Mit 27 Jahren veröffentlicht Nadine Boller bald ihren ersten Dokumentarfilm. Das Thema: Kirgistan und die Nomaden rund um den Song-Köl See. Wir haben sie in Berlin getroffen.
Mich würde zuerst interessieren, wie Du zum Filmemachen gekommen bist?
Nadine: Ehrlich gesagt wusste ich nach dem Abi nicht, was ich studieren wollte. Ich ging zur Studienberatung und die Analyse dort ergab, dass Filmwissenschaft passen würde. Ich ging also für das Studium nach Lausanne. Ich lernte dort aber weniger das Filmemachen und mehr die Filmanalyse und Geschichte. Ich bin ein kreativer Mensch und produziere gerne. Aber beim Film habe ich mich echt nicht so getraut, weil ich dachte, man müsste so viel technisches Wissen wie Belichtung, Ton, usw. haben. Es gibt vieles, das falsch laufen könnte. Deswegen habe ich während des ganzen Studiums nie eine Kamera angefasst.
Wie kam es dazu, dass du von der Schweizer Uni in einer kirgisischen Jurte gelandet bist?
Nadine: Ich habe meine Masterarbeit in englischer Linguistik geschrieben und dafür in Kirgistan Recherchen durchgeführt. Da habe ich auch ein paar Auswanderer kennengelernt. Wir gingen zusammen zu den Nomaden zum Song-Köl, weit weg vom heißen und stickigen Sommer in Bischkek. Bei den Nomaden kamen wir auf die Idee, den nächsten Sommer 2013 eine Jurte kaufen, eine Jurten-WG zu gründen und mit den Nomaden in den Bergen zu leben. Ich wollte darüber eine Doku drehen, selbst wenn es bloß zum Spaß sein sollte. Denn nach meinem Uni-Abschluss wollte ich eigentlich als Lehrerin arbeiten. Ich stellte mir vor, ein paar Jahre zu arbeiten, dann auf Reisen zu gehen, das ganze Geld dabei zu verschleudern, dann wieder einige Zeit zu arbeiten, um erneut auf Reisen zu gehen.
Dann hat mich mein Vater in Kirgistan besucht und mich wieder einmal gefragt „Mädchen, was soll denn aus dir werden?“
Meine Antwort, ich würde dann Lehrerin werden, machte ihn stutzig und irgendwann meinte er: „Ich finde, du sollst nicht Lehrerin werden. Ich glaube, du wirst dich da ganz schnell langweilen.“ Da fragte ich ihn: „Was soll ich denn deiner Meinung nach machen?“ Daraufhin hat er gemeint: „Ich habe dich immer in irgendetwas Kreativem gesehen, zum Beispiel als Dokumentarfilmerin.“
So motivierte mich mein Vater, der rationale Mensch, für ein Experiment. Dann habe ich mich von einem Tag auf den anderen auf Dokumentarfilme konzentriert. Einen Monat später kam dann die Idee mit der Jurte und der WG.
Bei meiner Rückkehr in die Schweiz habe ich mein Studium abgeschlossen und mich für einen Film-Intensivkurs in Berlin angemeldet, um die Basics zu lernen. Das gab mir den nötigen Aufwind für mein Kirgistan-Projekt. Leider waren die Freunde, mit denen ich die WG machen wollte, nicht mehr da. Und so trat ich meine Reise mit den Nomaden alleine an.
Welche Botschaften oder Geschichten über Kirgistan möchtest du hier in Europa durch deinen Film vermitteln? Was wissen wir noch nicht über dieses Land?
Nadine: Was ich hier in Deutschland oft erlebe, ist, wenn das Wort „Kirgistan“ fällt, kommt immer zuerst „Ah Kurdistan!“. Dann folgt immer ein „Wo ist denn das, Kirgistan? Ist das ein Land?“ Dann muss ich zuerst erklären, wo das ist. Was nicht immer einfach ist, weil Usbekistan und Tadschikistan ebenfalls unbekannt sind. Erstens möchte ich gerne dieses Land einfach den Leuten näher bringen. Klar, viele Dokus machen das, aber immer ist das Thema Seidenstraße. Kirgistan ist nur ein Kapitel davon. Ich möchte mit meinem Film auch die Vorurteile über dieses Land wegnehmen. Kirgistan. Da ist ein „stan“ drin, das ist bestimmt ein gefährliches Land, weil Afghanistan und Pakistan sind es ja auch. Zweitens möchte ich zeigen, dass es ein wunderschönes Land mit ganz vielen interessanten Geschichten und einer spannenden Kultur ist.
