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Kirgistan: „Der Tod der orthodoxen Kirche ist nicht unvermeidlich“

Obwohl die russisch-orthodoxe Kirche hinsichtlich ihrer Mitgliederzahl an zweiter Stelle der Religionen in Kirgisistan und in Zentralasien steht, bleibt ihr Alltag größtenteils unbekannt, und dies trotz der historischen Verknüpfung der zentralasiatischen Länder mit Russland. Novastan interviewte Vater Aleksei, Priester an der Kathedrale der heiligen Auferstehung in Bischkek.

Vater Aleksei, Priester an der Kathedrale der heiligen Auferstehung in Bischkek.

Obwohl die russisch-orthodoxe Kirche hinsichtlich ihrer Mitgliederzahl an zweiter Stelle der Religionen in Kirgisistan und in Zentralasien steht, bleibt ihr Alltag größtenteils unbekannt, und dies trotz der historischen Verknüpfung der zentralasiatischen Länder mit Russland. Novastan interviewte Vater Aleksei, Priester an der Kathedrale der heiligen Auferstehung in Bischkek.

Die russisch-orthodoxe Kirche stellt heute die zweitmeistvertretene Religion in Zentralasien dar. Diese Gemeinschaft geht auf die historische Beziehung der Region mit Russland zurück. Trotz dem alarmierenden Rückgang der Mitgliederzahlen seit dem Zusammenbruch der UdSSR 1991 ist die Konfession in den Medien kaum thematisiert.

Wo ist heutzutage der Platz der orthodoxen Kirche in Kirgistan und ferner in Zentralasien? Dieser Frage ist Novastan in einem Interview mit Vater Aleksei, Priester an der Kathedrale der heiligen Auferstehung im Herzen Bischkeks, nachgegangen. Hier spricht der Geistliche über die aktuelle Lage der Religionsgemeinschaft.

Novastan: Vater Aleksei, wie schätzen Sie die Situation der orthodoxen Kirche in Kirgistan insbesondere und in Zentralasien insgesamt ein?

Vater Aleksei:  Die russisch-orthodoxe Kirche in Kirgistan ist dem Patriarchat von Moskau untergeordnet. Heutzutage ist das Land unabhängig, war aber lange Teil zuerst des russischen Reichs, danach der UdSSR. Aus diesem Grund ist das orthodoxe Christentum heute historisch und demographisch gesehen die zweite Religion nach dem Islam in Zentralasien. Moskau übt keine direkte Kontrolle auf die hiesige Kirche aus, unterhält aber enge Verbindungen zu dieser. Das Patriarchat interveniert in das religiöse Leben des Landes nicht und nimmt Rücksicht auf dessen Unabhängigkeit.

Die Orthodoxie existiert auf dem heutigen kirgisischen Territorium seit 150 Jahren. Damals waren unter den Russen, die vom Reich in die Region entsandt wurden, auch geistliche Missionare. Trotz widriger Umstände hat sich die Missionierungsarbeit schließlich in der Sowjetzeit fortgesetzt.

Kathedrale Bischkek
Die Kathedrale der heiligen Auferstehung in Bischkek, Kirgistan. Aufgenommen während der Sanierung 2018.

Es gibt heute 52 Gemeinden in Kirgistan, wovon manche nur zwei bis drei Mitglieder zählen. Die mitgliederstärksten Gemeinden befinden sind sämtlich in der Provinz Chuy (um die Hauptstadt Bischkek Anm. d. Red.). Zehn Gemeinden bestehen heute sogar vollständig ohne Mitglieder. Die Kirchenangehörigen sind wegen den wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die das Land seit seiner Unabhängigkeit plagen, weggegangen. Die kirgisische sozialistische sowjetische Republik wurde während der UdSSR aus Moskau finanziert. Nach der Unabhängigkeit gab es keine Mittel mehr. Selbst viele Kirgisen verlassen das Land.

In der Sowjetzeit lebten viele Nationalitäten miteinander, es gab keine erheblichen Konflikte. Heute ist das größte Problem die Erziehung der Jugend. Junge Menschen müssen lernen, zusammen zu leben.

