Startseite      „Wir werden nie erfahren, wie unsere Städte ohne den sowjetischen Einfluss aussehen würden“

„Wir werden nie erfahren, wie unsere Städte ohne den sowjetischen Einfluss aussehen würden“

Im Interview mit CABAR.Asia spricht Wlada Walentina kyzy von der bischkeker urbanistischen Initiative „Peshkom“ über dekolonialen Urbanismus und was er für einen Ort wir Bischkek bedeutet.

Oper Bischkek
Das Opernhaus in Bischkek (Foto: Pavel Kirillov/ Flickr)

Im Interview mit CABAR.Asia spricht Wlada Walentina kyzy von der bischkeker urbanistischen Initiative „Peshkom“ über dekolonialen Urbanismus und was er für einen Ort wir Bischkek bedeutet.

Haben Sie sich schon einmal gefragt, wie die Städte der Länder Zentralasiens aussehen würden, wenn nicht die Sowjetunion seinerzeit auf die Kultur der dortigen Völker eingewirkt hätte? Könnte es sein, dass dann die Städte viel angenehmer und malerischer wären als jene, die wir heute zu sehen gewohnt sind?

Diese und andere Fragen hat die Redaktion von CABAR.asia mit Rada Walentina kyzy, der Gründerin der urbanistischen Initiative Peshcom (russisch für „zu Fuß“, Anm. d. Red.) in Kirgistan, am Beispiel der Stadt Bischkek erörtert.

CABAR.asia: Was ist das überhaupt, dekolonialer Urbanismus, und worauf basiert dieser?

Rada Walentina kyzy: Dekolonialer Urbanismus bildet sich im Laufe der gedanklichen Verarbeitung dekolonialer Prozesse heraus, in unserem Falle in der postsowjetischen Zeit. Der postkoloniale Diskurs ist in Kirgistan noch nicht ausreichend reflektiert und institutionalisiert worden. Bevor von einem Entkolonialisierungsprozess die Rede sein kann, müssen wir uns unserer eigenen kolonialen Vergangenheit bewusst werden – das ist kein einfacher und schneller Prozess, insbesondere da unser Land partnerschaftliche und sogar freundschaftliche Beziehungen zu Russland unterhält, welches sehr empfindlich auf alle Unterredungen zu diesem Thema reagiert.

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Der dekoloniale Diskurs kam erst vor kurzem im postsowjetischen Raum auf – vor etwa 15 Jahren. In den meisten Fällen entsteht er im Zusammenhang mit den Geisteswissenschaften und steht in direktem Zusammenhang mit Sprache und Kultur.

Urbanismus wiederum ist ein Prozess der Stadtentwicklung. Städtische Prozesse spiegeln wider, was in Kultur, Kunst, Wirtschaft und anderen Lebensbereichen der Stadtbewohner geschieht. Wenn Fragen der Dekolonialität in der Öffentlichkeit nicht ausreichend diskutiert werden, werden sie sich in einer praktischen Sphäre wie dem Urbanismus auch nicht widerspiegeln.

Dekolonialisierung verwirklicht sich heute in Kirgistan vor allem in der Umbenennung geografischer Objekte, wie Städte, Dörfer und Straßen. Aber genau diese Namen werden in den meisten Fällen auf Russisch geschrieben, wobei das Kirgisische ignoriert wird. Darüber hinaus kommt es vor, dass sich die sowjetischen Straßennamen bis heute in der städtischen Navigation widerspiegeln. Es ist möglich, dass dies an fehlenden finanziellen Mitteln liegt oder die städtischen Behörden in diesem Punkt zu nachlässig arbeiten.

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Es gibt auch andere Zeichen des dekolonialen Urbanismus, wie zum Beispiel nationale Ornamente in der Architektur und im öffentlichen Raum der Stadt, lokale Toponyme in den Namen von Läden und Geschäften, neue Denkmäler, die die kirgisische Kultur reflektieren. Die Tatsache, dass Kurut und Maksym (ein auf der Grundlage von Getreide hergestelltes Getränk, Anm. d. Red.) aus dem Handel auf öffentlichen Straßen und Plätzen und somit aus dem Stadtbild von Bischkek nicht mehr wegzudenken sind, spiegelt ebenfalls dekoloniale Prozesse im Urbanismus wider.

Wie haben die UdSSR und das Russische Imperium auf den Prozess der Urbanisierung Zentralasiens eingewirkt? Und wenn es eine solche Beeinflussung nicht gegeben hätte, wie könnten die Urbanisierungsprozesse der Region heute ablaufen?

Das architektonische Erscheinungsbild von Bischkek und anderen Städten in Kirgistan wurde während der Sowjetzeit festgelegt. Frunze (so hieß Bischkek bis Februar 1991, Anm. d. Red.) entwickelte sich nach den gemeinsamen Tendenzen aller Unionshauptstädte;  es genügt, sich an den Komödie „Die Ironie des Schicksals“ zu erinnern. An der Planung der Städte der UdSSR beteiligten sich russische Architekten und Spezialisten, Wohn- und Kulturobjekte wurden nach einem gemeinsamen Muster gebaut. Viele architektonische Großbauten in verschiedenen Ländern der ehemaligen Sowjetunion ähneln sich, zum Beispiel die WDNCh, Opern- und Balletttheater, Kulturhäuser usw.

Wir werden niemals erfahren, wie unsere Städte ohne den sowjetischen Einfluss aussehen würden. Aber wahrscheinlich wären sie vielfältiger und inklusiver.  

Inwieweit wurden in der Sowjetzeit lokale Besonderheiten bei der Gestaltung der Städte berücksichtigt?

Am Beispiel von Bischkek kann ich sagen, dass zu Sowjetzeiten bei der Stadtplanung dem örtlichen Klima große Aufmerksamkeit zukam. Es wurden künstliche Bewässerungskanäle angelegt und viele Bäume gepflanzt – ohne sie würde heute in der Hauptstadt ein sehr trockenes Klima herrschen.

Was bietet das Konzept des dekolonialen Urbanismus als Alternative zu den  bestehenden Städten?

Bisher steht die Diskussion dieses Themas in den urbanistischen Kreisen erst ganz am Anfang. Dekoloniale Prozesse sind meiner Meinung nach für jedes Land individuell und hängen vom politischen Regime und der Demokratisierung der Gesellschaft ab.

Ist es wichtig, dass eine Stadt die Identität der Bevölkerung, die in ihr lebt, widerspiegelt? Wie wirkt sich das auf die Menschen aus?

Selbstverständlich ist das wichtig. Damit die Menschen ihre Stadt als ihr Zuhause empfinden, muss sie ihre Werte, Kultur, Traditionen, Interessen und Bedürfnisse widerspiegeln. Genau aus diesem Grund ist heutzutage die partizipative Stadtplanung populär – wenn die Bewohner selbst direkt an Entscheidungen über die Gestaltung urbaner Räume beteiligt sind.

In der Sowjetzeit wurde den Menschen Ideologie aufgezwungen, alle Entscheidungen kamen von oben, und dies lehrte uns Hilflosigkeit. Heute spürt man das sehr am Beispiel der Innenhöfe, wenn die Menschen sich nicht einigen und ihren Hof gemeinsam gestalten können. Alle sind daran gewohnt, dass jemand „von da oben“ alles für sie entscheidet und ausführt.

Mit Rada Walentina kyzy sprach Zlada Teter‘
CABAR.Asia

Aus dem Russischen von Philipp Dippl

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