachfrage eher im Dienstleistungssektor bestehe. Wir warten auf diesen Rückruf seit Juli. Vielleicht sollten auch wir einen Platz auf der Brücke einnehmen und uns den früheren Ärzten, Professoren und Konditoren anschließen.

Diese Reportage ist Teil eines Artikels, der zuerst bei Equal Times veröffentlich wurde: Kyrgyzstan, where informality is a lifestyle

Beghimai Sataeva

Aus dem Französischen übersetzt von Luisa Podsadny

 

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