Sie vertreten die zweitgrößte religiöse Gemeinschaft in der Region. Wie sieht es mit der lokalen Bevölkerung aus? Nimmt diese am Leben der Kirche teil? In Kasachstan zum Beispiel hat sich die orthodoxe Kirche vorgenommen, Gottesdienste in kasachischer Sprache anzubieten. Wäre so etwas auch in Kirgistan denkbar?

Wie gesagt, liegt der Beginn der Orthodoxie in Zentralasien 150 Jahre zurück. In dieser Zeit hat es ein unausgesprochenes Einvernehmen gegeben, wonach die orthodoxe Kirche sich in erster Linie an die russische Bevölkerung widmen und keine Anhänger in der einheimischen Bevölkerung werben würde. Diese Zurückhaltung wurde hochgeschätzt, und darauf beruht das heutige gute Verhältnis zwischen der orthodoxen Kirche und der Obrigkeit des Islam. Und dies war schon unmittelbar nach dem Zusammenbruch der UdSSR 1991 der Fall.

In Kirgistan halfen Imame sogar, orthodoxe Kirchen zu restaurieren, denn ihnen war bewusst, wie wenig Mittel zur Verfügung standen. Einen ähnlichen Beistand hat es auch in Tatarstan, und generell in Russland gegeben. Jedoch, weil die orthodoxe Konfession als primär an die russische Bevölkerung adressiert verstanden wurde, gibt es nur wenige kirgisische Orthodoxe. Dies hat sich ebenfalls in der Sprachfrage der Liturgie widergespiegelt: Da es kaum orthodoxe Kirgisen gibt, gibt es keine Notwendigkeit für Gottesdienste auf Kirgisisch.

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Hier muss man von den neuen aus dem Ausland stammenden Bewegungen differenzieren. Die Furcht ist groß, denn man darf diese durchaus als radikal betrachten. Solche Freikirchen und islamistische Strömungen adressieren oft, aufgrund ihrer proteolytischen Ausrichtung, Kirgisen in ihrer Muttersprache. Das Thema beschäftigt die religiösen Behörden, es gab nämlich keine religiös motivierten Konflikte in diesem Teil der UdSSR. Das Problem besteht seit ungefähr zehn Jahren. Die kirgisische Regierung ist heute bemüht, die Situation in den Griff zu bekommen, indem sie eine Organisation einrichtet, welche die unterschiedlichen Religionen zusammenbringt, um gemeinsam an einer Lösung zu arbeiten.

Inwiefern beeinflussen diese neuen Bewegungen die Arbeit der Orthodoxie?

Diese protestantischen Kirchen sind in Kirgistan mehr und mehr anwesend. Für die etablierten Religionen stellt das eine neue Situation dar. Ihr Ziel ist es, die Bevölkerung zu evangelisieren. Konvertierte Kirgisen werden jedoch von ihren Landesleute schlecht angesehen. Unter diesen neuen Bewegungen sind Baptisten, Evangelikaler, usw. Sie kommen größtenteils aus Europa oder den USA.

 Die kirgisische Regierung hat die Sache nicht kommen sehen: in den neunziger Jahren wurden keinerlei Kontrollen auf die Proselytenmacherei ausgeübt. Erst vor etwa zehn Jahren haben die Behörden angefangen, sich der Sache bewusst zu werden. Manchmal wundern sich Ausländer in Kirgistan, manche Prediger zu sehen die in ihrem eigenen Land verfolgt werden, die hier aber in Werbekampagnen erscheinen und sich frei bewegen können.

Stellt der Aufstieg extremistischer Islamisten eine Gefahr für die Christen in der Region dar?

Extremistische islamische Gruppierungen sind für alle eine Gefahr, sei es für die Regierung, die Bevölkerung, oder auch den traditionellen Islam selbst. Die Regierung hat darauf sehr spät reagiert. Erst vor anderthalb Jahr sind sie sich der Gefahr bewusst geworden. Es sind vor allem junge Menschen, die angeworben werden, um in Syrien Krieg zu führen. In allen Ländern Zentralasiens haben die Regierungen sichergestellt, dass Rückkehrer statt verhaftet rehabilitiert und der Gesellschaft wieder eingegliedert werden, mit dem Ziel, ihr Verhalten analysieren zu können.

