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„Es mangelt an allem“ – Amir Talipow zum Gesundheitswesen in Kirgistan

Die Medizin in Kirgistan leidet an vielen Problemen: Zwischen mangelnden staatlichen Zuwendungen, kleptokratischen Beamten und teils veralteter Technik müssen die Ärzte oft kreativ sein, um ihre Patienten gewissenhaft zu behandeln. Dabei gibt es auch einige positive Beispiele. Der junge Chirurg Amir Talipow erzählt im Interview mit Novastan von der Lage des Gesundheitswesens in seinem Heimatland.

Amir Talipow
Amir Talipow als Hospitant in Deutschland

Die Medizin in Kirgistan leidet an vielen Problemen: Zwischen mangelnden staatlichen Zuwendungen, kleptokratischen Beamten und teils veralteter Technik müssen die Ärzte oft kreativ sein, um ihre Patienten gewissenhaft zu behandeln. Dabei gibt es auch einige positive Beispiele. Der junge Chirurg Amir Talipow erzählt im Interview mit Novastan von der Lage des Gesundheitswesens in seinem Heimatland.

Amir Talipow ist schon viel herumgekommen. Der 26-jährige Chirurg aus Bischkek hat bereits während seines Studiums an der Russisch-Slawischen Universität zahlreiche Fortbildungen in Dänemark, Ukraine, Österreich oder dem Kaukasus besucht. Zuletzt war er im vergangenen Jahr als Hospitant am Thoraxzentrum Ruhrgebiet und bemüht sich zurzeit um eine Einreiseerlaubnis, um in Deutschland die Prüfungen für eine Approbation abzulegen.

Neben seinen Fachgebieten Chirurgie und Evidenzbasierte Medizin hat er auch eine Leidenschaft dafür „Brücken zwischen Deutschland und Kirgistan zu schaffen“, wie er sagt. In fließendem Deutsch erzählt er uns über die Lage des medizinischen Sektors in Kirgistan und darüber, was auch deutsche Ärzte dort lernen könnten.

Novastan.org: Nehmen wir mal an, ich bin als Tourist in Kirgistan und habe mir bei einem Ausritt die Hüfte gebrochen, so dass ich operiert werden muss. Was würde passieren?

Amir Talipow: Es hängt natürlich viel von den genauen Umständen ab. In jedem Fall spielt deine Versicherung hier in Kirgistan aber leider kaum eine Rolle. Unsere staatlichen und privaten Krankenhäuser arbeiten nicht direkt mit ausländischen Versicherungen zusammen und können auch kein Geld von ihnen bekommen.

Man kann zwar in Deutschland eine Auslandskrankenversicherung abschließen, muss aber in Kirgistan in Vorkasse gehen. Wir haben für alle Bürger in Kirgistan eine kostenlose Krankenhilfe für Notfälle wie Asthmaanfälle und Herzinfarkte. Hilfe bei solchen Notfällen muss kostenlos sein, das steht in unserem Gesetz und unserer Verfassung. Aber die Realität sieht etwas anders aus und unsere Gäste und Touristen bezahlen leider mehr als Einheimische.

Der genaue Preis hängt von der Klinik ab. Es ist alles individuell und man muss es direkt vor Ort besprechen.

Und wo liegt der Unterschied zwischen den verschiedenen Kliniken? 

Erst einmal unterscheidet man zwischen staatlichen und privaten Kliniken. Zweitens gibt es auch verschiedene Operationen: Man kann einen Bruch einfach fixieren, bei einfachen Rissen, oder man muss Stifte oder Metalle einsetzen. Es hängt vom Bruch ab. Alles das muss man besprechen und der Arzt und der Klinikdirektor entscheiden zusammen, wieviel der Ausländer zahlen muss.

Gibt es einen Unterschied in den Dienstleistungen und der Qualität von Kliniken? 

Natürlich. Wenn wir nicht nur von der Behandlung von Traumata sprechen, sondern von Kardiologie oder von innerer Medizin, gibt es Unterschiede in den Dienstleistungen. Leider gibt es in staatlichen Krankenhäusern eher einen schlechteren Service, auch bei spezialisierten Krankenhäusern. In privaten Krankenhäusern ist das Angebot viel besser.

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Die Qualität der Ärzte und der medizinischen Versorgung kann ich leider nicht so gut bewerten, weil ich nicht alle Krankenhäuser kenne. Ich könnte da nur zu Bischkek etwas sagen.

Allgemein kann ich sagen, dass Ärzte in staatlichen Krankenhäusern viel mit Unterlagen zu tun haben und deswegen weniger Zeit haben, um sich um Patienten zu kümmern. Es ist ein ähnliches Problem, wie in Deutschland. In deutschen Zeitungen liest man, dass deutsche Ärzte auch an diesen Problemen leiden und deshalb weniger Zeit mit Patienten und mehr Zeit vor dem Computer verbringen.

