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Lucette Sokolowa, wie ein unvollendetes Gemälde

Lucette Sokolowa hat ihr ganzes Leben der Kunst gewidmet. Nachdem sie der Krieg nach Bischkek führte, widmete sie sich vor allem den kirgisischen Nationalkostümen. Doch heute kann sie im hohen Alter ihre Leidenschaft nicht mehr verfolgen. Ein Porträt von Sezim Arynova. 

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Redigiert von: Florian Coppenrath

Skizzen Nationale Kostüme Kirgistan
Ein paar Skizzen nationaler kirgisischer Kostüme von der Hand von Lucette Sokolowa

Lucette Sokolowa hat ihr ganzes Leben der Kunst gewidmet. Nachdem sie der Krieg nach Bischkek führte, widmete sie sich vor allem den kirgisischen Nationalkostümen. Doch heute kann sie im hohen Alter ihre Leidenschaft nicht mehr verfolgen. Ein Porträt von Sezim Arynova. 

Ein warmer April-Tag, die Sonnenstrahlen dringen in den dunklen Raum und enthüllen seinen ganzen Charme. Es ist ein kleiner Raum mit Rissen an den Wänden, an denen ein Teppich und viele Bilder hängen. Der alte ausgefranste Fußboden, der stellenweise durch Linoleum ersetzt wurde, gibt dem ganzen einen mürrischen und miserablen Aspekt. Im Zimmer steht noch ein Holzbett, ein Tisch, gegenüber davon einen Schrank.

Kein Zentimeter bleibt frei auf dem Tisch, den ein vielfältiges Sammelsurium bedeckt: Medikamente, Bonbons, Zeitungen, leere Tee-Boxen, einen Stift mit Notizbuch, verschiedene Kräuter, Plastiktüten, eine Lampe, Quittungen und vieles mehr. Auf der anderen Seite des Raumes steht ein Sofa voller alter Zeitungen und Wäsche, gegenüber zwei große Schränke vor dem Fenster. Ein großer Stuhl, der nur als Ablage für das Telefon entworfen scheint, passt harmonisch ins Bild.

Eine alte Künstlerin in ihrem Reich

Neben dem Flur steht noch einen Sockel, darauf Ikonen und eine rote Kerze, die dem Raum eine ruhige Atmosphäre verschafft. Dennoch scheint der Raum viel zu klein für all die Dinge.

Lucette Sokolowa
Lucette Sokolowa

Auf einem kleinen Stück grauem, leicht verschmutztem Papier schreibt Lucette Sokolowa eine Einkaufsliste: Zwiebeln, Äpfel, Brokkoli, Karotten, Eier, Butter, Quark, etc. Sie atmet schwer und beginnt mit einem unzufriedenen Blick zu zählen. Sie sieht schlecht und muss sich weit nach vorne lehnen, um zu sehen, was sie schreibt. Lucette trägt eine weiße gestreifte Bluse, eine rosa Jacke und blaue Pantoffeln mit einem Blumendruck aus Filz.

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Lucettes klingende und unerwartet kräftige Stimme unterbricht die Träumereien. Durch ihre klaren Augen lässt sich ihr ganzes Leben erfühlen. Sie verweist auf ihre Bilder: „Ach, wie ich malen will! Ich male manchmal im Traum, das ist so wunderbar. Gott, ich leide so daran, dass ich nicht malen kann. Ich bin doch eine Künstlerin!“.

Lucette dachte nie, dass ihr die Kunst im Alter mal verwehrt würde. Sie ist Ehrenmitglied der kirgisischen Künstlerunion und hat ihr ganzes Leben der Kunst gewidmet.

Von Moskau nach Frunse

Im Laufe ihrer Karriere hat Lucette nicht nur gemalt, sondern sich auch mit kirgisischer Mode und Kino beschäftigt. Aber heute kann sie nicht mehr gehen und hört praktisch nichts.

Lucette erinnert sich kaum noch an ihre Familie. Ihr Vater ging im Zweiten Weltkrieg an die Front und sie sah ihn nie, ihre Mutter starb sehr früh. Lucette wurde von ihrer Tante erzogen. Nach Kirgistan kam sie zufällig während des Krieges. Sie war erst elf und floh mit ihrer Tante vor den Explosionen. Als sie nach Moskau zurückkamen war ihre Wohnung schon besetzt und sie mussten eine kleine Wohnung mit vielen anderen Nachbarn teilen.

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Mit jedem Tag wurde das Leben mit ihrer Tante immer schwieriger, weil sie ständig Schläge von ihr aushalten musste und wegen der harten Arbeit, die sie leisten musste. Mit 17 zog Lucette weiter nach Frunse (ehemaliger Name von Bischkek, Anm. d. Red) zu einer Großmutter, die sie davor noch nie gesehen hatte.

Gemälde Lucette Sokolowa Kunst Kirgistan
Ein Gemälde von Lucette Sokolowa

Lucettes Großmutter erteilte ihr einen Platz in ihrem Zimmer und half ihr, eine Nähmaschine zu kaufen. So  begann Lucettes Erwachsenenleben: Sie fing an, Karikaturen für Zeitungen zu malen, später trat sie in die Akademie der Künste ein. Lucette heiratete, bekam eine Tochter und ließ sich wieder scheiden. Trotz aller Schwierigkeiten hat sie vieles erreicht. Wie sie selbst sagt, hat sie ein außergewöhnlich wunderbares Leben gelebt.