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Der traditionelle Islam versucht um jeden Preis, die Gesellschaft in ihren Werten zu schützen. Seien Anführer sind höchstbemüht, die religiöse Erziehung zu regeln. Es wurden viele Medressen (Koranschulen, Anm. d. Red.) gebaut. Wenn man diese kontrollieren kann, dann stellen sie keine Gefahr dar, denn Radikalismus beruht auf Ignoranz. Die islamischen Behörden im Land versuchen, Jugendliche zu erziehen, nicht damit sie zu religiösen Anführern werden, sondern um ihnen den altherkömmlichen Platz des Islam in Zentralasien beizubringen. Es gibt sogar eine spezielle Organisation namens „Imane“, die sich um die Ausbildung junger Imame kümmert. Sie ist im Rahmen des präsidialen Programms zur Förderung des Unterrichts in kirgisischen Kleindörfern gegründet worden.

An welchen Projekten beteiligt sich die orthodoxe Kirche in Kirgistan? Gibt es eine Zusammenarbeit mit der Regierung?

Es gibt eine Regierungsstruktur namens Regierungskommission für die religiöse Frage, eine Art Religions-Ministerium, das die Regierung mit den religiösen Organisationen in Verbindung setzt. Der Staat und diese Kommission arbeiten eng miteinander. Aus dieser Zusammenarbeit entstehen Veranstaltungen sportlicher und kultureller Art, manchmal sogar Aufräumaktionen auf den Straßen. Nicht-Orthodoxen werden zu religiösen Festen eingeladen. Die Kirche versucht außerdem mit den Medien zu kooperieren. Der kirgisische Präsident beglückwünscht offiziell zu den wichtigsten Festen wie Ostern oder Weihnachten (wird am 7 Januar gefeiert Anm. d. Red.). Jeden 9. Mai, zelebrieren Kirche und Staat gemeinsam den Tag des Sieges.

Kathedrale Karakol
Die Kathedrale der heiligen Dreifaltigkeit in Karakol im Osten Kirgistans. Aufgenommen 2018.

Ist jedoch die Feier religiöser Natur, so muss sie innerhalb der Wände einer Kirche stattfinden. Andernfalls könnte es zu Missverständnissen durch die anderen Religionen führen. Der öffentliche Raum ist säkular. Seit 2017 beteuert die Regierung den Platz des Islam innerhalb eines laizistischen Landes. Unter anderem, wie eine friedliche Entwicklung des Islam in ebenunserer Gesellschaft stattfinden kann. Die Behörden tun alles, um zu beweisen, dass trotz der Entwicklung des Islam, der Staat nicht religiös werden wird.

Seit der Unabhängigkeit 1991 hat die orthodoxe Kirche in Kirgistan eine sehr wichtige Rolle inne. Die Regierung hat sie administrativ immer unterstützt, auch wenn es finanziell nicht immer möglich war. Es ist zum Beispiel vorgekommen, dass keine Steuer auf die Materialien zum Wiederaufbau von Kirchen erhoben wurden. Die Regierung sagt, dass die Gläubigen der orthodoxen Kirche fester Bestandteil der Gesellschaft sind. Es gibt eine offizielle Anerkennung von Seiten des Staates.

Wie geht der orthodoxe Glaube an die Jugend hinüber?

Sechs Prozent der kirgisischen Bevölkerung stellen Slaven, zwei Prozent bekennen sich zum orthodoxen Glauben. Dementsprechend ist die Zahl der jungen Menschen in der Kirche sehr gering. Die Kirche unterstützt eine kleine Struktur, die sich der Arbeit mit Jugendlichen widmet. In fünf öffentlichen Schulen wird der orthodoxe Glauben neben dem regulären Betrieb unterrichtet. Diese Schulen sind jedoch jeweils einer bestimmten Kirche zugeordnet. Sie werden nicht nur von Russen besucht, sondern unterrichten zahlreiche usbekische und kirgisische Schüler.