Es ist gerade in Kirgistan ein Gesetz in der Vorbereitung, um die Arbeit von privaten Kliniken besser einzurahmen… 

Ich erinnere mich an einen runden Tisch zu dem Thema. Dort haben Vertreter privater und öffentlicher Krankenhäuser besprochen, wohin die Medizin gehen soll. Viele Leute sind für staatliche soziale Medizin und andere sind für private Medizin. Sie versuchen gerade Brücken zwischen den beiden zu schlagen.

Bei uns sieht das Bild so aus: Es gibt mehr private Kliniken in Bereichen wie Zahnmedizin, nur zwei oder drei Augenkliniken und weitere in der Kardiologie und inneren Medizin. Das zeigt uns, dass sich alle Sphären, wo man selbst bessere Entwicklung schaffen kann, privat entwickeln. Für eine Klinik der inneren Medizin braucht man Technik, aber vor allem auch gut ausgebildete Ärzte. Die staatliche Medizin hat auch alle Fachrichtungen, dort mangelt es aber an Geld, an Technik, an allem. Daher all die Probleme. In diesen Tagen wird sogar eine Petition an den Staat vorbereitet, um gegen die schlechten Bedingungen im staatlichen Sektor zu protestieren.

Du bist Chirurg. In Deutschland gehören Chirurgen zu den besser verdienenden Berufsgruppen. Ist das in Kirgistan auch so? 

Nein. In der staatlichen Medizin kriegen Chirurgen offiziell weniger als Kellner, also 6000 oder maximal 10000 Som im Monat (80 bis 130 Euro), manche sogar nur 5000 (64 Euro). Also natürlich offiziell.

In privaten Krankenhäusern kriegen die Chirurgen pro Monat maximal etwa 2500 Dollar, das ist so viel, wie ein Assistenzarzt (im ersten Jahr) in Deutschland bekommt. In den privaten Krankenhäusern bekommen Chirurgen zwar mehr als Internisten oder Ärzte, aber allzu viel ist es nicht.

Das zweite Problem ist, dass unser Staat öffentliche Krankenhäuser normalerweise nicht unterstützt. Renovierungen in diesen Krankenhäusern werden zum Beispiel von Ärzten und Krankenschwestern gemacht. Sie sparen Geld und renovieren ihr Krankenhaus jedes Jahr selbst.

Im privaten Bereich verdienen Chirurgen also mehr als zehn Mal mehr, als im öffentlichen…   

Ja aber es ist natürlich unmöglich von dem Lohn in öffentlichen Krankenhäusern zu leben. Daher bekommen die Ärzte auch inoffizielle Gelder von den Patienten.

Aber wenn ein Arzt von jemandem etwas fordert und zum Beispiel sagt: „ich operiere dich nur, wenn Du mir 10000 Som gibst“, dann verstößt er gegen das Gesetz. Es gab solche Skandale und solche Leute sitzen schon im Gefängnis. Leider kann ich solche Ärzte jedoch auch verstehen. Es ist ein Problem der Psychologie, der Gesellschaft und auch der Regierung, dass Ärzte manchmal Patienten zum Zahlen auffordern, wenn der Chefarzt der Klinik zum Beispiel die Ärzte selbst um Geld fordert. Meistens gibt es in den Kliniken gute Ärzte, die auch ohne Geld behandeln. Solche Probleme gibt es überall.

Im April hat der Generalstaatsanwalt von Kirgistan das Gesundheitsministerium als eine der korruptesten Verwaltungen im Land genannt. Hat das auch Folgen für das Gesundheitssystem? 

Dieses System lebt nur von der Dankbarkeit der einfachen Leute und von Ärzten, die keinen anderen Weg haben oder sich entschlossen haben, in diesem System zu bleiben. Leider lebt dieses System auch von Korruption. Es gibt korrupte Ärzte, korrupte Chefärzte und korrupte Leute im Ministerium. In der Petition der Ärzte steht zum Beispiel auch, dass es viele Beispiele der Korruption von hohen Beamten im Ministerium gibt, wir aber fast keinen Skandal sehen. Man kann es so sagen: Dieses System funktioniert nur mit Gottes Hilfe (lacht). Denn es gibt Mangel an allem: an Technik, an Pinzetten, an Skalpellen, an Scheren, an Papier.

Eine Krankenschwester im Krankenhaus von Ming-Kusch
Im Krankenhaus von Ming-Kusch, in Kirgistan

Aber es gibt auch  Potisivbeispiele. Es gibt etwa eine Klinik in Tong, in der Region Issikköl, dort ist Bolot Schajachmetow Chefarzt. Er hat in den USA und in Japan studiert, arbeitet jetzt aber in seiner Heimatregion. Er ist so etwas wie ein starker Patriot und war zum Beispiel ein Pionier der Nutzung von IT-Techniken im Gesundheitswesen. Es gibt solche guten Fälle, aber nur wenige.