Wie hast du es geschafft, eine einheimische Perspektive zu bekommen? Sprichst du Kirgisisch?
Ich hab bei zwei verschiedenen Gastfamilien gewohnt und wurde vor allem bei einer Familie total ins Leben eingebunden und musste da mitarbeiten. Und ich bin jetzt auch in diesen Regionen, wo ich gewohnt habe, bekannt. Da weiß man auch, wer ich bin und man fragt nach mir. Das ist schon toll. Außerdem habe ich einen Vorteil, weil ich eine Person aus dem Westen bin, die Kirgisisch spricht. Vor allem auf dem Land sind die Einheimischen immer erstaunt und kommen schneller mit mir ins Gespräch. Ich hab das oft mit russischen Touristen beobachtet, die westlich aussehen, aber dann Russisch sprechen. Da verhalten sie sich anders.
Mein Ziel ist es, diese Sprache perfekt zu können. Ich bin immer super motiviert und ich freue mich jedes Mal, wenn ich Kirgisisch sprechen darf.
Dokus über Kirgistan enthalten oft Werbung für die Natur und die Landschaft. Das Nomadenleben wird viel exotischer dargestellt als es tatsächlich ist. Aber auch die Beschwerlichkeit des Alltags wird gern ausgespart. Möchtest du diesen Kampf in der Natur, mit der Natur, und manchmal auch gegen die Natur vermitteln?
Nadine: Jeder Film ist eine Auswahl. Ich habe 75 Stunden Material und von diesen 75 Stunden – wenn es für‘s Fernsehen sein soll – muss ich 52 Minuten aussuchen. Ich suche natürlich die interessantesten aus. Da muss man sich im Klaren darüber sein, dass Dokumentarfilme sehr selten die nackte Wahrheit zeigen. Beim Fernsehen hat der Zuschauer immer die Wahl umzuschalten, sobald es ihm langweilig wird. Du musst also leider ein bisschen ein Spektakel daraus machen, damit die Leute dabeibleiben.
Mein Chef hat mich zum Beispiel immer gefragt „Ja, hatten die da oben mal Streit? Ist jemand gestorben? Was ist passiert?“ Er suchte also immer das Drama. Und ich habe nein gesagt. Niemand ist gestorben, niemand ist gegen seinen Willen verheiratet worden und niemand ist verunglückt. Es geht immer um das ganze Drama. Ich bin der Hoffnung, dass die kirgisische Kultur faszinierend genug ist, und ich nicht noch nach Dramen suchen muss. Ich zeige aber eher die Momente, die für uns fremd sind, wie diese Nomadenolympiade zum Beispiel, oder wie die Mädchen Wasser holen. Diese mühsame Arbeit wird Tag für Tag von den Kindern erledigt. Für 13-Jährige in Westeuropa ist das unvorstellbar. Die spielen X-Box und chatten auf Facebook.
Also gibst du eher einen Überblick über Themen, die für uns exotisch sind.
Nadine: Ja, so kann man das sehen. Aber was ich auch will, ist, dass diese ganze romantische Vorstellung über Nomaden – diese Bilder von Nomaden, die das ganze Jahr mit ihren Schafen und Pferden über die Berge ziehen – korrigiert wird. Das ist heutzutage einfach nicht mehr so. Jedenfalls nicht bei der Familie, wo ich war. Im Winter leben sie im Dorf in einem Haus wie alle anderen Kirgisen, haben einen Staubsauger und haben einen Jeep mit 4×4 Antrieb. Dann nehmen sie einen Lastwagen, packen die Jurten da rein, fahren damit hoch und stellen das dann auf. Die leben dann ein paar Monate da oben, bis das Gras ausgetrocknet ist, und gehen wieder zurück ins Dorf.