Diese Schüler sind nicht zwangsweise orthodox, vielmehr sind sie auf der Suche nach qualitativ hochwertigem Unterricht, insbesondere der russischen Sprache, denn Russisch wird in den öffentlichen Schulen in der Provinz sehr schlecht beigebracht. Diesen finden sie in unseren Schulen. Das wissen ihre Eltern, genau so wie sie auch wissen, wie wichtig Russisch ist. In diesen Schulen sprechen die Schüler sogar unter sich Russisch. Diese Schulen gibt es in Bischkek, Karakol, sowie in Osch und Dschalalabat. Besonders im Süden des Landes fehlt es an gutem Russisch-Unterricht.

Welche Rolle nimmt die orthodoxe Kirche in den Beziehungen zwischen Russland und Kirgistan ein?

Der Besuch des Patriarchen Kyrill 2017 galt nicht nur den religiösen Behörden. Er traf sich auch mit dem Premierminister, Mitgliedern der Regierung sowie des Parlaments. Der Besuch fand auf Einladung der Regierung statt und symbolisierte damit ihr Interesse, mit dem orthodoxen Klerus, ferner mit den russischen Behörden, zu kooperieren. Hier geht es aber vielmehr um die Wirtschaft: Kirgistan ist reich an Bodenschätze, die Mangels Mittel unerschlossen bleiben. Das weckt das russische Interesse.

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Eine größere Anteilnahme Russlands würde es der kirgisischen Regierung erlauben, auf chinesische Investitionen zu verzichten. Es besteht durchaus eine spezifisch religiöse Frage, hier sehen wir jedoch, dass es genauso viel um Wirtschaft geht. Auswanderung, insbesondere die wirtschaftliche Auswanderung von Kirgistan in Richtung Russland ist sehr stark. Der Einfluss der orthodoxen Kirche ist aufgrund dieser übereinstimmenden Interesse höchstbedeutend. Auch wenn sie nicht Teil des Staatapparats ist. Aber die wirtschaftliche Entwicklung des Landes ist in ihrem Eigenen Interesse.

Ein Beispiel: in den neunziger Jahren  sollte in Dschalalabat eine Uranprodutkionsstätte schließen. Dank ihrem Weiterbestehen konnte eine aufkeimende Auswanderungsbewegung gestoppt, und somit die lokale orthodoxe Gemeinschaft gerettet werden. Eine Kirche wurde seitdem dort sogar gebaut. Dies zeigt, dass die Gleichung Auswanderung gleich Tod der orthodoxen Kirche nicht unvermeidlich ist. Auch hier bedeuten mehr Russen mehr Gläubige.

Und im übrigen Zentralasien?

Die Situation ist im übrigen Zentralasien ganz anders. In Tadschikistan flüchteten die Russen aufgrund des anhaltenden Bürgerkrieges (1992-1997). Es bestehen noch einige wenige Gemeinden. Präsident Rachmon will um jeden Preis die russische Bevölkerung in Tadschikistan retten. Damit sie bleibt, bekommt sie also ein bisschen Unterstützung.

Turkmenistan ist ein verschlossenes Land. Es gibt dort einige Kirchen, an die zehn. In Usbekistan ist es sehr unterschiedlich: Taschkent zählt mehr Russen als der Rest des Landes. Da gibt es eine russische Schule und ein Priesterseminar. Es gibt zwei drei Städte wo es früher gar keine Usbeken gab, also ist die Situation je nach Region sehr unterschiedlich. Die Auswanderung ist dort auch sehr stark, ebenfalls aus ökonomischen Gründen. Die russische Sprache ist in Usbekistan kaum vertreten.

In Kirgistan gibt es viele unterschiedliche Völker, während die usbekische Bevölkerung einheitlicher ist. Unter den etwa hundert Gemeinden zählen manche nur um die zehn Mitglieder. Russen dort sprechen gut Usbekisch. Um in Kirgistan arbeiten zu können, fehlt es nicht an Sprachkenntnisse, sondern um Möglichkeiten. Diejenigen die hier bleiben sind nicht die talentierten. Die Talentierten verlassen das Land, wenn sie können.

Arnaud Enderlin
Chefredakteur von Novastan in Bischkek

Karl Haddad
Redakteur für Novastan auf Französisch in Bischkek

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