Man kann sagen, das Ministerium versucht Dinge in Gang zu bringen, aber vielleicht bräuchten sie ein qualitativ hochwertiges internationales Audit. Nach einem solchen Untersuchungsverfahren könnten wir verstehen, ob wir allen eine Prämie geben sollten oder sie ins Gefängnis stecken (lacht). Ich habe aber nicht gehört, dass das Ministerium offiziell durch ein Audit geprüft wurde.

Du meintest, es gibt einen Mangel an allem. Gibt es auch einen Mangel an Ärzten? 

Ja, es gibt einen großen Mangel an Ärzten. Das betrifft vor allem die ländlichen Gebiete von Kirgistan. Laut einem Bericht des Ministeriums leiden die Gebiete Naryn und Batken am meisten an fehlenden Ärzten.

Einen Mangel an Chirurgen gibt es nicht, aber an Anästhesiologen, an Augenärzten, an Urologen, allgemeiner an allen Fachärzten, die eine klinische Spezialisierung haben.

Du bewirbst dich gerade auf eine Zulassung zur Approbation in Deutschland. Wie verläuft die Prozedur? 

Es ist problematisch. Um als Arzt aus einem Drittland in Deutschland tätig zu sein, braucht man Geld, Diplome, Sprachkenntnisse und eine Zulassung für die Prüfungen. In meinem Fall sieht es so aus: Man kann den Weg durch Akademien schaffen, die einen offiziell für die Prüfungen vorbereiten. Einige sind kostenlos, andere sind teuer. Es ist wie ein Markt. In meinem Fall sind vor allem die Geld- und Visafragen problematisch. Wir brauchen offiziell etwa 9000 Euro auf unserem Konto, um ein Visum zu bekommen. Nicht alle Ärzte in Kirgistan verfügen über so viel Geld.

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Außerdem haben verschiedene Behörden wie Bezirksregierungen und das Auswärtige Amt ihre eigenen Regeln, die wir nicht verstehen. Nicht etwa wegen des Sprachendefizits, sondern wegen der Bürokratie. Man wartet da schon mal monatelang auf eine Antwort, manchmal kommt auch gar keine Antwort. Momentan gibt es Debatten in Deutschland, ob ausländische Ärzte grundsätzlich die Kenntnisprüfung für die Approbation ablegen sollen oder nicht. Es gab sogar eine Petition in Thüringen für eine bessere Achtung der Rechte ausländischer Ärzte.

Du hast in Deutschland und in Kirgistan als Arzt gearbeitet. Was kann das deutsche Gesundheitswesen vom kirgisischen lernen? 

Ärzte arbeiten überall und viel, egal in welchem Land. Ich denke, deutsche Ärzte können bei uns Praktika machen und mit eigenen Augen sehen, wie ein Gesundheitssystem ohne moderne Techniken und Gesetze funktioniert. Das kann wie eine Art Kurs in Geschichte der Medizin sein. Aber sie können dabei auch verstehen, wie das System sich im Mangel strukturieren und entwickeln kann.

Es gibt das Beispiel von Hassan Baijew, der als Arzt im zweiten Tschetschenienkrieg tätig war und ein Buch mit dem Titel „The Oath – A Surgeon under Fire“ veröffentlicht hat. Das Buch zeigt, wie das medizinische System in widrigen Umständen funktionieren kann. Es wurde als Lehrbuch in Harvard genutzt und ist auch unter deutschen Medizinern sehr beliebt.

Auf die Art kann man auch bei uns Inspiration finden. Trotz Lücken arbeiten wir weiter und versuchen wissenschaftlich tätig zu sein und uns zu entwickeln. Natürlich sollen aber am besten Kirgisen bei Deutschen lernen. Wir können solche Brücken schaffen.

Ich habe schon gehört, dass es in Kirgistan zum Beispiel einen Arzt aus Australien und einen aus den USA gibt, die in einer Privatklinik arbeiten und dort womöglich mehr verdienen, als sie zuhause verdienen würden. Es gibt in Kirgistan Plattformen für solche neue Kliniken, aber der staatliche Sektor bleibt leider zurück.

Mit Amir Talipow sprach Florian Coppenrath
Novastan.org

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Kommentieren (1)

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Pobuda, 2021-09-15

Wahnsinnig interessanter Artikel! Ich finde es total spannend, die Sichtweise von Herrn Talipow zu erfahren!

Es ist erschreckend wie viel Geld überhaupt benötigt wird, um nach Deutschland zu kommen. Anschließend wird es ja wahrscheinlich noch teurer, weil die Lebens- und Unterhaltskosten bezahlt werden müssen…

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