Mit Satellitenschüsseln, Handys, …
Nadine: Genau. Handys, Autos, Lastwagen, Generatoren für Strom. Da muss man einfach ehrlich sein und nicht nur die Romantik zeigen, die halt der Westler gerne sehen will. Was ich aber aus dem Film rausgelassen habe, muss ich fairerweise sagen, ist der ganze Tourismus. Das ist ein ganzes Doku-Thema für sich.
Die Familie, wo ich jetzt war, empfängt auch manchmal Touristen. Anstatt für neun Leute zu kochen, kochen sie nun eben für 15 Leute und servieren Tee. Ansonsten haben sie ihren Tagesrhythmus nicht verändert. Sie stehen zur selben Zeit auf, melken viermal die Stuten und zweimal die Kühe, holen Wasser und schlachten ein Schaf. Weil der Tourismus hier noch nichts verfälscht hat, habe ihn für dieses Mal ausgelassen.
Worüber würdest du gerne noch einen Film drehen?
Nadine: Ich habe das ganze Projekt alleine gedreht und alleine das Geld aufgetrieben und jetzt schneide ich das ganze alleine und muss es dann mehr oder weniger auch alleine vermarkten. Das ist stressig. Das nächste Projekt würde ich gerne mit einem Team machen. Ich möchte gerne Kamerafrau sein, aber Teil einer Dokumentarfilmcrew, so dass ich da mitgehen und mitarbeiten, aber nicht die Verantwortung für das ganze Projekt trage, weil es mir hier noch die Erfahrung fehlt.
Das nächste Projekt wird wahrscheinlich eher lokal in Deutschland stattfinden.
In Kirgistan selbst, wenn ich Geld für ein weiteres Projekt finde, warten einige Themen: Zum Beispiel Dordoi. Ein großer, ganz besonderer Markt, der einem einzigen Mann gehört. Das ganze Leben, das sich da drin abspielt, alles was hinter den Kulissen abläuft – Das ist wie eine ganze Stadt in einem Basar.
Das könnte wirklich ein spannendes Projekt ergeben. Es gibt sogar einige ethnographische Forschungen über Dordoi.
Nadine: Genau. Aber auch das Thema Frauen in Kirgistan ist interessant. Ich bin da etwas zwiespältig den Dokus gegenüber, die von den Frauenentführungen und Zwangsheirat erzählen. Es ist ein schreckliches Thema, aber ich habe trotzdem das Gefühl, dass man das Drama darin sucht. Sie zeigen nur die Fälle, wo die Frau gegen ihren Willen entführt worden ist. Aber es gibt auch ganz viele Entführungen, die als abgemachte Show dienen. Diese Dokus über Frauenentführungen vermitteln leider, dass alle Frauen gegen ihren Willen verheiratet werden. Das stimmt einfach nicht. Es ist ein Teil der Kultur, aber er repräsentiert nicht die gesamte kirgisische Gesellschaft.
Was hat dich beim allerersten Aufenthalt in Kirgistan überrascht?
Nadine: Mein allererster Aufenthalt war ja nur zwei Wochen als Touristin im Jahr 2011. Noch nie zuvor war ich in einem Land, in dem wo es so wenig Infrastruktur für Tourismus gab, wo aber das Reisen so einfach und unkompliziert war. Mit Organisationen, die mit Einheimischen zusammenarbeiten, ging alles wie von alleine. So sind wir auch selbst viel mit Einheimischen in Kontakt gekommen, weil wir bei ihnen geschlafen haben. Wir wurden auch oft spontan zum Tee eingeladen. Die Leute freuten sich einfach, dass Ausländer sich für ihr Land interessierten und sich die Mühe machten, sich ihr Land anzuschauen. Ich fühlte mich noch nie so wohl in einem Land, das mir so fremd war.
Das Gespräch führte Mahabat Sadyrbek
Autorin für Novastan.org, Berlin
Redaktion: Daniela Neubacher