Schon in ihrer frühesten Kindheit liebte sie es, zu malen, und ihre Leidenschaft verstärkte sich mit jedem Jahr. Die Arbeit im Künstlerfonds  war schwer und es gab nur sehr wenige Aufträge, aber Lucette liebte ihre Arbeit. Sie arbeitete dort 40 Jahre lang.

Eine Leidenschaft für Nationalkostüme

Neben der Malerei beschäftigte sie sich vor allem mit kirgisischen Nationalkostümen. Sie fuhr zu Ausgrabungen und studierte die alte Kleidung. Im Grab einer Frau im hölzernen Sarg, das 1955 in Batken gefunden wurde, waren die Kleider gut erhalten, was für Lucette von großer Bedeutung war. Daraufhin schrieb sie ihre Diplomarbeit über das Thema Kostüme.

Lucettes eigene Werke wurden später oft ausgestellt und studiert. „Es gibt viele interessante Dinge an kirgisischen Kleidern, sie bieten zum Beispiel einen speziellen Brustpanzer für pflegende Mütter oder schwere, verzierte Mützen, die keine Krumme Haltung erlauben. Deshalb gingen kirgisische Frauen Generationen lang in einer streng geraden Haltung. Außerdem gab es viele Unterschiede zwischen der südlichen und nördlichen Kleidung. Zum Beispiel waren die Beldemtschi (Röcke, die in der Mitte befestigt sind) der nordkirgisischen Frauen lang und reich dekoriert, während sie im Süden kürzer und einfacher waren, sie schmückten nur den Gürtel“, erklärt Lucette.

Skizzen nationale Kostüme Kirgistan
Skizzen von traditionellen kirgisischen Frauentrachten

Lucette arbeitete auch im Filmstudio „Kyrgyzfilm“als Kostümbildnerin für mehrere Filme von Melis Ubukejew (1935-1996) wie „Belye gory“ (weiße Berge), „Ak-Möör„, „Tainye Melodii“ (geheime Melodien) und „Manas„. Die historischen Nationalkostüme weckten in Lucette ein unerschöpfliches Interesse.

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„Während des ganzen Films habe ich viele militärische Kappen für „Manas“ hergestellt. Sie waren aus grobem Sacktuch, mit Silber überzogen. Als sie getrocknet waren, sahen sie beim Dreh aus wie eiserne. Ich machte auch Männerstiefel, die waren mit Ornamenten verziert. Wir haben ganze Tage für einen Film gearbeitet, aber das Ergebnis war es wert“, erinnert sich Lucette.

Leider wurden die Filme „Tainye Melodii “ und „Manas“ nie zuende gestellt. „Melis war ein kluger Mann, er schrieb hervorragende Skripte, aber er trank viel, und vertrank auch das Geld für ‚Tainye Melodii‘ und ‚Manas‘. Das ist sehr unglücklich, denn die Aufnahmen waren großartig und die Kostüme einzigartig“.

Beschlagnahmte Skizzen

Auch von ihren Skizzen bleiben Lucette nur wenige. Sie hat viele verschenkt oder für wenig Geld verkauft.

„Bei den Kostümen für den Film “Manas„ gab ich alles.Nach der Schließung wurden meine Bilder zum Film ausgestellt.. Manche Ausländer, die bei der Ausstellung waren, wollten 5000 US Dollar für meine Zeichnungen zahlen.  Ich lehnte ab und sagte, dass sie Eigentum des Volkes sind. Später wurden meine Skizzen n der Regierung genommen, ich habe sie nicht mehr wieder gesehen. Alle meine Versuche und meine Skizzen waren vergeblich“, bedauert sie.

Vor dem Ruhestand hat Lucette im von Korea geförderten Kinderheim  „Rodnicek“ (kleiner Springbrunnen) gearbeitet: „Ich liebe Kinder und habe es wirklich genossen, Zeit mit ihnen zu verbringen. Leider wurde ich bald in den Ruhestand versetzt und wurde von jüngeren ersetzt. Statt mich darüber aufzuregen, besuchte ich meine Tochter in Moskau und versuchte, weiterzuleben„.

In Moskau traf sie das Unglück

Doch in Moskau traf sie das Unglück wie ein Haufen Steine auf die Brust. Kurz nach ihrer Ankunft im Jahr 2014 wurde sie ausgeraubt. Dabei erlitt sie einen Halswirbel- und Hüftbruch. Aus Geldmangel konnte sie erst keine Operation bekommen. Dank ihrer Nachbarn, die аls Ehrenmitglieder der Vereinigung der Künstler der Kirgisischen Republik 24 Tausend Som (ca. 300 Euro) Rente von der Regierung erhielten, klappte es dann doch. Leider war die Operation nicht erfolgreich und Lucette wurde des einfachen Glücks beraubt, laufen zu können.

Unvollendetes Gemälde
Das unvollendete Gemälde

Die Ärzte sagten mir, ich solle üben, aber jede Bewegung verursacht höllische Schmerzen. Ich hätte nie gedacht, dass ich mit solchen Schmerzen leben könnte.“ Wie Lucette sagt, hat sie ihr Alter lange nicht gespürt, doch durch den kam es dann abrupt über sie.

Heute ist sie 89 Jahre alt und trotz ihrer Schwierigkeiten lebt sie weiter. In der Ecke des Raumes befindet sich eine Leinwand mit Skizzen. Das Bild bittet um Aufmerksamkeit, will fertig gestellt und bewundert werden. Doch es kam anders, das Bild wird nie fertig sein.

Sezim Arynova
Novastan.org, Bischkek

Redaktion: Florian Coppenrath

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